Gespeichert auf Nimmerwiedersehn
Was leisten die neuen Medien für das
kulturelle Gedächtnis?
von Peter Leusch
Sprecherin:
Die NASA, so
berichtete der Spiegel, kann ihre eigenen Daten nicht mehr lesen. Das gesamte
elektronische Datenmaterial, das die amerikanische Weltraumbehörde in den
siebziger Jahren auf ihren Saturn-Missionen sammelte, entzieht sich heute ihrem
Zugriff. Die Magnetbänder sind zwar einwandfrei erhalten, entsprechende
Lesegeräte jedoch existieren auf dem Markt schon lange nicht mehr. Und das
kanadische Nationalarchiv verlor große Datenbestände, als eine Herstellerfirma
1990 ihr optisches System umstellte und sich weigerte, die alte Hard- und
Software des Archivs weiterhin zu warten. Eine anderes Unternehmen bot sich an, die alten Datenmengen
auf neue Bildplatten zu transformieren, für die Summe von 130.000 DM.
Sprecher:
Die
elektronische Speicherung erweist sich - auch wo man professionell arbeitet -
als äußerst anfällig und verwundbar. Damit hatte man im allgegenwärtigen Siegeszug
des Computers, geblendet von seinen faszinierenden Möglichkeiten, nicht
gerechnet. Versprach und verspricht doch der Computer, ein Grundproblem der
Menschheit auf besonders elegante Weise zu lösen: das der Archivierung. Lassen
sich Bilder, Texte, Töne - mit einem Wort: Daten jeder Art digitalisieren, also
in Bites und Bytes verwandeln und in den Computer einspeisen, so kann man gigantische
Datenmengen auf kleinstem Raum aufbewahren und
bald schon eine Bibliothek in die Westentasche packen. Inzwischen mehren
sich jedoch kritische Stimmen. Die Datenunsicherheit scheint nicht nur eine
vorübergehende Erscheinung, eine Art Kinderkrankheit des noch jungen Mediums,
aus der unsere Unerfahrenheit und Nachlässigkeit im Umgang mit dem Computer und
den neuen Medien spricht. Zweifel werden laut, ob nicht das Buch ein viel
verläßlicherer Träger unseres kulturellen Gedächtnisses war als die neuen
elektronischen Datenspeicher. Dazu der Literaturwissenschaftler Professor
Jürgen Fohrmann von der Universität Bonn. Er ist an einem nordrhein-westfälischen
Forschungsprojekt beteiligt, das den Wandel von Sprache, Literatur und Kultur
im Informationszeitalter untersucht.
O-Ton, Jürgen Fohrmann:
Natürlich
muß man bedenken, daß auch Papier zerfällt im Laufe der Zeit, und wenn Sie sich
die schlechte Taschenbuchproduktion vor Augen führen, dann werden Sie sehen,
daß auch diese Taschenbücher nach zwanzig Jahren völlig vergilben und nach
weiteren zwanzig Jahren zerfallen werden. Aber das ist natürlich eine ganz
andere Halbwertzeit als die Halbwertzeit, die wir bei Magnetaufzeichnungen
haben oder bei anderen technischen Speichermedien. Da muß man schon sehr genau
überlegen, wem und was man seine Gedanken, die man natürlich für alle Nachwelt
konserviert haben möchte, anvertraut. ... Das Buch hat sicherlich im Augenblick
die größte Haltbarkeit, der Druck oder wie auch immer das Manuskript - wenn es
auf gutem Papier gemacht ist, das nicht so schnell zerfällt - wird man auch in
hundert oder zweihundert Jahren noch lesen können, während die technischen
Medien, die wir heute benutzen und ihre Speichermöglichkeiten, überhaupt das
ganze technische Know-how, sich so schnell verändert, daß wir innerhalb der
nächsten zehn Jahre alles wieder komplett umkodieren, umkopieren müssen, je
nachdem mit welchem Instrument ich arbeite.
Sprecher:
Umkopieren
auf andere Datenträger, umkodieren in neuere Datenformate, überhaupt regelmäßig
wichtiges Material auf seine Lesbarkeit hin zu überprüfen und frische
Sicherheitskopien anzulegen - das wären die Leitlinien, denen wir heute folgen
müssen. Unsere Kultur ähnelt auf paradoxe Weise dem Mittelalter, wo die Mönche
die kanonischen Texte wieder und wieder abschrieben.
Sprecherin:
Die aktuelle
Situation hat mehrere Ursachen:
Die modernen
Lesegeräte unterliegen einem rasanten technologischen Wandel. In immer kürzeren Zyklen lösen die
Generationen der Computer einander ab. Und für jene großformatigen 5 1/4
Zoll-Disketten, auf denen man bis Ende der achtziger Jahre seine Daten
sicherte, findet sich in einem neu gekauften Computer schon gar kein Laufwerk
mehr. Ebenso wie die Hardware wechselt auch die Software: Vermutlich wird schon
in fünf, spätestens in zehn Jahren niemand mehr das heute weitverbreitete
Betriebssystem MSDOS benutzen.
Sprecher:
Der
technologische Wandel ist aber nur ein Unsicherheitsfaktor, ein anderer stellt
die physikalische Haltbarkeit der elektronischen Speichermedien dar. Noch gibt
es kaum Erfahrungswerte, was die verschiedenen Datenträger taugen und vor allem
wie lange. Einige Risiken kennt man indes: Bei Datenbändern droht sich im Laufe
der Zeit jener Klebstoff aufzulösen, der die magnetisierbare Schicht am
Kunststoffträger festhält. Disketten dürfen nicht dem Sonnenlicht, größeren Temperaturschwankungen
oder einer unsachgemäßen Behandlung ausgesetzt werden. Übrigens wird gerade an
Disketten das besondere Risiko der digitalen Speicherung deutlich: Denn während
Beschädigungen auf analogen Ton- oder Videobändern nur zu partiellen Störungen
führen, - das Mozart-Konzert hat kleine Aussetzer und Nebengeräusche - kann ein
Magnetfeld in der Umgebung eine Diskette völlig ruinieren und ihren gesamten
Inhalt ins digitale Nirwana befördern. Am verläßlichsten scheinen zur Zeit noch
Cds, aber auch den Silberscheiben garantieren die Hersteller nur eine
Lebensdauer von zwanzig Jahren.
Sprecherin:
Dessen
ungeachtet machen die elektronischen Medien dem Buch als tradionellem
Kulturträger immer stärker Konkurrenz. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in
der Veränderung der Bibliotheken wider, was Hans Limburg, Direktor der Universitätsbibliothek
Köln mit konkreten Zahlen belegt.
O-Ton, Hans Limburg:
Wir haben
etwa einen Buchbestand von 2,8 Millionen Bänden; neue Medien - jetzt
eingerechnet Mikrofiche-Ausgaben, Disketten, CDROMs, Videos u.ä., - circa
200.000 Stück. Das Verhältnis ist also noch recht günstig zugunsten des Buches.
Aber man muß schon sehen, daß jährlich einiges dazukommt, gerade was Mikrofiche
und Mikrofilm angeht, - Mikrofilm ist ja
... vor allen Dingen ein Instrument, das heute stark genutzt wird, um alte
Zeitungen zu verfilmen, um die dauerhaft zu archivieren, vor allem Zeitungen
des vorigen Jahrhunderts oder auch der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, die
vom Papier her in einem sehr schlechten Zustand sind, und da wird im Augenblick
vom Land NRW gefördert, sehr viel getan, um diese Dinge, vor allem auch lokale
Presse, präsent zu halten auf Dauer, und da keine Verluste hinnehmen zu müssen.
Wir haben im
Hause einen Fachmann, einen Chemiker, der mir immer vorrechnet, das kann ich
als Geisteswissenschaftler nicht nachvollziehen, daß es Unsinn sei, auf Film
umzusteigen, der würde in fünfzig Jahren auch nicht mehr lesbar sein. - Nun
gibt es da noch keine Erfahrungen, man weiß aber, daß die Materialien sich
verbessert haben, im Augenblick gibt es dazu aber keine Alternative.
Sprecher:
Der
Mikrofilm soll das Zeugnis der Zeitungen bewahren. So dienen neue Medien auch
dem Erhalt der älteren. Doch das ist nur eine Nebenfunktion. In der Hauptsache
sollen sie Daten verfügbar machen. Denn die Stärke der EDV liegt unbestreitbar
darin, große Datenmengen in kürzester Zeit verfügbar zu machen. In Bibliotheken
zum Beispiel lassen sich Kataloge, Bibliographien und Nachschlagewerke gezielt
nach bestimmten Autorennamen, Titeln und Stichwörtern durchforsten und die
Ergebnisse anschließend ausdrucken. Der früher mühsam erstellte Zettelkasten
hat endgültig ausgedient. Und die Vernetzung vieler Einrichtungen ermöglicht
es, die Literaturrecherche über Stadt- und Landesgrenzen hinweg auszudehnen. Ja
heute kann man, in dem einen oder anderen Fall, auch schon im Internet fündig
werden und das entsprechende Material direkt herunterladen, wo man sich ehedem
auf ein langwieriges Fernleihverfahren und uneinschätzbare Wartezeiten
einstellen mußte.
Aber nicht
nur Informationen über Bücher, auch diese selbst wechseln ihre Gestalt. Manche
Schriften schlüpfen aus dem Papier ins elektronische Format.
O-Ton, Hans Limburg:
Es gibt auch
heute schon Literatur, Zeitschriften vor allem, die es nur in digitalisiert
gespeicherter Form gibt, .., vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich, ...,
die anders gar nicht mehr zugänglich sind. Das bedeutet natürlich, daß man für
all diese Formen auch Gerätschaften braucht, ganz allgemein, diese Texte, in welcher
Form sie auch immer gespeichert sind, dem Benutzer zugänglich zu machen. Und
das bedeutet auf der anderen Seite, daß man da wieder auch vom Markt abhängig
ist, wie schnell die Entwicklung dort verläuft, man sieht das schlicht an
Schallplatten: Wenn man heute Schallplatten alter Art, so aus den fünfziger Jahren
nimmt, die Abspielgeräte sind dafür nicht mehr gedacht und die Platten dafür
nicht mehr brauchbar. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch bei den PCs, und die
Entwicklung da zeigt, daß wir im Schnitt, selbst wenn man es langsam tut, weil
die Finanzen natürlich in dem Maße nicht sprudeln, alle drei, vier Jahre damit
rechnen muß, diese Arbeitsplätze, die es nun für die Mitarbeiter/innen gibt,
die es für die Benutzerschaft gibt, auswechseln muß.
Sprecherin:
Die Ära der
Schallplatte währt immerhin schon hundert Jahre, die Audiokassette hingegen ist
noch keine dreißig Jahre verbreitet und soll schon - jedenfalls nach dem Willen
der Elektronikindustrie - vom Markt verschwinden. Wie lange wird es ihre designierten Nachfolger,
die digitalen DAT-Bänder geben? Und wie lange die CDs.? Daß die Zyklen der
elektronischen Datenträger immer kürzer geraten, liegt nicht allein am
technischen Fortschritt, sondern folgt ebenso sehr dem Druck der Ökonomie. Die
Durchsetzung und Verbreitung neuer Abspiel- und Speichertechniken verheißt der
Industrie enorme Gewinne. Für den Einzelnen wie für die Gesellschaft ist sie im
Gegenzug mit hohen Ausgaben verknüpft. Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung
können sich der kostspieligen Auf- und Umrüstung auf Dauer nicht versagen. Auch
der Einzelne droht sich sozial zu isolieren, wenn er sich den Neuerungen
konsequent verweigert. Denn der soziale Anschluß ist heute vor allem ein
buchstäblich technischer Anschluß, nämlich an die Netze der Kommunikation und
die Standards der Unterhaltungselektronik.
Sprecher:
Wenn man
diese Zusammenhänge überdenkt, stellt sich der Verdacht ein, daß die modernen
Speichermedien aufgrund ihrer Kosten gar nicht so bürgerfreundlich und egalitär
sind, wie sie vorgeben. Das demonstriert ein Vergleich zwischen Film und Buch:
Bücher sind über Buchhandel oder Bibliotheken leicht und ohne hohen
finanziellen Aufwand zugänglich. Filme hingegen unterliegen erheblichen
finanziellen und juristischen Einschränkungen; große Medienkonzerne kontrollieren
ihren Verleih. Während man Bücher problemlos lesen und aus ihnen zitieren darf,
muß ein Dokumentar oder Filmemacher, der bestimmtes Bildmaterial ausleihen,
anschauen oder sogar daraus Szenen für seine Arbeit auswählen, also gleichsam
zitieren möchte, zuvor den Magnaten der
Branche, Kirch oder Bertelsmann, die entsprechenden Rechte abkaufen. Ist der
Film unzugänglicher, in der Konsequenz
gar demokratieferner als das Buch? Nochmals Professor Jürgen Fohrmann.
O-Ton, Jürgen Fohrmann:
Das ist eine
besonders schwierige Frage, weil es beim Film alles das nicht gibt, was für
Bücher und den ganzen Buchbetrieb selbstverständlich ist, es gibt kein
zentrales Filmarchiv, abgesehen vom Filmmuseum in München - also es gibt eigentlich
nichts, und Kirch sammelt das eben, und er ist fast der einzige, der das sammelt
und die Kopien pflegt, und deswegen kann er auch seinen Finger darauf legen und
dafür Geld nehmen. Also Film, wenn man so will, ist eine vollkommen
undemokratische Angelegenheit, oder vielmehr die Verteilung von Film, das hängt
eben mit den Möglichkeiten zusammen, mit dem Geld, das man einbringt, eine
private Sammlung anzulegen, so wie früher auch private Büchersammlungen
bestanden haben, aus denen man auch nichts herausrückte; vielleicht müßte man
dem Film da auch etwas Entwicklungschance geben, so wie man den Bücher auch
eine Entwicklungschance gegeben hat. Sicher, wenn man sich einen ganzen
Medienpark zu Hause hinräumen will, angefangen vom Faxgerät, wenn es nur das
Modem am Computer ist, damit man emailen kann, der Internet-Anschluß, das ISDN
der Telecom, das alles ist eine irrsinnig teure Angelegenheit. Hat man es aber
einmal, ... - so kann man relativ billig einladen, viel billiger, als wenn man
alles das, was man auf einer CDROM in den Computer hineinspeist, Goethes Werke,
Nietzsches Werke, alles komplett, auf einer CDROM, wenn man das alles einspeist
ist es viel billiger, als wenn man sich das als Buchausgabe kaufen müßte. Das heißt, beim Buch gibt es nicht so hohe
Einmalkosten, aber doch ein langfristig verbundene Kostenentwicklung, bei
diesen Geräten gibt es eben diese hohen Anschaffungskosten. Eine Schwelle ist
beides, also demokratische Medien im wahrsten Sinne des Wortes sind beides
nicht, wenn man Demokratie versteht, als Form striktester Egalität, so wird man
es nicht denken. Auch die Buchkultur ist natürlich von den Leuten, die gebildet
und mit den nötigen Mitteln versehen sind, geprägt, genauso wie die
Freak-Kultur bei den Computern - jemand der kein Geld hat, kann sich weder das
eine noch das andere leisten.
Sprecherin:
Auch die
Buchkultur, das darf man nicht vergessen, hat eine elitäre Vergangenheit.
Bildung war mit Besitz verknüpft, mit Geld und gesellschaftlicher Klasse. Nicht
immer waren die Pforten der Bibliotheken geöffnet, die Bücher in preisgünstigen
Ausgaben auf dem Markt. Was in der Buchkultur in Jahrhunderten erkämpft wurde,
fällt der Gesellschaft in Bezug auf die neuen Medien keineswegs in den Schoß:
Der Zugang zu den neuen elektronischen Speichern muß nicht nur frei, sondern
auch bezahlbar sein. Elektronische Datenbanken, die man über das Internet
anzapfen kann, sind schon jetzt sehr teuer. Übermorgen können sich weniger
betuchte Einzelne, aber auch viele nichtprofitable Institutionen - Schulen,
Bibliotheken, Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen - den Anschluß an
bestimmte Datennetze vielleicht nicht mehr leisten. In der Informationsgesellschaft
kann demokratische Öffentlichkeit aber nur bestehen, wenn jeder freien
Zugang zu Speichern und Datenautobahnen erhält und hierbei die Kosten auch für
Kleinverbraucher relativ niedrig bleiben.
Sprecher:
Wer früher
Bildung und Wissen erwerben wollte, wer Information suchte, wandte sich an das
klassische Medium des Gedruckten. Im zwanzigsten Jahrhundert liegen jedoch sehr
viele Quellen und Zeugnisse in unmittelbar elektronischer Form vor. Was unsere
Gesellschaft heute über sich weiß und wissen kann, hat sich in beträchtlichem
Anteil auf das Gebiet der neuen Medien verlagert.
Handelt es
sich dabei nur um eine äußerliche Verlagerung vom Buch auf anderen Medien, oder
sind hier Prozesse im Gange, die das kulturelle Gedächtnis tiefergehend
verändern? Professor Helmut Kreuzer lehrte lange Zeit Literaturwissenschaft an
der Gesamthochschule Siegen und erhielt bei seinen Forschungs- und
Lehrtätigkeiten in den USA internationale Vergleichsmöglichkeiten.
O-Ton, Helmut Kreuzer:
Ich hoffe,
daß die Archive nach wie vor die Bücher stapeln werden und nicht nur die
Disketten, die man dauernd umspulen müßte, die also in der Tat sehr vergänglich
sind, aber ich bin nicht sicher, daß das kulturelle Gedächtnis insgesamt durch
das Aufkommen der neuen Medien leidet, die Masse ist ja viel größer und das was
erhalten bleibt, ist sicher nicht weniger als in früheren Jahrhunderten. Mein
eigenes kulturelles Gedächtnis leidet nicht unter den neuen Medien, sondern
unter dem altersbedingten Gedächtnisschwund. Und was die Gesellschaft insgesamt
betrifft, so verkürzt sich glaube ich, nicht für die Archive und Archivare und
Wissenschaftler, aber doch für die Öffentlichkeit das Gedächtnis, jedenfalls
bei vielen, die sich nicht als spezielle Historiker spezialisieren; und vermutlich
verkürzt sich das Gedächtnis weithin auf das 20. Jahrhundert, weil in diesem
auf vielen Gebieten, natürlich auch auf dem der Medientechnik, soviel passiert
ist, daß die Jahrhunderte davor vielen fremd vorkommen, fast fiktiv, während
ihnen das 20. Jahrhundert als Vorgeschichte ihrer eigenen Gegenwart genügend
präsent bleibt.
Sprecherin:
Das
zwanzigste Jahrhundert erschließt seine eigene Geschichte nicht mehr nur über
das Studium von Büchern und Papierdokumenten, sondern auch durch die Nutzung
elektronischer Medien. Diese allgemeine Erkenntnis hat jüngst eine höchst
politische Konkretion erfahren: Dem Bundesarchiv in Koblenz fiel nach der
deutschen Vereinigung der elektronische Nachlaß der DDR zu. Es gilt ihn
buchstäblich dem Vergessen zu entreißen, d. h, das Material zu dechiffrieren
und zu sichern, ehe die Bänder unleserlich werden, die technischen Geräte nicht
mehr funktionieren und keiner sich mehr mit der entsprechenden Software
auskennt. Michael Wettengel, von Hause aus Historiker, leitet das neu
eingerichtete Referat für elektronische Datensicherung. Während die
Computerindustrie ihre hohen Speicherkapazitäten anpreist, ernüchtert der
Archivar mit folgender Grundüberlegung:
O-Ton, Michael Wettengel:
Die
elektronische Datenverarbeitung ist da für die Verarbeitung von Informationen,
nicht für deren dauerhafte Aufbewahrung. Das ist sicherlich ein Problem wenn
dann Informationen in einem solchen elektronischen Format vorliegen. ... Wir
haben versucht ... - aufgrund der Erfahrungen von Kollegen in Amerika und
Kanada - diese Daten in einem sogenannten software-unabhängigen Format zu
speichern, ... das ist das Datenformat, und was die Datenträger anbelangt, niemals
nur auf einen Datenträger allein zu setzen, wobei dann dieselben Datenbestände
auf zwei verschiedenen Medien, an zwei verschiedenen Ort eben gelagert werden.
Und außerdem diese Datenträger regelmäßig umzukopieren, um ein ständiges
Umkopieren der Datenträger kommt man dabei nicht herum.
Sprecher:
Alles
doppelt zu speichern, und die beiden unterschiedlichen Datenträger an zwei
getrennten Orten aufzubewahren, so lautet die Grundregel des Archivierens. Zunächst
jedoch gilt es das DDR-Material überhaupt lesbar zu machen. Der Bitstrom der
Daten ist ohne Punkt und Komma aufgezeichnet, so als würde man beim Schreiben
alle Wörter wie einen Bandwurm aneinanderhängen. Wo eine Tabellenspalte endet
und die nächste beginnt, ist daher völlig unklar. Außerdem hat man in der DDR
besondere Komprimierungsverfahren eingesetzt. Ferner ist das Material kodiert,
so daß ein Leser wissen muß, daß die Zahl 09 beispielsweise einer bestimmten
Stadt in der DDR zugeordnet ist. Auch die Hardware stellt vor Probleme: Man
braucht zur Dechiffrierung die alten Geräte. Zu diesem Zweck beherbergt das
Bundesarchiv ein regelrechtes kleines Technikmuseum, in dem die
Computergenerationen der DDR-Geschichte nebst Software versammelt sind und
instand gehalten werden.
Sprecherin:
Natürlich
stellt sich die Frage, ob ein solcher Aufwand überhaupt lohnt? Sollte man nicht
einen Schlußstrich ziehen und endlich vergessen, anstatt die alten Daten weiter
zu enträtseln?
Aber das
Material erweist sich als brisant und äußerst aufschlußreich, nicht nur für
Historiker. Es sind keine Stasi-Akten darunter, die bei der Gaugk-Behörde
lagern, aber neben anderem der zentrale Kaderspeicher der DDR. Hier sind vom
Spitzenfunktionär und Minister bis zum kleinen Mitarbeiter einer Behörde alle
Personen gespeichert, nicht nur mit ihren äußerlichen biographischen Daten, sondern
auch mit Informationen, was ihre Familie, ihre Hobbys, ihr Privatleben angeht.
Wissenschaftler des Instituts für empirische Sozialforschung in Köln und eine
Forschergruppe der Universität Jena untersuchen, selbstverständlich unter
Anonymisierung der Namen, das von Wettengel erschlossene Material. Erste Analysen
stützen die provokante These, daß in der
DDR entgegen dem eigenen Anspruch seit den sechziger Jahren immer weniger
Arbeiterkinder studierten, weil die Funktionärselite die Bildungswege für den
eigenen Nachwuchs reservierte. Die Forscher sprechen von einer sozialen
Schließung.
Sprecher:
Materialuntersuchungen
wie diese setzen einen kompetenten Umgang mit elektronischen Kommunikations-
und Informationsmedien voraus. Das wird in Zukunft nicht nur für die Forschung,
sondern für viele Bereiche in Wirtschaft und Gesellschaft gelten.
Selbstverständlich muß nicht jeder programmieren lernen. Grundkenntnisse und
Fertigkeiten im Umgang mit Computern und mit neuen Medien scheinen aber unverzichtbar. Mit
einem Wort: die alten Kulturtechniken des Lesens und Schreibens reichen nicht
mehr aus und müssen durch eine besondere Medienkompetenz ergänzt werden.
Michael Wettengel befürchtet, daß sich in der Informationsgesellschaft neue
Privilegien ausbilden, ja sogar eine Art Zweiklassengesellschaft des Wissens
entsteht.
O-Ton, Michael Wettengel:
Das ist ganz
sicherlich so. Also elektronische Datenverarbeitung schafft privilegierten
Zugang zur Information. Das halte ich für eine Tatsache und das ist schon jetzt
so. Ich glaube, daß ... die Kluft zwischen denjenigen, die Zugang zu den Informationen
haben und solchen die ihn nicht haben, weil ihnen entweder Kenntnis oder
Fähigkeit fehlt, immer größer wird. Es wird einerseits die Information geben,
die zugänglich gemacht wird, in mundgerechter Form, und es wird diese Informationsreserven
geben, wo nur manche den Zugang finden werden.
Sprecherin:
Auch wenn
die breite Aneignung der Grundkenntnisse und neuen Arbeitstechniken im Umgang
mit Computern und Medien gelingt, so stellt sie alle vor das grundlegende
Problem, sich in der Überfülle des Materials zurechtzufinden. Deshalb wird die
entscheidende Frage nicht technisch, sondern inhaltlich gerichtet sein. Nicht wie, sondern was man eigentlich
aufbewahren soll, ist das Problem. Das betrifft den Einzelnen genauso wie die
Gemeinschaft. Schon jetzt kann sich jeder zu Hause eine ganze Reihe von
Archiven anlegen: Neben dem altbekannten Fotoalbum gibt es das Dia- und
Filmarchiv, die Schallplatten- und Kassettensammlung, und die beständig
wachsenden Speicherkapazitäten der PCs bieten Raum für eine unübersehbare Masse
von Material jeglicher Art.
Sprecher:
Eine
zentrale Leistung des Gedächtnisses besteht aber gerade nicht in der puren ungefilterten
Speicherung, sondern in der Auswahl und Strukturierung der Wahrnehmung. Das
Gedächtnis muß werten: was ist wichtig, was unwichtig, es muß die Spreu vom
Weizen trennen. Deshalb gehört zur Fähigkeit des Erinnerns komplementär auch
die des Vergessen-könnens hinzu, darauf hat insbesondere Friedrich Nietzsche
hingewiesen. Den Archivaren ist dieser Zusammenhang schon lange vertraut. Ihre
Devise lautet: ‘Der Sammler sammelt, der Archivar kassiert.’ Und ‘kassieren’
ist im Archivwesen ein Fachausdruck für ‘vernichten’.
Die alte
Schlüsselfrage der Archivare, das Auswählen und das Weglassen, wird heute zu
einer drängenden Angelegenheit für alle. Zumal neben die Bilderflut des
Fernsehens inzwischen die Informationslawine der Vernetzung getreten ist. Das Internet
stellt einer unerhörte Herausforderung dar:
O-Ton, Jürgen Fohrmann:
Wenn Sie
überlegen, daß sich so ein vernetztes Programm
Informationen aus der ganzen Welt herholen kann, so wie ein universeller
Hypertext, so wie das Internet ja im Grunde heute funktioniert, wie ein
universeller Text, man lädt sich alles herein, was man braucht, natürlich in
einer absolut kurzen Zeit, alles das herbeischaffen kann oder könnte, was man
durch mühselige Bibliothekengänge ansonsten natürlich auch hätte herbeischaffen
können, aber mit einer viel längeren Anlaufzeit. So haben wir in ganz kurzer
Zeit eine absolut faszinierende Verfügbarkeit von Material auf der einen Seite,
auf der anderen Seite entsteht aber auch so etwas wie eine Entropie der
Information, d. h. es gibt so viele mögliche Informationen, daß das, was ich
mir als Information noch herausfiltern kann, verschwindend gering bleibt, ich
glaube also nicht, daß durch die neuen Speicherkapazitäten, die Verfügbarkeit
der Dinge auf einmal, zugleich auch der Umschlag des Wissens, den wir in
unserem Kopf verarbeiten können, größer wird. Es verschiebt sich nur, und
welche Konsequenzen diese Verschiebung hat, darüber gelte es erst einmal
länger nachzudenken. Es ist noch überhaupt nicht klar.
Sprecherin:
Jahrhundertelang
bildeten Schrift und Buch den fundamentalen Träger der abendländischen Kultur.
Offensichtlich ist die Schriftkultur heute in einem großen Umbruch. Manche
befürchten angesichts der Bilderflut und der Flüchtigkeit der Zeichen in den
elektronischen Medien sogar ihr Ende und wähnen den Untergang des Abendlandes
nahe. Man sollte jedoch nicht vorschnell urteilen. Umbrüche sind Zeiten der
Krise, sie sensibilisieren aber auch und schärfen die Wahrnehmung, sie rücken
das scheinbar Selbstverständliche einer Sache wieder ins Bewußtsein. Als sich
im vierten Jahrhundert vor Christus in Griechenland das Alphabet verbreitete
und die alte mündliche zu einer schriftdominierten Kultur transformierte, hegte
man keineswegs Vertrauen in das junge Medium. Kein geringerer als Platon erhob
gegen die Schrift selber genau die
Vorwürfe, die man heute den neuen Medien entgegenbringt. In Platons Dialog
Phaidros erzählt Sokrates den Mythos vom Gott Theut, der in Ägypten die Schrift
einführen will. Der Pharao lehnt das Angebot ab mit den Worten:
Sprecher:
"Diese
Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus
Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur
von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und
unmittelbar erinnern werden. ... von der
Weisheit also bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache
selbst."
Sprecherin:
Sokrates,
der selber keine Bücher schrieb, sondern auf dem Athener Marktplatz im spontan
zustandegekommenen Gespräch philosophierte,
lobte statt dessen "die lebende und beseelte Rede", um auf
"des Lernenden Seele" einzuwirken. Die Schrift hingegen - so Platons
vernichtendes Fazit - befördere Vergeßlichkeit und Scheinwissen, sie sei eine
Deformation der lebendigen Kommunikation; ein bedenkliches Treibgut, das den
Leser desorientiere und den Autor zur frivolen Spielerei mit Worten einlade.
O-Ton, Jürgen Fohrmann:
Eine erste
Möglichkeit, das zu parallelisieren, wäre schon im 18. Jahrhundert gegeben:
Diese berühmte Lesesucht-Debatte beispielsweise, ... ‘Lesen verdirbt den
Geschmack, Lesen hält die Frauen von der Arbeit ab, denn nur Frauen lesen so
viel’ - das war im 18. Jahrhundert so die These, ‘Lesen führt zu allen
möglichen luxuriösen Erscheinungen’, dies läßt sich bis in die Einzelsemantik
hinein übrigens vergleichen mit dem Aufkommen des Fernsehens, ganz parallel zu
sehen in den fünfziger und sechziger Jahren, dieselben Argumente werden
wiederholt, und so wäre auch zu überlegen ob die Einführung der neuen Medien,
der Computertechnologien beispielsweise oder der darin beschworenen neuen
Mündlichkeit oder dem Internet usw parallel zu denken wäre, noch mal zu dem im
einzelnen, was Platon uns vorzumachen versucht hat.
Sprecher:
Bei Platon
setzte sich das Alphabet durch, im 18. Jahrhundert, also zur Zeit der
Aufklärung begann die allgemeine Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung, und
heute geschieht eine Umwälzung, die durch das Schlagwort Informationszeitalter
gekennzeichnet ist. Das Aufkommen der Informations- und Kommunikationstechnologien
verlangt eine "zweite Alphabetisierung", wir müssen einen ausgewogenen
Umgang mit ihnen erst noch lernen. Die Geschichte bringt eine Reihe Beispiele,
wie das Aufkommen jeweils neuer Medien oder Aufzeichnungssysteme, wie sie der
Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler treffend nennt, mit Ängsten und
Bedenken verbunden war. Daraus spricht nicht zuletzt fehlende Erfahrung. Oft
verbinden sich diese Ängste vor dem Neuen mit einer unkritischen Verklärung des
Bestehenden. Manche Medienkritiker beschwören eine intakte Buchkultur, die nun
von außen angegriffen und deshalb unbedingt zu verteidigen sei. Aber Literatur-
und Lesekultur sind schon - so bilanziert der Literaturwissenschaftler Helmut
Kreuzer - in einem bedenklichen Zustand.
O-Ton, Helmut Kreuzer:
Mit dem
Literatursystem, wie es jetzt existiert, bin ich so unzufrieden, daß ich einen
Wechsel überhaupt nicht bedauern würde, im Gegenteil, ich finde das ist bereits
marode: Die Lyrik ist marginalisiert, die meisten Gedichte bleiben heute
Privatsache. Dominant ist zum einen die nichtfiktionale Sachliteratur, in allen
literarischen Medien, und zwar auch die lange, zum anderen die fiktionale Erzählprosa
des Bildschirms im Kino und im Fernsehen, und natürlich im Bestsellerroman. Und
der Bestsellerroman verwandelt sich dann ohnehin noch in einen Film. Neue
Dramen und Hörspiele werden kaum noch gedruckt, sondern nur noch gesendet und
gespielt, sie sind bedroht vom Untergang, und hier müssen die Archivare
eingreifen, um das Material der Sender zu sichern, unter Umständen indem man es
tatsächlich immer wieder auf neue Medien überspielt oder verschriftlicht. Ob
ein Buch in der Nischenliteratur verdämmert oder zum Bestseller wird, das hängt
heute teils von Zufall und Willkür ab, teils einfach von der kommerziellen
Macht der Buchkonzerne, der Verlage, in die ein Buch geraten ist, eben davon,
ob sie Anzeigenplantagen plazieren können oder nicht. Ins Blickfeld der Literaturwissenschaft
gelangen überhaupt nur noch diejenigen Titel, die die großen Feuilletons
bereits positiv beachtet haben. Die Literaturgeschichte, die sie schreiben, ist
deshalb eigentlich nur eine Literaturgeschichte aus zweiter Hand, wenigstens
was die erfaßten Autoren und Titel betrifft, höchstens langfristig setzen sich
dann andere Maßstäbe durch, aber unter Umständen ist die Literaturgeschichte
nie in der Lage, das Verlorene, was in der Nischenliteratur verdämmert ist,
oder gar nicht zum Druck gelangt ist, hervorzuholen.
Sprecherin:
Die Zahl der
jährlich gedruckten Schriften steigt zwar immer noch. Die Buchmessen
expandieren und die Verkaufszahlen belegen nicht, daß die Buchkultur in eine
Krise geraten sei. Aber der Marktanteil der elektronischen Datenträger wächst.
Die Verlage haben längst begonnen, sich auf das neue Geschäft umzuorientieren.
Und die klassische Buchhandlung verwandelt sich sukzessive in ein modernes
Medienkaufhaus, wo das Buch nur noch ein, wenn auch das wichtigste Medium unter
anderen darstellt. Das Buch hat weiterhin hohen Gebrauchswert, ihm kommt auch
sein ungebrochenes kulturelles Prestige zugute. Geschrieben, gedruckt und
gekauft wird also nach wie vor, aber wird auch in derselben Intensität gelesen
wie früher? Natürlich lassen sich solche komplexen geistigen Vorgänge nicht
messen oder quantitativ auswerten. Es gibt aber interessante Indizien, die
indirekte Schlüsse zulassen, z.B. wenn man die Nutzung von Bibliotheken beobachtet
wie Hans Limburg, Direktor der Universitätsbibliohtek in Köln.
O-Ton, Hans Limburg:
Man muß
zunächst einmal sehen, wir sind Hochschulbibliothek und werden also weniger
besucht von Gästen des eigentlichen Lesens wegen, die Leute, die zu uns kommen
haben gezielt bestimmte Vorstellungen, das und das brauche ich für Examensarbeiten
oder wie immer. Auffallend ist, daß auf der einen Seite die Lesesäle im Prinzip
voll sind, was aber bei einer Studentenschaft von 60.000 bei 600 Plätzen nicht
besonders verwunderlich ist. Auffallend ist für mich in den letzten zwei
Jahren, daß die Benutzung, also die Ausleihe von Büchern zurückgeht. ... Und da
fragen wir uns, woran liegt so etwas. Wieweit kann die neue Technik schon dazu
beitragen, - das glaube ich aber nicht, da es die Handbuchliteratur neuester
Art gespeichert nicht gibt - oder ob da auch eine gewisse Veränderung im
Studienverhalten vorliegt, daß heute - was man lesen kann - Verschulungsprozesse
an den Hochschulen stattfinden, so daß der oder die einzelne Studierende ganz
gezielt auf bestimmte Literatur hingewiesen wird, und alles andere links und
rechts liegen ist. Das ist für uns bislang nicht erkennbar, wie werden sicher,
wenn das so anhält, im nächsten Jahr einmal eine Benutzerfrage machen nach
Leseverhalten oder eben Nutzungsverhalten, um ein klein wenig Antworten zu bekommen,
mindestens dahingehend, wie weit und ob da vielleicht auch Versäumnisse bei der
Bibliothek liegen, es kann ja sein, daß man das Falsche kauft.
Sprecher:
Wie das
Gelesene innerlich verarbeitet wird, läßt sich nicht beurteilen. Klar ist aber,
daß die Vorgänge des Lesens und Schreibens sich unterscheiden, je nachdem ob
man ein Buch in der Hand hält oder vor dem Monitor sitzt, ob man auf Papier
schreibt oder in einen Computer eingibt.
Bei der
Arbeit am PC ist nur ein kleiner Teil des Textes sichtbar, jene 25 oder 30
Zeilen, die im Ausschnitt des Bildschirms Platz finden. Der Großteil des Textes
bleibt im virtuellen Raum verborgen, sei es auf der eigenen Festplatte, sei es
auf irgendeinem entfernten Rechner im Netz. Natürlich kann man auch am PC blättern,
aber der elektronische Text bleibt abstrakter, seine Struktur zu erfassen
stellt hohe Ansprüche an Konzentration und Gedächtnis. Geistiges Arbeiten mit
Papier ist sinnlicher und konkreter, weil Auge, Hand und Schreibwerkzeug sich
im Zusammenspiel gegenseitig stützen. Das Auge überfliegt das schon Geschriebene,
vielleicht auch rechts und links liegende Blätter, um weitere Sätze in den
Zusammenhang zu integrieren. Die schreibende Hand hat über das Schreibzeug
direkteren Kontakt zum Papier, sie
unterstützt das Ordnen der Gedanken durch die Abfolge der Bewegungen entlang
der Zeile.
Sprecherin:
Wo diese
sinnliche Einheit verloren geht, muß die Integration des Schreibvorgangs
stärker durch geistige Konzentration gewährleistet werden. Dies wird bei vielen
am Computer geschriebenen Texten zum Problem. Häufig wirken sie inhaltlich
nicht streng durchgearbeitet, als ob man vergessen hätte, manche Passage zu
löschen. Am PC zu schreiben hat aber auch einen positiven Effekt: Der Schweizer
Schriftsteller Jürg Laederach vermutet eine Entwicklung hin zu einem sogenannten
"Parlando-Stil“, zu einem lockeren, gleichsam mündlichen Stil. Wird die
Strenge der Schrift und der Schriftkultur preisgegeben zugunsten einer neuen
Dominanz der mündlichen Kommunikation? Zumal wenn man, in den nächsten Jahren
schon, die Computer per Stimme bedienen wird. Befördert paradoxerweise gerade
der Computer eine oral literature, ein neues Zeitalter der Mündlichkeit, wie es
damals bei Platon zu Ende ging?
O-Ton, Helmut Kreuzer:
Ich glaube
das eigentlich nicht, jedenfalls bis jetzt werden die Schmöcker immer dicker,
und nicht dünner. Höchstens in den neuen Medien werden die Sendungen kürzer und
nicht länger. Aber generell würde ich sagen, daß neue Medien auch neue
literarische Möglichkeiten hervorbringen und nicht nur literarische Grenzen ziehen.
Das auch. Beides muß man berücksichtigen. ... Beides ist der Fall. Deshalb
spreche ich von der Koevolution der Medien und meine, daß die Geschichte eines
Einzelmediums, sei es der Zeitung, des Radios, des Fernsehens, des Kinos usw
eigentlich voraussetzen würde, daß eine Gesamtgeschichte der Medien, des
Mediensystems da ist, wie es sich entwickelt hat im Laufe des 20. Jahrhunderts,
weil eben jede Phase in der Geschichte der Einzelmedien - das gilt natürlich
auch für das Buch - abhängig ist von dem Mediensystem im ganzen, nicht alles
ist zu jeder Zeit in jedem Medium möglich und machbar, und daher bringt die
Differenzierung der Medien nicht nur Verdrängungen mit sich, sondern auch
Neuorientierungen, bei etwa den jeweils älteren Medien, die nicht nur Negatives
an sich haben.
Sprecher:
Professor
Helmut Kreuzer gab an der Gesamthochschule Siegen Impulse, daß sich eine
traditionell eng verstandene Literaturwissenschaft dort öffnete und medienwissenschaftliche
Studien einschloß. Denn die neuen Medien, Computer und Internet, werden die
Literatur und die Kultur insgesamt nachhaltig verändern, aber vermutlich
subtiler als einseitige Pro- und Kontraurteile annehmen. Ein Blick in die
jüngere Mediengeschichte liefert Beispiele von Wechselwirkungen und gegenseitigen
Beeinflussungen im Sinne dessen, was Helmut Kreuzer die Koevolution der Medien
nennt: Das junge Medium Film hat in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht,
wie befürchtet, die Literatur vernichtet. Wohl aber hat sich die
weiterbestehende Literatur verwandelt, indem sie dem Film neue Stilmittel
entlehnte: die schnelle Schnittfolge von Szenen zum Beispiel, die Alfred Döblin
für den ersten modernen Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz"
adaptierte. Und auch das Fernsehen
machte dem Buch nicht den Garaus;
es hat aber die Lesegewohnheiten verändert.
Sprecherin:
Inzwischen
bekommen neben dem Buch auch die anderen klassischen Printmedien, Zeitungen und
Zeitschriften die neue Konkurrenz zu spüren. Das Bedürfnis nach aktueller
Information, erweitert um die Möglichkeit globaler Kommunikation wird durch
verschiedene Online-Dienste im Internet bedient. Aber über die neuen Kanäle
dringt eine ungeheure Masse an Information auf den Einzelnen ein, die nicht
mehr zu bewältigen ist. Der französische Medienphilosoph Jean Baudrillard
entwirft ein Schreckensszenario überfetteter Datensysteme und kollabierender
Kommunikationsnetze, wo die Hypertrophie der Information einhergeht mit einer
Verkümmerung der lebendigen Erinnerung und Erfahrung.
Auch Michael
Wettengel, von Berufs wegen weltweit mit vielen Wissenschaftlern im Austausch
und mit einigen Online-Diskussionsforen verbunden, beschreibt die Kapitulation
vor dem Übermaß.
O-Ton, Michael Wettengel:
Es ist auch
so, daß man via Internet derart viel Information erhält, wenn man einmal in
NewsServers oder ähnlichen NewsGroups ist, derart viel Information auf uns
einströmt, daß man das auch nur ansatzweise, jedenfalls mir geht es so,
verarbeiten kann, weil einfach die Zeit fehlt, das wirklich zu praktizieren.
Und diese Informationsfülle ist derart unglaublich, und meine persönliche
Horrorvorstellung wäre, wenn ich einmal ein optical tape bekomme, wo heute
schon Speicherkapazitäten von einem Terabyte drauf sind, das sind Quantitäten,
... wenn man das durchschaut wären, das Millionen Schreibmaschinenseiten. Man
könnte vermutlich, nein ganz sicher, unser ganzes Archiv ... auf einen
Datenträger aufpacken, und es wäre noch viel Platz.
Sprecher:
Die
Ambivalenz des Archivars ist spürbar: eine Mischung aus Angst und Faszination.
Ihn schwindelt bei der Vorstellung, daß riesige Datenbestände, die ganze Keller
füllen nun auf einer kleinen silbrigen Scheibe Platz finden. Er weiß, je
kompakter die Information, desto gefährdeter ist sie auch. Aber die
Befürchtung, daß Bibliotheks- und Archivhäuser nun langsam verschwinden, und
den Büchern ihr Hort genommen wird, muß man nicht hegen, behauptet Hans Limburg
in seinem Fazit.
O-Ton, Hans Limburg:
Ich glaube
nicht, daß sich da wesentliches ändert. Natürlich wird die Technik Fortschritte
machen, die Technik wird auch sicher weitere Bereiche einbeziehen in den
Alltagsablauf, aber auf der anderen Seite wird das gedruckte Buch und der Wert
des gedruckten Buches m.E. nicht abnehmen. ... Es hat gerade in Amsterdam ein
Kongreß stattgefunden, wo es um Bibliotheksbauten geht, wo gerade amerikanische
Architekten und Bibliothekare versammelt, wo man angenommen hat, jetzt gibt es
nur noch Bauten, wo es nur noch Technik gibt, - natürlich gibt es die Technik
und man muß auch Vorsorge treffen, daß z.B. jeder Arbeitsplatz verkabelt ist
und all diese Dinge - aber auf der anderen Seite wurde aber auch laut betont:
Baut möglichst große Magazine, damit ihr künftig auch für die Bücher Platz
habt. Denn das ist ja, was man uns heute oft etwas flott vorhält, es wird ja künftig
alles digitalisiert, wofür braucht ihr denn noch einen Neubau, wir kämpfen
gerade hier in Köln für mehr Platz für Bücher, auch die Institutsbibliotheken
sind völlig zu, und da bedarf es eines Baues für all die Dinge, ..., ich persönlich
bin da nicht bange um das Buch, weil es einfach zu praktisch ist.
Sprecherin:
Das Buch
kann man überall mit hinnehmen und lesen wo immer man gerade ist. Das Buch ist
technikunabhängig, preisgünstig und ziemlich robust. Deshalb wird es auch nicht
untergehen. Vermutlich werden in nächster Zukunft Buch und neue Medien, Druck
und Elektronik als parallele Speicherkulturen nebeneinander bestehen und
sich wechselseitig beeinflussen. Das
technische Problem der elektronischen Speicher kann man lösen, wenn auch nicht
perfekt. Die Antwort lautet: Datenpflege. Schon jetzt existieren im
professionellen Bereich zahlreiche Serviceunternehmen, die die gezielte
Betreuung elektronischer Datenbestände übernehmen.
Die
inhaltliche Frage nach dem kulturellen Gedächtnis ist schwieriger zu beantworten.
Jürgen Fohrmann sieht die Gefahr, daß der Erfolg der elektronischen Medien das
Reflexionsniveau zersetzen und eine Kultur befördern könnte, die einseitig auf
Kurzweil und Zerstreuung ausgerichtet ist.
O-Ton, Jürgen Fohrmann:
Die Frage
ist, und das scheint mir die entscheidende Frage zu sein, in wieweit sich durch
diese neue Form der Kommunikation auch Formen des Redens ändern werden. Also
wenn ich z.B. sehe, daß ... Rundfunksendungen oder Fernsehsendungen sich zur
Zeit nach immer anderen Gesetzmäßigkeiten weiterentwickeln, d.h. immer kürzere
Spots, immer kürzere Einstellungen haben,
- nach meinem Redebeitrag muß sofort ein Musikbeitrag kommen, um das
Ganze aufzulockern, d. h. wie die Relation von konzentrativen und
Entspannungsphasen funktioniert, ich glaube in der Tat, daß man an dieser
Relation sehr viel über die Kultur einer Gesellschaft ablesen kann.
Wie sich
konzentrative und Entspannungsphasen zueinander verhalten? - Also z. B. wäre
interessant zu sehen, ob nicht das Radio über kurz oder lang zu einem
Begleitradio wird, zu einem Begleitradio z. B. für Autofahrer, ... d.h. aber
für das Radio, daß man fast nur noch Musik hören wird oder ganz kurze
Wortbeiträge, während alles, was längere Vertextung notwendig macht, in andere
Medien abwandert. Wenn es denn überhaupt noch Medien gibt, die längere
Vertextungsformen vorsehen. Und wenn ich kulturkritisch reden sollte, dann
denke ich in der Tat, daß dann ein Problem auftreten sollte, wenn es keine
längeren Vertextungsformen mehr gäbe. Weil nur längere Vertextungsformen - da
bin ich absolut sicher - es möglich machen, etwas länger und gründlicher
nachzudenken, und nicht sofort immer zu springen, ich bin eben nicht der
Meinung, daß die Ästhetik des Sprunges das Nonplusultra ist. ... Ich fände es
ganz schade, wenn unsere gesamte Kommunikation sich nur noch auf
Kurzfristigkeit, sich sozusagen auf intellektuelles Zapping hin umformieren
würde, das würde ich für einen entscheidenden Nachteil halten.
Sprecher:
Mit Ästhetik
des Sprungs meint Jürgen Fohrmann nicht nur das ständige Umschalten der
Fernsehprogramme, das Channel-hopping, sondern auch die Logik der Hypertexte im
Internet. Während ein klassischer Text streng linear geordnet ist, man liest
ihn Zeile für Zeile, und von vorn nach hinten, enthalten die Hypertexte
zahlreiche Sprungmarken, sogenannte Links, die beim Anklicken zu anderen
Texten, Bildern oder Grafiken hinüberleiten. Dem traditionell linearen
Schreiben und Lesen scheint künftig ein komplexerer und assoziativerer Umgang
mit Zeichen zu folgen.
Sprecherin:
Das Ergebnis
dieser Entwicklung ist noch nicht abzusehen: Es stecken darin sowohl produktive
Potentiale, Möglichkeiten zu einem offeneren, kreativen Umgang mit kulturellen
Gegenständen, es liegt darin aber auch die Gefahr, sich in einer Kultur bloßer
Zerstreuung zu verlieren. Bilder und Bücher wären dann nicht mehr Gegenstände
des Verstehens und der Selbstreflexion, die man inhaltlich ernstnimmt, sondern
nur noch beliebige Zeichenmengen, mit denen sich spielen läßt, die man
auseinandernehmen und neu arrangieren kann, in einer Lust an Verbindungen
ohne Verbindlichkeit. Welchen Ausgang die Geschichte schließlich nehmen wird,
liegt vor allem - darauf insistiert Helmut Kreuzer - an den Menschen selbst.
O-Ton, Helmut Kreuzer:
Ich halte
nichts davon, die Schuld jeweils anderen zu geben oder toten Dingen wie den
Medien. Die Leute können doch ihr Leben selber führen. Die einen sind in die
Arbeitswelt so eingespannt, daß sie dem permanenten Fernsehen beispielsweise,
dem 24-Stunden-Fernsehen überhaupt nicht ausgesetzt sind, sondern höchstens am
Abend in der Prime time noch etwas sehen und dann ins Bett gehen; und
diejenigen, die Zeit haben, die Arbeitslosen, die könnten sich sehr wohl
erinnern, wenn sie abschalten, und es wäre natürlich gut, wenn sie darüber nachdächten,
wie sich ihre Situation ändern ließe, wie sich z. B. einer Globalisierung, die
für Arbeitslose sorgt, eine Globalisierung des politischen Denkens und der
Wissenschaften gegenüberstellen ließe, die die Arbeitslosen unter Umständen beschützt
vor den Globalisierungstendenzen der Wirtschaft, die sie sozusagen freisetzt, -
also der Arbeitslose ist in einer anderen situation. Wer von ihnen sich dem
Fernsehen völlig hingibt, gibt sich im Grunde selber auf; und die Rentner sind
wieder in einer anderen Situation. Aber der Rentner hat nicht nur die Zeit
fernzusehen, er hat auch die Zeit sich zu erinnern. Und ob er es tut oder nicht
tut, ist seine Sache. Und deshalb würde ich meinen, man sollte jetzt nicht die
Medien verantwortlich machen, oder sonst irgendeinen anderen, sondern sich
selber. Selber kann man so handeln, wie man sich wünscht, daß alle anderen in
der gleichen Situation handeln würden, wenn man das tut, ist man mit sich
selbst einig, und unter Umständen auch bei den anderen respektiert. Und wenn
das dann noch ansteckend wirkt, weil dieses Verhalten nicht nur ethische,
sondern auch ästhetische Qualitäten hat, dann entsteht schon so etwas wie eine
soziale Zelle der Hoffnung, und zwar nicht nur der Hoffnung für den Einzelnen.
Sprecher:
Für das
kollektive wie für das individuelle Gedächtnis ist in all dem eines unabdingbar:
man braucht Zeit. Diese Einsicht hat der französische Medienkritiker Paul
Virilio polemisch zugespitzt: ‘Information in Echtzeit, also permanente
Live-Übertragung ist wie eine Ohrfeige’ - sie zerschlägt unser Nachdenken, sie
raubt uns die Distanz. Wenn ununterbrochen die neuesten Bilder und Informationen
in Lichtgeschwindigkeit auf uns einprasseln, haben wir keine Gelegenheit mehr
nachzudenken und kritisch zu reflektieren. Wenn Gegenwart permanent andrängt,
kann Erinnerung niemals einsetzen. Das Gedächtnis braucht Freiräume, Augenblicke
der Muße, der Leere, buchstäblich - Sendepausen.