O-Ton: (Parole der Demonstrationen in Leipzig 1989)
Wir sind
das Volk, wir sind das Volk ...
Sprecherin:
Die friedliche Revolution von 1989 waren ein Triumph der
Demokratie. Nach dem Scheitern des
Sozialismus steht das Modell der westlichen Demokratie anscheinend ohne
Alternative da. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama hat die These
aufgestellt, daß mit der liberalen Demokratie die endgültige menschliche
Regierungsform gefunden und somit die Geschichte des Politischen an ihr Ende
gelangt sei.
Sprecher:
Doch die Euphorie von 1989 ist längst abgeklungen. Im Osten
und Südosten Europas hat sie der bitteren Einsicht in die Beschwerlichkeit des
neuen Weges Platz gemacht. Ethnische und religiöse Konflikte, die im
Kommunismus nicht wirklich beseitigt, sondern nur wie in einem Kühlschrank
eingefroren wurden, flackern vielerorts wieder auf. Im neuen nationalistischen
Gewand fachen ehemals kommunistische Diktatoren unverarbeitete Haßgefühle an,
um ihre eigene Herrschaft fortzusetzen. Die Menschen sind aufgrund der sozialen
Härten des Umbruchs besonders anfällig für eine Demagogie, die ihnen wohlfeile
Sündenböcke liefert.
Sprecherin:
Im Westen hat man die Wende 1989 als großen Sieg der
demokratischen Sache gefeiert. Viele haben dabei gehofft, daß jene Kraft, mit
der die Völker im Osten ihre Zwangsregime abgeschüttelt haben, auch ein
Erneuerungsimpuls für die Demokratie im Westen sein könnte. Denn in der
gesellschaftlichen Wirklichkeit des westlichen Modells mehren sich Symptome
einer inneren Erosion: Politikverdrossene Bürger, machtversessene Parteien,
Bürokratenstaat - so lauten Stichwörter der Krise. Die hohe Arbeitslosigkeit
und das härter gewordene soziale Klima der 90er Jahre haben die Schwächen der
westlichen liberalen Demokratien noch deutlicher hervortreten lassen: es
mangelt an Solidarität und öffentlichem Engagement, an Identifikation mit dem
Gemeinwesen.
Sprecher:
Demokratie erfordert mehr als die Abgabe von Steuern und die
Inanspruchnahme von Rechten. Demokratie beruht nicht allein auf der turnusmäßigen
Abhaltung von freien Wahlen, auf der Existenz eines Parlaments und einer
Mehrzahl von Parteien. Sie stützt sich ebensosehr auf vorpolitische
Institutionen und auf engagierte Individuen. Eine politische Demokratie braucht
eine demokratische Gesellschaft.
Sprecherin:
In den Ländern des ehemaligen Ostblocks gilt es seit 1989
eine solche demokratische Gesellschaft wieder aufzubauen oder überhaupt erst
zu entwickeln; im Westen hingegen, sie zu verändern und zu erneuern.
Zwei total verschiedene Ausgangssituationen liegen vor, aber
eine gemeinsame Wegrichtung. Erstmals gibt es in der Politischen Philosophie
ein wirklich gemeinsames Nachdenken und Diskutieren zwischen Ost und West über
Wesen und Form der Demokratie.
Die gegenwärtige Diskussion hat - neben dem Streit um den
Kommunitarismus - einen zweiten Brennpunkt: das Konzept der civil society oder
Zivilgesellschaft. Willi Oelmüller, Professor an der Ruhr-Universität in
Bochum, erläutert, was man sich darunter vorstellt.
O-Ton, Willi Oelmüller:
All diese verschiedenen Bewegungen von der Zivilgesellschaft
haben in der Tat eins gemeinsam ... nämlich die Polemik, die Kritik, das
Gegenmodell zum Großen Bruder, sei das nun der totalitäre sozialistische Staat
wie in Polen, sei das der total verwaltete Staat, der Superstaat hier im
Westen, jetzt in Europa, - da ist bei allen Zivilbewegungen .. es so, daß
gesagt wird: Nicht auf den großen Bruder Staat warten, sondern da, wo es
möglich ist, in der Nachbarschaft, durch Selbstbeteiligung, durch Bürgerinitiativen
in den Städten, durch gewaltlose Streiks das machen zu können, was Menschen
machen können, und sie können sehr viel machen.
Sprecher:
Civil Society enthält die Vorstellung eines mündigen aktiven
Bürgers, der nicht nur seine Einzelinteressen vertritt, sondern der sich auch
für Belange des Gemeinwesens engagiert und im Verein mit anderen
Selbstbestimmung üben, sozusagen 'Demokratie vor Ort' praktizieren möchte.
Sprecherin:
Ursprünglich war das Konzept allerdings noch nicht mit
solchen basisdemokratischen Ideen aufgeladen.
Den Begriff der Zivilgesellschaft hatten Ende der 70er Jahre
polnische Dissidenten in die Diskussion gebracht. Civil Society bezeichnete
damals eine Oppositionsstrategie gegen den kommunistischen Machtapparat, die
auf folgenden Hintergrundüberlegungen basierte: Der Staat und damit die
politische Macht war auf unabsehbare Zeit in den Händen der Kommunisten und es
bestand so gut wie keine Aussicht, ihnen diese Macht zu entwinden. Die Menschen
waren außerdem völlig isoliert, über Familie, Nachbarschaft und engste Freunde
hinaus gab es - wenn man von der Kirche einmal absah - so gut wie keine
sozialen Verbindungen, keinen öffentlichen Raum, der nicht dem
Gesinnungsmonopol der Partei unterworfen war.
Sprecher:
Civil Society nun meinte, daß die Bürger, gleichsam am
übermächtigen Staatsapparat vorbei, ihr gesellschaftliches Netz wieder knüpfen,
unabhängige Vereinigungen aller Art gründen, in denen sie ihren
Einzelinteressen, aber auch den gemeinsamen nachgehen können. Auf diesem Hintergrund
entstanden Selbstverlage, Privattheater und Bildungsinitiativen,
Menschenrechtsorganisationen, ökologische Gruppen und Bürgerkomitees.
Sprecherin:
Man kämpfte auf diese Weise, schrieb der polnische
Politologe Aleksandar Smolar, für "eine Wiederbelebung der Wüste, die der
Totalitarismus zwischen dem Einzelnen und dem Staat hatte entstehen
lassen". Das Konzept der Zivilgesellschaft lieferte in diesem Kampf die
theoretische Ergänzung zum politisch-praktischen Modell, zur Solidarnosc,
meint Ernst Vollrath, emeritierter Professor für Politische Philosophie.
O-Ton, Ernst Vollrath:
In den osteuropäischen Gesellschaften trat der Staat als
administrativer Machtapparat der Gesellschaft, die sich von ihm zu befreien
versuchte, antagonistisch entgegen. Und hier hat man allerdings diesen
Gegensatz in absoluter Weise. Und das Konzept der Zivilgesellschaft oder der
civil society hat in den osteuropäischen oder ostmitteleuropäischen
Gesellschaften mit dazu beigetragen diese abstrakte Staatlichkeit zu erschüttern.
Aber jetzt sind diese Gesellschaften damit konfrontiert so etwas ähnliches wie
einen Apparat, einen demokratisch kontrollierten Apparat wiederaufzubauen, und
der Historiker dieses Vorgangs Timothy Garton Ash hat darauf hingewiesen, daß
das ebenfalls nur geht, unter dem gleichzeitigen Aufbau einer
Marktgesellschaft, einer sozialen Marktgesellschaft.
Sprecher:
Es geht also darum, daß in den osteuropäischen Ländern sich
dieses soziale Geflecht wieder bildet, das man Zivilgesellschaft nennt und von
dem kanadischen Philosophen Charles Taylor folgendermaßen definiert wird:
Zivilgesellschaft ist "ein Netz selbständiger vom Staat unabhängiger
Vereinigungen, die die Bürger in gemeinsam interessierenden Dingen miteinander
verbinden."
Sprecherin:
Hier wird der Einwand laut, im Westen zumindest gebe es das
alles schon.
Worin liegt also der Wert des Beitrags, wenn man auf die
Probleme der Demokratie hierzulande schaut?
Sprecher:
Im Konzept der Civil Society steckt neben dem deskriptiven
Kern ein normatives Potential, das den Begriff Bürger wieder aufwertet. Aus
diesem Grund kann man civil society im Deutschen auch nicht mit
"bürgerlicher Gesellschaft" übersetzen und hat den neuen Terminus
Zivilgesellschaft geprägt. Bürgerliche Gesellschaft nämlich ist seit Marx
negativ besetzt, meint eine Gesellschaftsformation, die Klassencharakter hat,
in der die Bürger auf Kosten anderer, insbesondere der ausgebeuteten Arbeiterklasse
herrschen.
Musikausschnitt:
Die Internationale
Sprecherin:
Bei Marx war also der Bürger wesentlich Besitzbürger,
Bourgeois. Marx erkannte zwar neben dem Bourgeois auch den Bürger als politisch
handelndes Subjekt, aber er sah diesen mündigen Staats- im Besitzbürger, den
Citoyen im Bourgeois untergehen. Die civil society nun zielt auf den Citoyen,
der sich sozial und politisch engagiert, und für den zum Bürgersein auch ein
engagiertes Staatsbürgersein hinzugehört. Für den Bürgersein bedeutet, über
seine Eigeninteressen hinaus einen Gemeinsinn auszubilden.
Sprecher:
Ausgerechnet im ehemals sozialistischen Osteuropa, wo die
bürgerliche Gesellschaft überwunden und von einer freien klassenlosen
Gesellschaft abgelöst werden sollte, ausgerechnet dort erfolgte mit dem Konzept
der Zivilgesellschaft eine Rehabilitation und Neubewertung des Bürgerlichen.
Sprecherin:
Aus der ehedem unpolitischen Widerstandsstrategie ist
inzwischen ein demokratisches Gesellschaftskonzept geworden. Man hat die Einsicht
gewonnen, daß die Zivilgesellschaft keine Alternative zum Staat sein kann, sie
soll vielmehr ein Gegengewicht bilden, einen Kontrapunkt. Denn Gesellschaft und
Staat bedingen einander, sie müssen in ein Spannungsverhältnis treten, damit
sich eine lebendige Demokratie ausbildet.
Sprecher:
Im zivilgesellschaftlichen Verständnis steckt deshalb auch
Kritik an einer Tradition, die alles Politische mit dem Staat identifiziert.
Das gilt besonders für die deutsche Geschichte, wo im guten wie im schlechten
die Verantwortung dem Staat zugeschoben wird. In diesem Zusammenhang, so Ernst
Vollrath, emeritierter Professor für politische Philosophie, müsse man auch die
Schattenseiten des Sozialstaat-Konzeptes bedenken.
O-Ton, Ernst Vollrath:
Der Sozialstaat war eine
Angelegenheit des Staates zunächst einmal. Und man braucht ja nur daran zu
erinnern, daß Bismarck die erste Sozialgesetzgebung in Deutschland durchgeführt
hat. Das entspricht einer alten, vielleicht nicht guten Tradition - immerhin
hat sie große Erfolge gehabt, das muß man zugeben - nämlich vom Staat alles
erwarten, und dafür dem Staat einen Rang zu erteilen, der auch nicht
ungefährlich ist. Also eine Entleerung des politischen Raumes von der aktiven
Beteiligung, und ein Überlassen natürlich an die Mächte, die sich dieses
Raumes bedienen, um auch ihre Interessen auszufüllen, zu verwirklichen. Das ist
eine sehr starke Tradition in Deutschland, der Staat, die Konzentrierung des
Politischen auf den Staat. Aber sie hat natürlich verschiedene Formen, und
heute tritt sie vielfach in der Gestalt des Parteienstaates auf, d.h. die
Parteien haben sich mit dem Staat weitgehend identisch gesetzt, ... ich
erinnere mich gern an ein Wort von Thomas Jefferson: "Die Repräsentanten
des Volkes tun manchmal so, also ob sie das Volk selbst wären."
Sprecherin:
Den Staat dachte man sich - vor allem in der deutschen
Tradition - als große neutrale Gestalt, als Treuhänder des Allgemeinen, der
über den divergierenden Einzelinteressen steht. Zunehmend gerieren sich auch
die Parteien dergestalt und geben vor, mit ihrer Proporz-Politik den
Gemeinwillen so perfekt und ausgewogen zu verkörpern, daß man das Volk selber
nicht mehr zu fragen braucht.
Sprecher:
Das Konzept der Zivilgesellschaft widerspricht solchen
Vorstellungen von einem einheitlichen Garanten des Gemeinwohls und setzt statt dessen auf pluralistische Strukturen
der Willensbildung, vertraut darauf, daß sich das Gemeinwohl am ehesten im
Kräftespiel des demokratischen Prozesses artikuliert. So plädiert der amerikanische
Sozialwissenschaftler Michael Walzer im Sinne der Zivilgesellschaft für eine
Stärkung der klassischen Öffentlichkeit, für größere Mitwirkung von
Basisorganisationen und sozialen Bewegungen. Er fordert überhaupt eine
Dezentralisierung von Entscheidungen und die politische Beteiligung der
Betroffenen. Die Vorschläge sind nicht neu. Sie gehören in den Umkreis dessen,
was man partizipatorische Demokratie nennt. In Deutschland hat vor allem die
Studentenbewegung die autoritäre staatsfixierte Tradition aufgebrochen und
Ideen einer direkten Demokratie verlebendigt, allerdings auch mit radikalen anarchistischen
Inhalten aufgeladen.
Musikausschnitt:
Rock-Gruppe Ton, Steine, Scherben mit
dem Lied Keine Macht für Niemand
Sprecherin:
Die Idee der partizipatorischen Demokratie stammt aus der
republikanischen Denktradition, einem Bürgerhumanismus, für den Demokratie
bedeutet, daß Menschen sich selbst regieren und jeder Bürger an der
kommunikativen Macht der Gemeinschaft teilhat.
Die Zivilgesellschaft gibt sich allerdings nicht mehr dem
republikanischen Traum hin, den auch die Studentenbewegung hegte, eine
Identität von Regierenden und Regierten herstellen zu können, sie betrachtet
Formen der Partizipation als ein Moment,
neben dem die Strukturen der repräsentativen Demokratie bestehen bleiben.
Sprecher:
Die Idee der Zivilgesellschaft enthält ein offenes Konzept,
man muß es deshalb konkret auf die politische Kultur und Geschichte eines
Landes beziehen, meint Ernst Vollrath, der längere Zeit in den Vereinigten
Staaten gelebt und gelehrt hat.
O-Ton, Ernst Vollrath:
Ich bin der Meinung, daß man das Konzept der
Zivilgesellschaft dazu benutzen kann oder dazu verwenden kann, das Konzept
einer abstrakten Staatsgesellschaft zu modifizieren, im Hinblick auf stärkere
Bürgerbeteiligung, und was es da so alles geben mag.
Aber eine reine Zivilgesellschaft hätte für mich ebenfalls
Bedenken, ich verweise dann etwa auf die Vorfälle, die wir in Amerika, in den
USA haben, in denen eine Jury Polizisten freispricht, die einen schwarzen
Mitbürger verprügelt haben. Das Konzept solcher Geschworenengerichte gehört natürlich
eher zur Zivilgesellschaft als das Konzept von Gerichten, die wie in
Deutschland staatlich, also vom Rechtsstaat organisiert werden. Auch hier plädiere
ich eher für eine Mischung.
Sprecherin:
Die Zivilgesellschaft nicht als Alternative, aber als
Gegengewicht zum Staat, und ein besser ausbalanciertes Verhältnis von staatlichen
Institutionen und direktem Bürgervotum - das scheint möglich. Viel wird davon
abhängen, wie sehr es gelingt, Strukturen einer kritischen Öffentlichkeit in
der Informationsflut des Medienzeitalters zu erhalten oder sogar auszubauen.
Denn die Öffentlichkeit, das Forum, bildete einen klassischen Ort der Emanzipation
des Bürgertums, an dem es geistige Unabhängigkeit errang von überkommenen
Autoritäten und unausgewiesenen Machtansprüchen.
Sprecher:
Doch noch entscheidender und nachhaltiger als auf dem Forum
gelang diese Unabhängigkeit auf dem Markt, d.h. in der Ökonomie.
Der Aufstieg des neuzeitlichen Individuums, wie ihn die
Philosophie seit Descartes begriffen hat, konkretisierte sich vor allem im
wirtschaftlichen Erfolg des Bürgers, der selbstbewußt und gleichermaßen
selbständig seinen Geschäften nachging. Der Unternehmer figuriert bis heute als
bürgerliche Leitgestalt, ja er erscheint als Inbegriff des unabhängig denkenden
und souverän handelnden Menschen.
Sprecherin:
Aber gerade im Wirtschaftlichen kommt den neu geforderten
Idealen von Solidarität und Bürgersinn nicht nur kein Platz zu, sie gelten
sogar als kontraproduktiv. "Die Unternehmer", kritisiert Michael
Walzer , "brauchen den Staat, aber sie haben ihm gegenüber keinerlei
Solidaritätsempfindungen.... sie verlegen ihre Fabriken nach Übersee, um
Sicherheitsbestimmungen oder gesetzlich festgelegte Mindestlöhne zu umgehen."
Sprecher:
Die Vordenker der Zivilgesellschaft haben das Verhältnis zur
Wirtschaft ungenügend reflektiert. Man bejaht die bestehenden
marktwirtschaftlichen Strukturen, ohne jedoch deren Konsequenzen aufzuarbeiten.
Um diesen blinden Fleck herum finden sich nur Behauptungen oder Beschwörungen
wie die folgende: Der Einzelne könne, wenn er in seinem Alltag von der
ökonomischen auf die politische Ebene wechsle, gleichzeitig von einem
Konkurrenzverhalten auf eine Gemeinwohlorientierung umschalten.
Sprecherin:
Aber diese Annahme bleibt hilflos und rein appellativ. Die
civil society enthält deshalb keine Antwort auf die herrschende economic
society, kein Rezept gegen den überlastigen Ökonomismus der westlichen
liberalen Demokratie.
Sprecher:
Heute glauben manche, man könne den Mangel an Solidarität
in dieser economic society zwar nicht durch demokratische Ideale, wohl aber
durch nationale Werte und Zusammengehörigkeitsgefühle beheben. Der
Identifikation mit den liberalen Regeln der Demokratie jedenfalls eigne zu
wenig Substanz, um daraus ein festes soziales Band zwischen den Menschen zu
flechten.
Sprecherin:
In welchem Verhältnis soll die Zivilgesellschaft zur Nation
und zur nationalen Identität stehen? -
Der Bochumer Philosoph Willi Oelmüller hält es mit dem kosmopolitischen Geist
der Aufklärung und kritisiert die wiedererstarkten nationalen Tendenzen.
O-Ton, Willi Oelmüller:
Ich würde ... warnen davor jetzt neue nationale Identitäten,
oder wie das ... in den Pressemedien diskutiert wurde, nationale unbewußte
kollektive Gefühle der Deutschen zu mobilisieren - all das, all diese alten und
neuen Nationalismen lösen mit Sicherheit keins der Probleme, sondern
verschärfen sie nur.
Deswegen bin ich etwas skeptisch, wenn man bei der jetzigen
Diskussion um eine Erneuerung und Erweiterung der Grundrechte den Begriff
Anerkennung von nationalen und kulturellen Identitäten so forciert, ... - ich
weiß von einer Diskussion mit muslimischen Schülern, wo diese gesagt haben, wir
können hier freier 'ich' sagen, als wir das zu Hause können, ... also nicht ein kritikloses Plädoyer für mehr
Anerkennung von religiösen und kulturellen Identitäten, das führt nicht
notwendig dazu, daß die elementaren Voraussetzungen parlamentarischer
demokratischer Rechtsstaaten gesichert werden. Und die dürfen wir nicht auf
der neuen Welle der Suche nach Identitäten, auch nationalen Identitäten bei
uns leichtfertig verspielen lassen.
Sprecher:
Eine Zivilgesellschaft rückt nicht die Ideale des
Vaterlandes, sondern die Werte der
Demokratie ins Zentrum, nicht den Nationalstaat, sondern die Verfassung. Sie
würde eher den Stolz nähren, einem demokratischen Gemeinwesen anzugehören als
einer bestimmten Nation.
Sprecherin:
Kein Mensch jedoch könnte allein einen solchen
Verfassungspatriotismus leben, ohne daneben nicht ebenso auch Gefühle
ethnischer, nationaler oder kultureller Zugehörigkeit zu hegen. Insofern käme
es darauf, nationale Gefühle, kulturelle Besonderheiten nicht außen vor zu
lassen, sondern sie in die Zivilgesellschaft hineinzunehmen und dort zu
relativieren.
Musikausschnitt:
Musiktitel der CD Aziza-A: Es ist Zeit
Sprecher:
Die Zivilgesellschaft wäre ein Rahmen, die nationale
Identität anzuerkennen, ohne sich einer Vorstellung von Nation wie im 19.
Jahrhundert zu verschreiben. Denn Nationalität und erst recht Staatsangehörigkeit
sind keine ewigen Blutsbande und unvordenklichen Bindungen, die man blind zu
akzeptieren hat. Seine Eltern kann sich zwar niemand aussuchen, insofern ist
die ethnische Herkunft auch nicht abwählbar, aber einer Nation anzugehören ist
kein Naturzustand, sondern eine Form von Zugehörigkeit, die historisch-gesellschaftlich
bestimmt ist und verschieden gelebt werden kann.
Sprecherin:
Das Problem des neuentflammten Nationalismus, auf dessen
Klaviatur neue und alte Diktatoren spielen, ist, wie das Beispiel des
ehemaligen Jugoslawiens vor Augen führt, eine der größten Bedrohungen für ein
friedliches Zusammenleben der Menschen. Die Zivilgesellschaft könnte ein
pluralistischer Rahmen sein, der Toleranz und ein aufgeklärtes Verständnis von
Nation gewährleistet, wo Minderheit nicht Minderwertigkeit bedeutet. Es wäre
der Name für eine offene Gesellschaft, die fremde Kulturen und Konfessionen
integrieren und das Nichtintegrierbare vielleicht in einem hohen Maße
akzeptieren und aushalten könnte.
Sprecher:
Es gibt allerdings auch skeptische Stimmen wie diejenige
Willi Oelmüllers, die das Konzept der Zivilgesellschaft angesichts der heutigen
Probleme nicht für tragfähig halten:
O-Ton, Willi Oelmüller:
Wenn wir uns die gegenwärtigen Herausforderungen, unter
denen wir leben müssen, vergegenwärtigen, Umweltprobleme, Flüchtlingsprobleme,
Wanderungsprobleme, Asylprobleme, ... wenn ich mir von da aus die
Leistungsfähigkeit und die Grenzen der verschiedenen Zivilmodelle anschaue,
und sehe was sie in Polen, Amerika, und Deutschland geleistet haben, so bejahe
und unterstütze ich den Appell an Zivilcourage, konkrete Entscheidungen, Mut,
das zu tun, was man tun kann, ... aber gleichzeitig sehe ich die Grenzen, ...
angesichts der gegenwärtigen weltweiten Herausforderungen ... können wir nicht
die Illusion haben, daß durch solche regionale, lokale Aktivitäten, Streiks,
Friedensbewegungen und was immer alles mit diesem Begriff umfaßt wird, unsere
realen Lebens- und Überlebensprobleme gelöst werden.
Sprecherin:
In diesem Urteil wird allerdings Zivilgesellschaft insgesamt
mit Basisdemokratie gleichgesetzt. Das ist sie jedoch nicht.
Die unterschiedlichen Interpretationen verdeutlichen aber
auch, daß es sich bei dem Konzept Zivilgesellschaft nicht um ein fest definiertes
fertiges Modell handelt, sondern um einen theoretischen Rahmen, bei dessen
Ausfüllung verschiedene Theoretiker unterschiedliche Akzente setzen: mehr
liberale die einen, mehr sozial- oder basisdemokratische die anderen.
Sprecher:
Immer jedoch trifft man auf ein gemischtes System.
Denn es handelt es sich um den Versuch, den klassischen
Liberalismus mit der Tradition des Republikanismus zu kreuzen. Aus dem Liberalismus
hat man als unverzichtbare Elemente die Freiheitsrechte des Einzelnen sowie die
Autonomie der Handlungsräume Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, d.h. einen
allgemeinen Pluralismus entlehnt.
Sprecherin:
Aber dem allzu eigennützigen Besitzbürger, dem Bourgeois,
möchte man, - als Ausgleich gewissermaßen - aus der republikanischen Tradition
das Ideal des Staatsbürgers, des Citoyen, aufpfropfen, für den Freiheit vor allem
politische Mitbestimmung bedeutet und der Bürgersinn und Gemeinwohlorientierung
mitbringt.
Sprecher:
Das Konstrukt Zivilgesellschaft offenbart Bescheidung gleichermaßen
wie Wunschdenken, vor allem aber das Bedürfnis, eine Antwort auf die Welt nach
1989 zu finden. Denn nach dem endgültigen Scheitern des Sozialismus ist auch
dessen utopisches Versprechen auf Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft
hinfällig geworden. Die Zivilgesellschaft nun ist der Versuch, das Bürgerliche
neu zu bewerten und seine besten Anteile für eine demokratische Gesellschaft zusammenzuführen.
Sprecherin:
Ist das nur ein restaurativer Traum oder ein wirklicher Weg
in die Zukunft? - Ob es sich lediglich um eine Beschwörung handelt oder um eine
tatsächliche Perspektive, das scheint weniger ein theoretisches als ein
praktisches Problem, denn es enthält die Frage nach einer verwirklichten, d.h.
gelebten Demokratie.