Zitator:
Das Attentat
auf das World Trade Center ist der erste schwere Bombenanschlag seit dem Ende
des Kalten Krieges. ... Der charakteristische Gesichtspunkt dieses Anschlags
besteht tatsächlich darin, dass er ausschließlich das Ziel verfolgt, das Gebäude
des World Trade Center zu zerstören, mit anderen Worten, den Tod Tausender
unschuldiger Menschen zu verursachen. .... Es handelt sich ... um ein
strategisches Ereignis, das der ganzen Welt die Veränderung der militärischen
Ordnung zum Ende unseres Jahrhunderts vor Augen führt.
Autor:
Bei
flüchtigem Hinhören meint man, die Worte gelten dem 11. September 2001. In
Wahrheit kommentieren sie aber das frühere Sprengstoffattentat, das 1993 auf
das World Trade Center verübt wurde. Und im selben Jahr schrieb der
französische Urbanist und Philosoph Paul Virilio jene hellsichtigen Sätze.
Virilio gehört zu den wenigen Denkern, die schon damals ein intellektuelles
Gespür für die neue Dimension des Terrorismus bewiesen. Und heute, wo viele
noch wie gelähmt vom Schock des 11. September sind, versucht er im Interview
das Geschehene zu analysieren.
O-Ton, Paul Virilio:
(frz.
Original, dt. Overvoice, ebenso die nachfolgenden O-Töne von ihm)
Die
Attentate von New York und Washington sind tatsächlich ein entscheidendes historisches
Ereignis, dessen Auswirkungen vor allem im Militärischen überhaupt nicht klar
sind. Ich habe es bereits gesagt, die Epoche des nuklearen Gleichgewichts ist
beendet, wenn man es wagt, einen Terrorakt auszuführen, der 7000 Tote
verursacht, - hätten die beiden Türme nicht eine Zeitlang standgehalten, in
Wirklichkeit über 40.000 Tote hätte zählen können, -dann ist die Schwelle der
nuklearen Abschreckung überschritten und wir treten in die Phase des
Großterrorismus. ... wir stehen vor einem entscheidenden Ereignis, das die
meisten ganz falsch sehen. Man erzählt uns vom Islam, vom amerikanischen
Imperialismus, man greift auf die alten Theorien zurück, ohne zu sehen, dass es
sich bei diesem Akt um ein historisches Ereignis handelt.
... zum
ersten Mal stehen wir vor einem akzidentellen Krieg, während die Kriege bis
jetzt, um mit Clausewitz zu sprechen, substantieller Natur waren, ... da gibt
es Regeln und Gesetze, auch wenn diese Gesetze grausam und blutig sind, es gibt
eine Struktur, eine Form.
Katastrophengeräusche
(nach Möglichkeit vom 11. Sept.)
Autor:
Am 11.
September starrt die ganze Welt auf einen grauenvollen Krieg ohne
Kriegserklärung, einen Krieg ohne sichtbaren Feind, und ohne dass sich jemand
zu den Attentaten bekannt hätte, auch Osama Bin Laden nicht. Virilio nennt den
neuartigen terroristischen Krieg akzidentiell, wobei er auf den Doppelsinn von
accident abhebt. Accident bedeutet im Französischen sowohl Zufall
als auch Unfall. Virilio verneint damit keineswegs die Schuldfrage, er
will vielmehr verdeutlichen, dass die Vernichtung vollkommen unerwartet über
die Opfer hereinbricht gleichsam wie eine technische oder Naturkatastrophe.
Virilio ist
ein eigenwilliger Kopf, der in zahlreichen Veröffentlichungen die
Verflechtungen von Militär, Technik und Medien aufgearbeitet hat. Erstes
Aufsehen erweckte er 1977 mit dem Buch Geschwindigkeit und Politik.
O-Ton, Paul Virilio:
Zum Wesen
der Kriegsintelligenz gehört es, große Geschwindigkeiten zu produzieren und
einzusetzen, die der Wurfwaffen, dann die der Artillerie, und heute schließlich
die der Missiles und des Laser. Mein Hauptansatzpunkt ist immer der Krieg
gewesen. Ich bin ein Kind des Krieges, er hat mich traumatisiert. Der Krieg ist
mein Vater und meine Mutter, meine Universität. Das habe ich nirgends anders
gefunden, weder bei Marx noch bei Descartes. Meine Erkenntnisse stammen in
erster Linie aus der Erfahrung des Krieges, aber auch aus der Erfahrung des
Kriegszustandes der Abschreckung, der die gegenwärtige Situation lange Zeit
bestimmte.
Autor:
Paul Virilio wurde 1932 in Paris geboren. Krieg und Faschismus bestimmten seine
Jugendzeit. 1941 entging seine Familie nur knapp der Verhaftung durch die
Gestapo - übrigens aufgrund der verwinkelten Architektur des Wohnhauses. Der
Krieg hat Virilio geprägt, hat ihn theoretisch motiviert, die kriegerischen
Momente in unserer modernen Zivilisation aufzuspüren und zu entlarven.
Seine Generalthese lautet: Geschwindigkeit ist
Gewalt.
Virilio verweist zum Beispiel auf die
entscheidende Rolle des Pferdes bei der Eroberung der Azteken-Kultur durch die
Spanier. Ihr Geschwindigkeitsvorsprung hatte die Vernichtung einer
Zivilisation durch ein paar Dutzend Berittene zur Folge. Der Schnellere ist der
Eroberer. In dieser Logik steht es für ihn auch, wenn die Terroristen sich des
schnellsten Verkehrsmittels, des Flugzeugs, bemächtigen.
Das Thema Geschwindigkeit bildet den Brennpunkt
der Arbeiten Virilios, er hat dafür einen neuen Begriff geprägt:
O-Ton, Paul Virilio:
Das Wort
Dromologie habe ich mit einem gewissen Vergnügen für eine Wissenschaft der
Geschwindigkeit, und das Wort Dromoskopie für eine Wissenschaft der visuellen
Wahrnehmung erfunden, d.h. sie könnte zu einer Wissenschaft in der Art werden,
wie man Häuser konstruiert, die auch wieder zusammenfallen, sie hat etwas von
einer Theoriefiktion, von einer Science fiction im strengen Wortsinn. Die
Dromologie ist transhistorisch. Man kann sie auf verschiedene Epochen anwenden
und auch auf das Tierreich. Die Meute, die Hetzjagd sind wesentliche Elemente
in der Entwicklung von Gesellschaften. Die Schnelligkeit des Angriffs ist
bereits das Kernstück der Tiergesellschaften. Vermittelt über die Antriebskraft
gehört sie auch zum Wesen der menschlichen Gesellschaft, also etwa die
Stoßkraft des Steines, der geschleudert wird; die Stoßkraft der Hand, die
streicheln kann, aber auch durch Masse und Geschwindigkeit, zu einem Instrument
der Grausamkeit und Zerstörung wird.
Autor:
Virilio
behauptet, seine Theorie der Geschwindigkeit gelte für alle Epochen, Das stößt
vielfach auf Skepsis, aber für eine
Diagnose der Moderne erweist sich sein Konzept als fruchtbar.
Musik:
Steve Reich, Different Trains, 1. Teil: America - Before the war
(im folgenden unterlegen und
als kurze Intermezzi hochziehen)
Die
Gegenwart präsentiert sich als Kultur der Beschleunigung in allen Bereichen:
Güter, Informationen, und nicht zuletzt die Menschen selber werden in einem
vorher nicht gekannten Tempo durch Raum und Zeit katapultiert, das jedes
menschliche Maß gesprengt hat.
Musik
Autor:
Dabei wird
das Tempo der Transportmittel nur noch übertroffen von demjenigen der
Informations- und Kommunikationsmedien: Rundfunk, Fernsehen, Telefon, Computer
und Internet übermitteln Nachrichten und Bilder über jede Entfernung hinweg
buchstäblich im Nu, in Echtzeit, wie es im Computerneudeutsch heißt.
Musik:
Autor:
Eine
Entwicklung - so Virilio - die im 19. Jahrhundert mit Eisenbahn und Telegrafie
die Überwindung des Raumes in Angriff nahm, ist im 20. Jahrhundert mit der
Eroberung der Zeit fortgesetzt worden. Zu Beginn des neuen Jahrtausends gleicht
die Erde einem Raumschiff, das eine neue Triebstufe gezündet und seine
Umlaufbahn verlassen hat.
Musik:
Autor:
Während die technischen Verkehrsmittel immer
schneller werden, wird der menschliche Körper immer passiver und unbeweglicher:
Passagier ist nur eine beschönigende Vokabel für jenes menschliche Paket, in
welches sich das Subjekt verwandelt hat. Virilio schildert seine Verluste:
Zunächst muß der Insasse des Autos oder der Flugpassagier seinen Körper still
stellen und die eigenen Fortbewegungsmöglichkeiten zugunsten der Maschine
opfern. In diesem ganzen Ensemble von Stoßdämpfern und Abfederungen, Polstern
und Gurten werde – so Virilio - das menschliche Subjekt wie ein mumifizierter
Leichnam durch die Welt befördert.
Damit schlägt der Prozess der Beschleunigung in
sein Gegenteil um, inmitten des Hochgeschwindigkeitstempos kommt die Bewegung
zum Erliegen, und die menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten verkümmern, wie der
Essener Medientheoretiker
und Philosoph Norbert Bolz erläutert:
O-Ton,
Norbert Bolz:
Ganz sicher hat
Fliegen heute nichts mehr mit dem Traum vom Fliegen zu tun, ganz gewiß hat auch
Autofahren nichts mehr mit dem Erfahren von Landschaft, von Gegenden, von
Städten, von Ländern zu tun, sondern es ist schon so, wie Virilio sagt, auch
der Autofahrer sitzt hinter seiner Windschutzscheibe wie hinter einem
Bildschirm. Die Erfahrung, die man von Landschaft macht, ist kaum mehr zu
unterscheiden von der Erfahrung, die man auf den Bildschirmen der Massenmedien
macht. ... Desgleichen natürlich das Fliegen, das ja heutzutage in diesen
großen, man müßte schon sagen: Transportmaschinen für Menschen gar nicht mehr
die Erfahrung des Fliegens aufkommen läßt. Man hält sich ja sehr viel länger in
den Wandelhallen der Flughäfen auf, als in den Flugzeugen selbst, die Flugzeit
selbst wird immer kürzer, die Wartezeit wird immer länger. ... Das Warten auf
ein verspätetes Flugzeug, das Stehen im Stau auf der Autobahn: das sind die
eigentlichen Erfahrungen, die man noch macht. Also gerade nicht die Erfahrung
des Reisens, sondern chaotische Aufschaukelungen eines unübersehbar werdenden
Verkehrs.
Autor:
Auf der
Jagd nach der Erzielung immer höherer Geschwindigkeit erscheint der Körper der
Erde selber nur noch ein Hindernis darzustellen, das überwunden oder gar
beseitigt werden muß. Das ideale Verkehrsmittel wäre ein Tunnel, eine Vakuumröhre,
durch die die Menschen nach Art der Rohrpost hindurchgeschossen würden.
"Die Geschwindigkeit", schreibt Virilio,
"ist die Fortsetzung der Jagd, der Mobilmachung und der Vernichtung."
Autoverkehrslärm (Autobahn,
laut, hektisch)
Moderne Geschwindigkeit mit archaischer Jagd und
mit Krieg dergestalt gleichzusetzen, wie Virilio es tut, erscheint auf den
ersten Blick als sehr gewagte Spekulation. Ist Virilio Opfer seines monomanischen Denkens, das - einer
Zwangsvorstellung gleich - in jedem Phänomen von Geschwindigkeit ein
zerstörerisches Prinzip am Werke sieht?
Doch in Anbetracht der vielen Verkehrstoten wirkt diese These keineswegs
abwegig. Und das Waldsterben ist ein weiterer trauriger Beleg: Die
hochgerüsteten Automotoren verheeren mit ihren giftigen Abgasen wie in einem
permanenten Feldzug die Natur. In seiner radikalen und provozierenden
Einseitigkeit schärft Virilio den Blick für die Opfer der Hypermobilität.
Autoverkehrslärm (Autobahn,
laut, hektisch)
Autor:
In den neunziger Jahren hat sich Virilio verstärkt
den Informationstechnologien und Kommunikationsmedien zugewandt. Auch hier legt
er kulturkritisch die Kehrseiten bloß. Vor allem im Golfkrieg 1991 sammelte er
Beweismaterial für die These, das ein Zeitalter der informationstechnologischen
Waffen begonnen habe.
In
hyperschnelle Kampflugzeuge beispielsweise baut man heute gar keine Fenster
ein, stattdessen Kameras als elektronische Augen. Die Piloten avisieren ihre
Objekte auf dem Monitor. So erfährt sich der Bomberpilot als Zuschauer seiner
eigenen Tat. Und die Opfer haben schließlich nicht mehr Wirklichkeit – bemerkt
Virilio - als Punkte in einem Videospiel.
In unserem Informationsbedürfnis begrüßen wir es,
dass die moderne Technik heute in der Lage ist, ferne Ereignisse live zu übertragen
und Nachrichten in "Echtzeit", d.h. nahezu ohne zeitliche Verzögerung
zu übermitteln in einer Welt, wo alle miteinander vernetzt sind.
Musik: Koyaanisquatsi (Philip
Glass), The Grid
(den folgenden Passagen
unterlegen und in kurzen Intermezzi hochziehen)
Autor:
Virilio indes hat die problematische Seite der
Geschwindigkeit der Informationsmedien aufgezeigt: Paradoxerweise funktioniert
ein Übermaß an Live-Berichterstattung wie eine Zensur. Denn die Bilder der
Ereignisse folgen so dicht aufeinander, der Zuschauer ist als Voyeur am heimischen
Bildschirm so sehr an den Fortgang der Fernsehereignisse gebunden, dass er
keine Zeit mehr zum Verarbeiten, zum Nachdenken und zur Kritik findet.
Musik
Zitator:
"Man muß die Zeit zurückerobern. ...
Information in Echtzeit ist keine wirkliche Information, sondern eine Aktion -
wie eine Ohrfeige.
Autor:
Neils
Postman befürchtet, dass die Medien das Reflexionsniveau zersetzen und eine
Kultur befördern könnten, die einseitig auf Kurzweil und Zerstreuung
ausgerichtet sei. Wir amüsieren uns zu Tode - wie Titel und These eines seiner Bücher
lauten. Ebenso kulturapokalyptisch gestimmt, prophezeit Virilo einen Niedergang
des kulturellen Gedächtnisses:
Musik:
Zitator:
Wir haben in
einer Zeit gelebt, die die Zeit des Menschen und des Gedächtnisses war und die
ich als physiologisch bezeichnen würde oder als die der Bücher. Bücher stellen
ein langsames und verzögertes Gedächtnis dar, denn wenn man liest, geht man mit
den Geschehnissen nicht synchron. Die Welt beginnt aber, mit dem was geschieht,
synchron zu leben: Die Echtzeit stellt zugunsten des Reflexes und der
augenblicklichen Wahrnehmung die verzögerte Zeit des unmittelbaren Gedächtnisses
und auch das Denken in den Schatten. Wir leben 'live'.
Autor:
Am 11. September starren die Menschen weltweit
live auf die Schreckensbilder von New York und Washington: wieder und wieder
sieht man quer durch alle Fernsehkanäle die angreifenden Flugzeuge, die
brennenden, dann einstürzenden Türme. Doch die endlose Wiederholungsschleife
bannt den Betrachter und kettet ihn wie eine Geisel voyeuristisch an das
Massaker. Dergestalt geht ein Kalkül des Terrorismus auf, wie Virilio
erläutert:
O-Ton, Paul Virilio:
Die
Terroristen haben immer schon mit den Bildschirmen zu spielen gewußt. Sie haben
immer schon die Bomben sprechen und sehen lassen. Der schwarze September und
das Olympia-Attentat wurden direkt ausgestrahlt. Der Bildschirm ist das erste
und wichtigste Aktionsfeld des terroristischen Kriegs, seit dem Golfkrieg haben
alle Armeen das Fernsehen entdeckt. Sie haben begriffen dass man den Bildschirm
erobern muss, noch bevor man die Schlachtfelder erobert. ... Was in den USA
geschehen ist, weist auf ein weiteres Phänomen, nämlich auf die
Gleichzeitigkeit von Katastrophenfilmen und Terrorakten. Die ersten
Terrorangriffe sind synchron mit den ersten Hollywoodfilmen, die
Großkatastrophen zeigen, d.h. Die Kreuzfahrt der Poseidon, Flammendes
Inferno und Airport. Die ersten palästinensischen Terrorangriffe
gelten - wie seltsam - Linienflugzeugen: Hollywood hat das Spektakuläre und
Gewalttätige der Attentate ausgenutzt.
Autor:
Virilios
Thesen über die Verflechtung von Krieg und Kino – wie ein anderes seiner
Bücher heißt – bleiben umstritten. Der essayistische Stil seiner Schriften ist
äußerst sprunghaft, ja scheint bisweilen selbst vom Rausch jener Beschleunigung
erfasst, die er überall diagnostiziert. Doch in seinen assoziativen Sprüngen
motiviert Virilio den Leser, die Lücken durch kreatives Mitdenken auszufüllen.
Und im Gegensatz zu vielen seiner Gegner kennt er sich in der Geschichte der
Technik und der Medien hervorragend aus, obwohl er selbst, wie er immer
versichert, in seiner Wohnung weder Fax noch Fernseher duldet.