Autor:
Wenn man für
den Geist des klassischen Industriezeitalters mit seiner ständig steigenden
Produktion nach einem mythologischen Spiegelbild suchte, hat man oft die Figur
des Prometheus assoziiert. Der Titan Prometheus, so die altgriechische Sage,
lehrte die Menschen die Naturgewalt des Feuers zu bändigen und für ihre Zwecke
nutzbar zu machen, er unterrichtete sie im Handwerk und vielen anderen
praktischen Künsten, ja nach Hesiods Darstellung erschuf er sogar selbst das
Menschengeschlecht. Prometheus, wie ihn
auch die Ruhruniversität Bochum in ihrem Wappen führt, symbolisiert die
Produktivität und Kraftentfaltung des Industriezeitalters.
Wollte man
hingegen für das begonnene Informationszeitalter, für diese Welt des
beschleunigten Verkehrs und Transfers der Daten, Güter und vor allem auch der
Menschen selbst eine mythologische Entsprechung finden, so bietet sich weit
eher die Gestalt des Hermes an. Hermes, der gegflügelte Götterbote eilte
zwischen Himmel und Erde hin und her, vermittelte und dolmetschte zwischen
Göttern und Menschen. Er wurde deshalb auch als Schutzgott aller Reisenden,
insbesondere der Händler und Kaufleute verehrt.
Hermes hat
denn auch der französische Philosoph und Wissenschaftshistoriker Michel Serres
sein mächtiges fünfbändiges Hauptwerk genannt, das nun seit einem Jahr auch
auf deutsch vollständig vorliegt. Mit dem monumentalen Opus unternimmt Michel
Serres den ehrgeizigen Versuch, noch einmal
das gesamte Spektrum der Wissenschaften in einer fächerübergreifenden
philosophischen Reflexion einzuholen. Denn vor allem dazu sei die Philosophie
da, betonte Michel Serres in einem Interview:
Michel Serres, O-Ton:
(frz. Original mit
Übersetzerstimme)
Die Aufgabe
der Philosophie ist es, einen vollständigen Gang durch das Wissen ihrer Zeit zu
machen. Wenn es keine Enzyklopädie gibt, gibt es auch keine Philosophie.
Deshalb habe ich seit meiner Jugend versucht, über die Mathematik, die Physik,
die Biologie, die Geisteswissenschaften usw zu arbeiten und diesen ganzen
wissenschaftlichen Hintergrund geschichtlich zu untersuchen. Ich glaube also
nicht, daß die Philosophie vom Totalitätsprojekt, von der Enzyklopädie,
loslösbar ist. Sie muß eine Art Synthese vollziehen, die Synthese des Wissens
ihrer Zeit, und sogar versuchen, das kommende Denken vorauszusehen, als ob es
die Aufgabe des Philosophen sei, in die Zukunft vorzugreifen. Das ist eine
sehr heroische Arbeit, weil sie wirklich eine Art Reise verlangt, eine
vollständige Reise etwa wie die von Odysseus im Mittelmeer, und weil sie viel
Zeit in Anspruch nimmt.
Autor:
Auch Serres
hegte, zumindest lange Zeit, den alten Traum der Philosophen, jene Hoffnung,
die verlorene Einheit des Wissens am Ende der geistigen Odyssee wiederzufinden
und dabei die Philosophie selbst als Königsdisplin zu restitutieren. Denn zu
Beginn der Neuzeit, im 16. und 17. Jahrhundert, galt die Philosophie als Mutter
der Wissenschaften. Doch deren Ausdifferenzierung und Emanzipation in eine
moderne Vielfalt von Ansätzen, Methoden und Disziplinen ist nicht mehr
zurückzunehmen. Denn das Denken läßt sich weder aus obersten Prinzipien
ableiten, noch auf letztgültige Wahrheiten zurückführen, es sei denn um den
Preis des Dogmatismus, vor dem Serres immer wieder warnt.
Aber die
Fächergrenzen bestehen gleichwohl nicht absolut: Fragestellungen, Konzepte und
Probleme sind heute mehr denn je von übergreifender Bedeutung, wie
insbesondere die ethische Wissenschaftsdebatte deutlich macht. Die Philosophie
befindet sich in einer paradoxen Situation: Sie bleibt aufgerufen, das Ganze zu
bedenken, ohne doch selbst im Besitz einer Ganzheit zu sein. Was dann aber eine
philosophische Gesamtsicht oder Synthese überhaupt meinen kann, muß Serres
zufolge selber neu bestimmt werden:
Michel Serres, O-Ton:
(frz. Original mit
Übersetzerstimme)
Sobald man
das Wort „Synthese“ ausspricht, wird man auf Systeme aus der Vergangenheit
hingewiesen, wie auf das System von Aristoteles, von Hegel oder Auguste Comte.
Leider befinden wir uns aber nicht mehr in jenerZeit. Wenn man versucht, eine
Art Reise zu unternehmen, so wird man heute des sehr differenzierten Charakters
der durchquerten enzyklopädischen Landschaft gewahr. Zu Beginn des 19.
Jahrhunderts, als Hegel die Synthese des Wissens der Epoche vollzog, hat er
gedacht, daß es eine Art globaler Einheit des Wissens und der Geschichte gäbe.
Ich nehme an, daß Hegel der Rat Gottes genützt hat. Dieser Rat nützt mir
nichts, und infolgedessen bin ich aufs Geratewohl losgezogen. Ich bin und war
lange Zeit eher Pluralist. Daher ist das Wort „Synthese“ vielleicht nicht so
gut, das Wort „Reise“ wäre besser, das Wort „Irrfahrt“ wahrscheinlich noch
besser, und doch ist diese Irrfahrt von dem Streben nach Totalität
gekennzeichnet. Die Irrfahrt ist das Resultat, aber am Ausgangspunkt stand das
Streben nach Totalität.
Autor:
Die
Metaphern von Reise und Fahrt sind bei Serres auch wörtlich zu nehmen. 1930 in
Südfrankreich geboren, einer Bauernfamilie entstammend, zog es Michel Serres
nach dem Abitur in die Ferne. Er besuchte eine Marineschule, wurde zunächst
Offizier und blieb sein Leben lang ein passionierter Segler, der die sieben
Weltmeere befahren hat. Auch sein
Studium führte ihn in die unterschiedlichsten Regionen, zunächst Mathematik
und Physik, dann Philosophie und Literaturwissenschaft. Umso weniger konnte er
die Spaltung der geistigen Welt in zwei Kulturen hinnehmen, hier die
Naturwissenschaftler mit ihrer exakten Erkenntnismethode, dort die
Geisteswissenschafter mir ihrer Perspektive des Sinnverstehens, also zwei ganz
unterschiedliche Weisen der Welterschließung. Vor allem auf die Überwindung
dieser Kluft zielt Serres mit seinem enzyklopädischen Projekt. Er hat die
Vermittlung zwischen den Natur- und den Humanwissenschaften mit der legendären
Suche nach der Nord-West-Passage verglichen, dem lange für unmöglich gehaltenen
Seeweg vom Atlantik zum Pazifik durch das Labrinth des nördlichen Eismeeres.
Zitator:
„Wichtig ist die Feststellung, daß der
Durchgang selten gelingt und sehr eng ist. Er ist nicht breit wie ein flaches
Meer ohne Riffe, wie eine der gängigen Meerengen. Auch der Weg von den Geistes- und Sozialwissenschaften
zu den exakten Wissenschaften und umgekehrt führt nicht durch einen leeren
homogenen Raum. Das Bild dieses äußerst komplexen Archipels im hohen Norden
Kanadas, der meistens unterm Eis begraben liegt, dieses Bild ist exakt.
Meistens ist die Durchfahrt versperrt, durch Landmassen oder durch Eis oder
weil man sich verirrt. Und wenn sie offen ist, so auf einem Weg, der sich nur
schwer voraussehen läßt. Auf einem Weg, der einzigartig ist...“
Autor:
Daß Serres
auf diesem Weg den Gott Hermes zum Schutzpatron wählt, würde für einen
Geisteswissenschaftler vielleicht weniger verwundern. Gibt es doch eine alte
Tradition, der zufolge die Kunst des Verstehens und Verständlichmachens, insbesondere
der rechten Auslegung von Texten als Hermeneutik bezeichnet wird. Und Wilhlem
Dilthey hatte, im dem Bemühen den
Geisteswissenschaften eine gesicherte Grundlage zu verschaffen, sich vor allem
auf die Hermeneutik bezogen und ein geisteswissenschaftliches Verstehen einem
naturwissenschaftlichen Erklären methodologisch gegenübergestellt. Serres
jedoch entstammt gerade nicht dieser Tradition geisteswissenschaftlicher
Hermeneutik, er kommt von den Naturwissenschaften und von der Mathematik her.
Klaus Englert aus Düsseldorf, ein Kenner der neueren französischen Philosophie
und des Werkes von Michel Serres, charakterisiert dessen Ausgangssituation.
Klaus Englert, O-Ton:
Er war etwa
dreißig Jahre alt, als er Anfang der sechziger Jahre seine ersten Schriften
verfaßte, Serres war damals Mitglied der sogenannten Bourbaki-Gruppe, ... eine
Gruppe von Logikern, die vollkommen neue Analysen gemacht haben, und Serres hat
versucht, Leibniz für die damalige Zeit fruchtbar zu machen, er hat an den
formalen Systemen der Wissenschaft anzuknüpfen versucht wie Arithmetik, Logik,
Geometrie, und hat versucht, die bestehenden Wissenschaften ausgehend von
formalen Kriterien zu beschreiben. ... Man muß natürlich diese Untersuchungen,
die Serres damals angestellt hat, im Kontext des beginnenden Strukturalismus
sehen, Strukturalismus war natürlich auch formale Analyse, Analyse z.B. der
täglichen Gebrauchsgegenstände bei Baudrillard; eine formale Analyse des
Filmes, so wie sie Christian Metz gemacht hat; eine formale Analyse der
ökonomischen Produktionsverhältnisse, so wie sie Louis Althusser gemacht hat;
oder eben auch eine formale Analyse von Tod, Arbeit, Spiel und Leben, so wie
sie dann Mitte der sechziger Jahre von Michel Foucault unternommen worden ist.
Autor:
Serres hat
also durchaus Analogien zu den anderen französischen Denkern der Zeit,
allerdings mit einem grundlegenden Unterschied: Während der Strukturalismus die
Linguistik zur Leitwissenschaft erhob und sich auf das Paradigma der Sprache
stützte, bezog sich Michel Serres auf die Mathematik. „Am Anfang steht die
Mathematik“ heißt es bezeichnenderweise im ersten Band des Hauptwerkes, das
den Titel Kommunikation trägt. Im Rekurs auf die Mathematik bricht Michel
Serres mit der Tradition des linearen Denkens in mehrfacher Hinsicht, zunächt
im kausalen Sinne, wenn alles Geschehen nach dem Ursache-Wirkung-Schema
verstanden wird, dann auch im logischen Sinne, wenn das Denken als
eindimensionale Argumentationskette begriffen wird; und schließlich im
geschichtlichen Sinn, wenn die Entwicklung der Wissenschaften verkürzt als
simpler Fortschritt gedeutet wird. Solchen linearen Denkmustern hat Serres ein
topologisches Modell entgegengestellt, veranschaulicht als netzförmiges Diagramm,
wo die einzelnen Elemente oder Punkte durch eine Vielzahl von Fäden
untereinander verbunden sind. So stellt Serres sich die Geschichte und das
Verhältnis von Wissenschaften vor: ein komplexes Spiel von Vor-, Rück- und
Querbezügen, in dem die Fachgebiete sich gegenseitig beeinflußen und verändern
- mit einem Wort: kommunizieren. Und in dieser Weise schreibt auch Serres
selber keine linerare Entwicklungsgeschichte der Wissenschaften mehr, sein
Werk vollführt vielmehr eine Reihe von Kreisbewegungen, erforscht in Variationen
das Leitthema der Kommunikation. Zuerst fragt Serres nach der Relation von
Geometrie und Philosophie, thematisiert darin das Problem der Ordnung, verfolgt
dieses Thema weiter im Verhältnis von Vernunft und Wahnsinn entlang Michel
Foucaults berühmer Studie, um schließlich den Leser damit zu überraschen, wie
sie sich die Themen Enzyklopädie, Reisen und Kommunikation in Romanen Jules
Vernes wiederfinden lassen. Der Schwerpunkt freilich liegt in der
philosophischen Auseinandersetzung mit dem 17. Jahrhundert, als die Mathematik
der Philosophie und den neuen Wissenschaften als methodisches Vorbild diente.
Descartes und Leibniz heißen dabei jene Schlüsseldenker, auf die er immer
wieder zurückkommt.
Klaus Englert, O-Ton:
Ich denke,
daß der Titel Kommunikation auf seinen eigentlichen Lehrmeister und zwar auf
Leibniz zurückgeht, Leibniz hat nämlich die Welt als eine Welt von
ineinandergreifenden Monaden beschrieben, d.h. er hat Inhalte beschrieben, die
miteinander in Kommunikation stehen, und von daher kann man sagen, daß Leibniz
- jedenfalls in den Augen von Serres - ein formaler Analytiker gewesen ist, der
Elemente eben nach formalen Gesichtspunkten beurteilt und in Beziehung gesetzt
hat, ganz im Gegensatz etwa zu Descartes, der im wesentlichen ein Intuitionist
gewesen ist, und im Grunde von den letzten Wahrheiten ausgegangen ist, wie
z.B. vom Subjekt, das er bekanntlich als
fundamentum inconcussum bezeichnet hat, also als dasjenige, was als Anfangs- und als Endpunkt jeder Analyse zu
stehen hat. Für Descartes gibt es also die ersten und die letzten Wahrheiten
einer jeden Wissenschaft, und für Leibniz gibt es durchaus die zu
untersuchenden Relationen zwischen den einzelnen Gebieten, zwischen den
einzelnen Elementen, zwischen den Inhalten verschiedener Wissenschaftsrichtungen
und für ihn ist auch wichtig, daß es Unschärferelation gibt, daß es das Wirre
gibt, daß es das Rauschen gibt, nämlich wenn wir dies sehen, dann können wir
auch besser verstehen, und von diesen Gesichtspunkten hat sich im wesentlichen
auch Serres leiten lassen.
Autor:
Der moderne
Enzyklopäde Serres erkennt, daß klassische Enzyklopädie nicht mehr möglich
ist, daß sich die Wissenschaften nicht säuberlich nach Schubladen aufteilen
und ordnen lassen, sie bildern vielmehr - in Leibniz Worten „einen „zusammenhängenden
Körper, ähnlich einem Ozean“, d.h. ein Kontinuum, in dem Bewegung und Austausch
vorherrscht, und wo am Schnittpunkt alter Disziplinen unerwartet neue
entstehen, wie z.B die Biochemie oder die Kybernetik.
Serres
diskutiert dieses Phänomen im gleichnamigen zweiten Band unter dem Begriff
Interferenz. Damit hat Serres aber nicht lediglich ein weiteres Plädoyer für
interdisziplinäre Zusammenarbeit gehalten, sondern präsentiert einen
radikaleren Gedankengang: Wissenschaften erfassen ihr Erkenntnisgegenstand
keineswegs unmittelbar. Dazwischen schieben sich notwendig Erkenntnismodelle,
Methoden und Terminologien, also Forschungstraditionen, die wiederum von einem
neuen wissenschaftlichen Ansatz übernommen, verworfen oder modifiziert
werden. Wissenschaften beziehen sich zuvörderst nicht auf ihr Objekt, sondern
auf andere Wissenschaften, sie übersetzen sich wechselseitig und schreiben sich
damit fort.
Serres’These
betrifft grundlegende Vorstellungen von der Logik wissenschaftlicher Prozesse:
nicht der deduktive Schluß von einem allgemeinen Prinzip her, nicht die
induktive Forschung auf ein allgemeines Gesetz hin , bilden die Grundfiguren
der Wissenschaft, bestimmend sei vielmehr die Traduktion, also die Übersetzung
von einem geschichtlich gewordenen Denkansatz in einen anderen. Übersetzung
hat denn auch Serres den zentralen dritten Band des Hermes genannt.
Klaus Englert, O-Ton:
Wenn Serres
von Übersetzung redet, dann meint er sicherlich nicht nur ... das Übersetzen eines bestimmten, durch ein
Sprachsystem determinierten Sinns in ein anderes Wort eines anderen
Sprachsystems, sondern er meint wirklich die Übersetzung eines Sprachsystems in
ein vollkommen anderes, das nicht sprachlich ist, und man kann sicher sagen,
daß durch dieses In-Relation-setzen grundlegende Eigenschaften in bestimmten
Wissensbereichen nun mehr manifest werden als vorher. Als Beispiel nennt er die
Sprache der genetischen Codes. Es ist natürlich heute banal darauf hinzuweisen,
aber daß die Biologie, oder besser gesagt, der biologische Körper auch mit
Hilfe von Sprache darstellbar ist, decodiert werden kann, ist natürlich
trotzdem ein höchst interessantes Phänomen, und gerade dieses In-Beziehung-Setzen
von verschiedenen Sprachen, die wir untersuchen können, ist für die Wissenschaft
eine immer bleibende Möglichkeit neuer Entdeckungen.
Autor:
Das
In-Beziehung-Setzen von verschiedenen Sprachen, ihre Übersetzung wird damit
auch zur Hauptätigkeit des philosophischen Enzyklopädisten, also für Michel
Serres selber. Aber bei dieser Arbeit steht dem Enzyklopädisten keine
Metasprache mehr zur Verfügung, keine metaphysische Warte, von der herab er die
Diskurse der Einzelwissenschaften überschauen, klassifizieren und beurteilen
kann. Er vermag sie keinem System mehr zu intergrieren, das er gleichsam
besitzt und verwaltet. Um zu übersetzen, muß der Philosoph vielmehr selbst seinen
Ort verlassen, er muß von einer Disziplin zur anderen, wie von einer Insel zur
nächsten buchstäblich über-setzen.
Die Enzyklopädie verändert den Enzyklopädisten, er ist kein Sammler mehr mit
einer unverbrüchlichen Identität, sondern ein Fahrender, eine passagere
Gestalt, die von jeder Umgebung neu geprägt wird. Serres Konzept impliziert
also eine Kritik am cartesianischen Subjekt. Diese Einsichten im Laufe der
Arbeit haben auch Serres’ philosophische Position selbst verändert. Das wird
neben seinen Büchern zur Kunst und Literatur insbesondere am vierten Band
des Hermes sichtbar, der wie ein poetischer Kontrapunkt zu den spröden frühen
Schriften erscheint.
Klaus Englert, O-Ton:
Man kann
einerseits sagen, daß Serres durchaus in den frühen Jahren, also in den
sechziger Jahren, als formaler Analytiker oder als Strukturalist begonnen hat,
er hat aber gleichzeitig die Beschränktheit einer formalen Analyse gesehen, und
zwar einer Analyse, die, wie er sagt,
das Rauschen begrenzt, die Mathematik oder die Logik wollen einen rauschfreien
Zustand haben, d.h. sie wollen einen Gegenstand erkennen, einen Gegenstand
umfassen, ohne jede Unschärferelation. Und besonders in den späteren Jahren, in
den siebziger und in den achtziger Jahren hat Serres darauf bestanden, daß es
gerade auf die Darstellung des Rauschens ankommt, eine Kommunikation ohne
Rauschen gibt es nicht, und er sagt, daß Rauschen ein wesentlicher Bestandteil
der Kommunikation ist, anders etwa als die Kommunikationstheoretiker aus dem
angelsächsischen Bereich, die versuchen die Kommunikation zu formalisieren,
und zwar so, daß man nur die allgemeinen Bedingungen der Kommunikation
darstellt, ohne das, was eine Kommunikation möglicherweise beeinträchtigen
könnte; und Serres versucht eben gerade den Finger darauf zu legen, daß keine
Kommunikation je ohne irgendwelche Unglücksfälle, ohne Ironie, ohne Mißlingen
beispielsweise vonstatten gehen kann. Und deswegen ist es für ihn wichtig, auf
Kriterien wie Zufälligkeit, auf Diskontinuität, auf Bruch abzuzielen und nicht
auf irgendwelche formalen Gegebenheiten, die diese Kriterien im Grunde apriori
außer acht lassen.
Autor:
Serres’ Gedanken über das Rauschen, die
Störung und die nie herstellbare technische Perfektion betreffen nicht allein
die Kommunikation im engeren Sinne, es sind vielmehr Thesen über die Grenzen
der Rationalität. Serres, der fasziniert von der Mathematik, und ihrem Versprechen
absoluter Reinheit und Ordnung aufgebrochen ist, sieht und anerkennt nun einen
Primat der Unordnung:
Zitator:
„Am
wahrscheinlichsten ist die Unordnung. Die Unordnung ist fast immer da. Das
heißt Wolke oder Meer, Sturm oder Rauschen, Gemisch und Masse, Chaos, Tumult.
Das Reale ist nicht rational. Oder allenfalls im äußersten Grenzfall.
Wissenschaft ist daher immer Wissenschaft der Ausnahmeerscheinungen, des
Seltenen und des Wunders.... Denn das Rationale ist eine seltene Insel auf dem
Meer des Undifferenzierbaren.“
Autor:
Der
kosmologischen These vom Primat des Chaos, und der Kontingenz jeglicher
Ordnung und Vernunft, entspricht Serres Preisgabe eines strengen
wissenschaftlichen Stils. Womit er sich allerdings bewußt in jene französische
Tradition einreiht, die von Montaigne, über Voltaire und dem Enzyklopädisten
Diderot immer in einer engen Verschränkung von Philosophie und Literatur
gedacht und geschrieben haben. Dennoch verwundert, daß ein so eigenwilliger
Denker wie Serres, der sich zudem über die Grenzen der Disziplinen und die Regeln
der wissenschaftlichen Argumentation völlig unakademisch hinwegsetzt, 1990 in
die Akademie Francaise, in den elitären Kreis der vierzig sogenannten
Unsterblichen gewählt wurde.
In dem Buch
„Die Fünf Sinne“, das inzwischen ebenfalls ins Deutsche übersetzt worden ist,
artikuliert Serres nach eigenen Worten „eine Art Aufruf, Schrei oder Revolte
gegen die Ausschließlichkeit, die der Sprache seit einem Jahrhundert von der
Philosophie eingeräumt wird“. Das Werk ist ein literarisches Fanal für die
Existenz der Sinne, ein wunderschönes Feuerwerk der Sprache gegen ihr eigenes
Monopol.
Michel Serres, O-Ton:
(frz. Original mit
Übersetzerstimme)
Die Frage
der Schönheit berührt mich in der Tat fast ebenso wie das Problem der Wahrheit.
An einer bestimmten Stelle sage ich tatsächlich in meinem Buch, das Anwachsen
der Häßlichkeit sei für mich ein wichtiges Zivilisationsproblem. Daher bin ich
der Frage der schönen Wissenschaft, ... und der Interessen, die in der Epoche
der deutschen Romantik zutage kamen, ziemlich nahe. Der einzige Unterschied
ist, daß ich, statt mich dieser Frage theoretisch zu nähern und zu entscheiden
suche, was die Schönheit ist und wie man sie im Verhältnis zur Wahrheit
definieren kann, der französischen Tradition entsprechend versuche, in meiner
Arbeit an der Sprache, am Stil und an der Art des Schreibens eine aktive
Beziehung zur Schönheit herzustellen. ... Eine Aufgabe der Philosophie ... ist
es auch, eine neue Form von Schönheit zu erfinden. Daß wir eine neue Form von
Wahrheit erfinden werden, glaube ich nicht. Die Wissenschaft hat uns
Philosophen zur Zeit der Aufklärung die Wahrheit fast ganz weggenommen. Ich
glaube, daß wir so etwas wie den neuen Stil des 20. Jahrhunderts erfinden
müssen. Und das wäre eine weitere Aufgabe, die ich dem Philosophen zuweisen
würde: schöne Bücher zu schreiben.
Autor:
Schöne
Bücher schreiben zu wollen, klingt bei einem Philosophen dekadent. Als würde
er die Inhalte des Denkens verlorengeben und sich mit dem Glanz der Form, der
blendenden Hülle trösten und selbstbetrügen. Aber Stil meint bei Serres
nicht überflüssigen Zierat, sondern
artikuliert einen Protest gegen den autoritären und gewaltsamen Zug der
Wissenschaft, gegen ihre Einschränkung des Denkens auf Ordnung und Methode.
Das Wort methodos bedeutet griechisch „Weg, um etwas Bestimmtes zu
erreichen“. Die Methode stellt also ein
Vorgehen dar, das durch definierte Ziele oder Zwecke festgelegt ist. Nur zu
oft sind es jedoch Interessen der Macht, die diese Wege vorgezeichnet haben.
Dieser grundlegenden Allianz von Wissen und Macht, die zuerst Nietzsche, und
später Michel Foucault in seinen Analysen aufgedeckt hat, gilt Michel Serres’
Form der Kritik bis in den bewußt unmethodischen, literarisierenden Stil
hinein.
Vor einem
direkten öffentlich-politischen Engagement hat sich Michel Serres aber immer
zurückgehalten, so sehr fürchtete er eine ideologische Verstrickung oder
Vereinnahmung. Erst in Schriften der jüngsten Zeit ist der ethische Einsatz
seines Philosophierens deutlich hervorgetreten.
Klaus Englert, O-Ton:
Also man
kann sicher sagen, daß Serres in seinen späteren Jahren, d.h. seit Ende der
siebziger Jahre, seit den achtziger Jahren, immer mehr, die strenge Methode des
Formalismus verlassen hat, daß er gleichzeitig auch die für ihn notwendige
ethische Position eines Wissenschaftlers eingenommen hat, und dann
bespielsweise diejenige Position der Formalisten, Mathematiker kritisiert hat,
die nur auf dieser Position verblieben sind, d.h. er hat eine
ethisch-politische Position eingenommen, das kann man beispielsweise sagen in
dem vor einigen Jahren erschienen Buch „Der Naturvertrag“. In diesem Buch
versucht er darzustellen, daß es in der ganzen Geschichte unserer Zivilisation
ein Objekt, einen Leidtragenden gegeben hat, beispielsweise bei den Kriegen
zwischen den Völkern; und dieser Leidtragende war immer die Natur, bei den
Kriegen, bei den Verwüstungen war es immer so, daß die Natur der Leidtragende
gewesen ist, ohne daß die Menschen sich um die Verwüstungen der Natur gekümmert
haben. Es gab natürlich Revolutionen, es gab Veränderungen in der
Gesellschaft, aber diese Veränderungen bezogen sich immer nur auf mögliche
Neuverteilungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, es wurde ein sogenannter
Gesellschaftsvertrag abgeschlossen, es wurde aber nie ein Naturvertrag
abgeschlossen, und von daher kam die Natur nie in den Blickwinkel der
Menschen. Für Serres ist es nun notwendig, daß die Menschen einsehen, daß ihr
eigenes Überleben, daß ihr eigenes Auskommen abhängig ist vom Überleben der
Natur. Und solange sie diese Einsicht nicht haben, gelangen wir auch nicht zu
einem wirklichen Fortschritt in unserem Denken und in unserem Handeln.
Autor:
Serres’
ökologischem Manifest von 1990 ist sicherlich im großen und ganzen zuzustimmen,
es kommt aber für die Diskussion hierzulande zu spät. Wie der Darmstädter
Philosoph Gernot Böhme kritisch anmerkt, hält sich Serres noch in allgemeinem
Pathos auf, wo die Diskussion längst zu konkreteren Fragen fortgeschritten
ist: Probleme einer Bioethik etwa, oder die Aufnahme von Naturschutzgeboten ins
Grundgesetz. Oder auch die Diskussion über die Rechte der Tiere, die z.B. in
angelsächischen Ländern bis ins 19. Jahrhundert zurückdatiert.
Hier werden,
sichtbar an Serres, Ungleichzeitigkeiten der philosophischen Entwicklung in
Europa manifest. Denn umgekehrt kennt man in Deutschland nicht jene Art
Wissenschaftsgeschichte zu treiben und dabei eingefahrene Bahnen zu verlassen,
wie sie in Frankreich Tradition hat und von Serres so brillant weitergeführt
worden ist. Serres, der passionierte Segler, navigiert zwischen den
Disziplinen, entdeckt dabei neue Zugänge und versteckte Verbindungen, die niemand
vorausgeahnt hat. Philosophisches Denken kann, das zeigt Serres, auch spannend sein - eine Entdeckungsfahrt,
eine Abenteuerreise im Geiste. Auf die Frage, wen er für den größten
Philosophen halte, hat Michel Serres einmal geantwortet: „Das ist Christoph
Kolumbus“.