Mohammed Kaissa:
(engl. Original, dt. Übersetzungssprecher)
Wir haben
von fünf Uhr morgens bis elf Uhr abends durchgearbeitet, mit Knüpfmessern
mussten wir zehn verschiedenfarbige Wollfäden miteinander verweben. Der
Besitzer hat uns ständig mit seinem Stock geschlagen, ohne Rücksicht. Und wenn
wir uns über das Essen beschwert haben, es gab immer nur gesalzenen Reis, hat
er nur gesagt: ‚Ihr seid keine Könige, die sich das Essen aussuchen können.’
Sprecher:
Beileibe
kein König, sondern ein Arbeitssklave ist der 12jährige Mohammed Kaissa. Der
Junge wird in Nordindien von einem Teppichfabrikanten ausgebeutet, an den ihn
die bitterarmen Eltern verpfändeten. Zusammen mit 25 anderen Kindern schuftet
Mohammed Kaissa Tag für Tag in einer Teppichmanufaktur, deren Luft vom
Wollstaub verpestet ist. Nachts werden die Kinder auf der Dachterrasse
eingesperrt, damit sie nicht weggelaufen.
Sprecherin:
In
Leibeigenschaft geraten heutzutage nicht nur Menschen im fernen Indien, das
gibt es sogar in Europa. Isma, eine 34jährige Indonesierin, zum Beispiel, war
nach Paris gekommen, um als Hausangestellte bei einem Diplomaten der Unesco zu
arbeiten. Schon bei ihrer Ankunft am Flughafen hatte ihr der Hausherr, aus dem
Sultanat Oman, den Pass abgenommen.
Fortan musste sie, so erzählt Isma, für die fünfköpfige Familie putzen, bügeln,
kochen, und das 10 Stunden täglich, sieben Tage die Woche, für umgerechnet 400
DM im Monat.
O-Ton, Isma
(engl. Original, dt. Übersetzungssprecher)
Bei dem
Diplomaten aus dem Oman durften die Angestellten nicht aus dem Haus, Kontakte
zu anderen Menschen waren uns verboten. Als ich dann wegrannte, stand ich vor
einem Berg neuer Probleme, plötzlich ist man illegal im Lande. Denn diese
spezielle Arbeitserlaubnis für Hausangestellte in Diplomatenhaushalten gilt nur
für den einen Arbeitgeber, der außerdem noch den Pass an sich genommen hat. Der
Arbeitsvertrag gewährt zwar dem Arbeitgeber hundertprozentiges Recht, doch von
unseren Rechten als Hausangestellte steht dort nichts. Wir haben keine festen
Arbeitszeiten, selbst im Falle sexuellen Missbrauchs sind wir machtlos. Die
können mit uns machen, was sie wollen.
Sprecher:
Nach einem
Jahr gelang Isma die Flucht, allerdings nur mit Hilfe von Amnesty
International. Schlimmer noch als Hausangestellte, die ausgebeutet und
entrechtet werden, ergeht es Frauen und jungen Mädchen, die nach Europa
eingeschleust und in die Prostitution gezwungen werden. Seit den siebziger
Jahren kümmert sich die Ordensfrau Lea Ackermann um Opfer des Frauenhandels.
Sie schildert das Schicksal einer 16jährigen Russin. Das Mädchen hatte sich in
einen jungen Deutschen verliebt. Er versprach ihr Arbeit in der Bundesrepublik
und redete von späterer Heirat.
O-Ton: Lea Ackermann
Das war so
verlockend, dass sie Hals über Kopf die Heimat verlassen hat, und sie kam mit
ihm über die Grenze, und sie wurde direkt nach der Grenze in einem Bordell von
drei Männern eine ganze Nacht lang vergewaltigt. Das war so ein Schock für sie,
dass sie nur geweint hat und sich verweigert hat, und da wurde sie geschlagen,
bekam nichts zu essen, hat aber dann so viel Probleme gemacht, dass man sie
weiterverkauft hat, an das nächste Bordell.
Sprecherin:
Der jungen
Russin gelang auf dem Weg zum fünften Bordell die Flucht. Lea Ackermann
vermittelte ihr eine Schutzwohnung und die Teilnahme an einem Sprachkurs. Ihr
Schicksal ist kein Einzelfall.
O-Ton: Lea
Ackermann
Wir haben
Frauen, die wurden geschlagen, die bekamen Essensentzug, die wurden unterkühlt, in einem Fall hat man die Frau
sogar in einen Eisschrank gesperrt, wenn sie nicht mitgemacht haben. Vor allem
wird ihnen damit gedroht, dass sie sich an niemanden wenden können, weil auch
die Polizei hier korrupt wäre.
Sprecher:
Seit dem
Fall des Eisernen Vorhangs blüht der Menschenhandel mit Osteuropa. Und man
schätzt, dass weltweit das Geschäft mit Menschen noch lukrativer ist als das
mit Drogen oder mit Waffen.
Sprecherin:
Die
vorgestellten Schicksale künden beredt von den Schattenseiten der
Globalisierung: der 12jährige Mohammed Kaissa, ein Arbeitssklave in der indischen Teppichindustrie; die indonesische Hausangestellte Isma, die
man mitten im zivilisierten Paris wie eine Leibeigene gefangen hielt,
schließlich die minderjährige Russin, ein Opfer des Frauenhandels, - und das
sind nur drei Beispiele aus dem Spektrum moderner Ausbeutung und Knechtung des
Menschen, die von Wissenschaftlern als neue Sklaverei bezeichnet wird.
Sprecher:
So definiert
es der italienische Soziologe Pino Arlacchi. Einen Namen machte sich Arlacchi
in Italien im Kampf gegen die Mafia. 1997 wurde er zum stellvertretenden
Generalsekretär der Vereinten Nationen berufen, zuständig für die internationale
Verbrechensbekämpfung. Im vergangen Jahr hat Arlacchi ein Buch geschrieben mit
dem Titel Ware Mensch. Der Skandal des modernen Sklavenhandels, In einem
Interview skizziert er die neuen Formen der Sklaverei.
O-Ton, Pino Arlacchi
(ital. Original, dt. Übersetzungssprecher)
Wir haben es
vor allem mit der Zwangsarbeit, mit der Schuldknechtschaft, und der sexuellen
Versklavung zu tun. In einigen afrikanischen Staaten gibt es außerdem immer
noch die klassische Sklaverei. Berichte darüber liegen uns aus Ländern wie
Mauretanien oder dem Sudan vor. Die modernen Formen der Sklaverei findet man
praktisch in allen Staaten der Welt. Die wirtschaftliche Ausbeutung von
Menschen ist die weitverbreitetste Form der Unterdrückung. Millionen von
Kindern werden in den Fabriken zur Arbeit gezwungen, in denen nicht einmal die
elementarsten Normen der Hygiene oder der Sicherheit eingehalten werden. Das
betrifft aber nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene und zwar in allen
Teilen der Welt. Dessen muss man sich wirklich schämen.
Sprecher:
In der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der UN-Vollversammlung
ohne Gegenstimme verabschiedet wurde, heißt es im Artikel vier: „Niemand darf
in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel
sind in allen Formen verboten.“
Sprecherin:
Die
Erklärung bestärkte in dem Glauben, dass Sklaverei ein Gegenstand für die
Historiker sei, ein Phänomen, das im 19. Jahrhundert besiegt worden und seitdem
endgültig abgeschafft sei – aber das stimmt nur in rechtlicher Hinsicht.
Kein Mensch
kann heute, in keinem Staat der Erde, in
legaler Weise zum Eigentümer eines anderen werden. Doch auch ohne Besitztitel
blüht das Geschäft mit der Ware Mensch, ja es finde sogar eine noch hemmungslosere Vermarktung statt. Diese These
Arlacchis teilt der amerikanische Soziologe Kevin Bales, der in diesem Jahr
eine Studie mit dem Titel Die neue Sklaverei veröffentlich hat. Bales
schreibt:
Zitator:
„Laut meinen
vorsichtigen Schätzungen beläuft sich die Zahl der Sklaven weltweit auf 27
Millionen. ... Heute gibt es mehr Sklaven, als zur Zeit des transatlantischen
Sklavenhandels in Afrika gefangengenommen und verschifft wurden.“
Sprecherin:
Hinzu
kommen Menschen, die in vielerlei Form
Zwangsarbeit leisten müssen. Es gibt andere Schätzungen, wonach weltweit
200 Millionen Menschen Opfer von Sklaverei oder Zwangsarbeit sind.
Bales und Arlacchi vergleichen in ihren Studien alte und
neue Formen der Sklaverei. Diesen Weg hat auch eine Ausstellung im
Westfälischen Museum für Naturkunde in Münster beschritten, die ihn diesem
Sommer gezeigt wurde. Sie hieß: Mit
und ohne Ketten. Sklaverei und Abhängigkeit in zwei Jahrtausenden.
Sprecher:
Die Ausstellung führte eine bittere Erkenntnis vor Augen:
Die Sklaverei begleitet die Geschichte des Menschen. Schon im Altertum hat man
Kriegsgefangene, aber auch verschuldete Mitglieder des eigenen Gemeinwesens
versklavt. Dabei wurde die Sklaverei auch von philosophischer Seite
gerechtfertigt.
Sprecherin:
Der Schwerpunkt der Ausstellung aber lag auf dem
transatlantischen Sklavenhandel vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, der in seinen
Dimensionen alles Vorangegangene sprengte. In seinem Verlauf wurden 10
Millionen Afrikaner geraubt oder von schwarzen Stammesfürsten an die weißen
Sklavenhändler verkauft. Man schaffte sie in Ketten auf die berüchtigten
Sklavenschiffe, damit sie jenseits des Atlantiks auf den Plantagen und in den
Bergwerken der neuen Welt den Reichtum der alten vermehrten.
Sprecher:
Die
Ausstellung hatte einen Teil vom Bug des englischen Sklavenschiffes Brookes
nachgebaut. Hier wurde augenfällig, in welch brutaler Weise Menschen auf
engstem Raum, zusammengepfercht wie Vieh, übers Meer fort in die Fremde
geschafft wurden. Zu den physischen Qualen kamen die psychischen. Der Verschleppte
wurde auch seelisch gebrochen, damit er sich willenlos in sein Schicksal fügt.
Josephine Kronfli, eine der Ausstellungsmacherinnen, schildert die
Traumatisierung der Versklavten.
O-Ton, Josephine Kronfli:
Beim
transatlantischen Menschenhandel ist es so, dass man Menschen willkürlich
eingefangen hat und sie aus der Familienstruktur, in die sie eingebunden sind,
herausgerissen hat. Da fängt für sie die Entwurzelung an, der Verlust an
Identität, sobald die eingefangen werden, zur Küste verschleppt werden, heißt
das für sie, dass sie ihre Familie nie wieder sehen werden. Und auf Schiffen
werden sie neben wildfremde Menschen hingelegt, ... und wenn sie dann in
Amerika angekommen sind, haben sie keine Chance, die Menschen, mit denen sie
auf den Schiffen waren, wiederzusehen, weil sie da weiterverkauft werden und
neuen Besitzern übergeben werden. Und auf den Plantagen werden sie mit neuen
Menschen konfrontiert, die sie erst einmal kennen lernen müssen.
Musik:
Redemption Song (Bob Marley)
Old pirates yes they rob I
Sold I to the merchant ships
Minutes after they took I
From the bottomless pit
But my hand was made strong
By the hand of the almighty
We forward in this generation
Triumphantly
All I ever had, is songs of freedom
Won't you help to sing, these songs of freedom
Cause all I ever had, redemption songs
Redemption songs
(im folgenden unterlegen)
Sprecherin:
Es folgten
Jahrhunderte der Knechtschaft in den Minen Lateinamerikas, auf den
Zuckerrohrfeldern der Karibik und den Baumwollplantagen der amerikanischen
Südstaaten. Wie in der Antike konnte die totale Rechtlosigkeit des Sklaven
mit
unterschiedlichen Lebensbedingungen einhergehen. Wenige schwarze
Hausangestellte hatten es etwas erträglicher. Die Masse jedoch fristete ein
elendes Dasein, bestimmt von härtester Arbeit, kärglicher Nahrung und
schmutziger Unterkunft.
Sprecher:
Wie gelang
es den Afrikanern überhaupt zu überleben? Woher schöpften sie die Kraft dazu?
Vielleicht aus ihrer Religiosität und tiefverwurzelten Traditionen, aus der
Einheit von Kult und Musik. Ein langer Kampf um die Befreiung der Sklaven
durchzog das gesamte 19. Jahrhundert, bis 1888 Brasilien als letztes der großen
Länder die Abschaffung der Sklaverei verkündete.
Sprecherin:
Doch auch in
der Gegenwart trifft man - der UN-Menschenrechtserklärung
zum Trotz - immer noch auf jene alte
Form der Sklaverei, es gibt sie in Westafrika, vor allem in Mauretanien, und
wie Josephine Kronfli schildert, im Sudan:
O-Ton, Josephine Kronfli:
Seit 1955
tobt ein brutaler Bürgerkrieg, und Sklavenraubzüge sind zum wichtigen
Kampfmittel für die sudanesische Regierung geworden, d.h. dass die sudanesische
Regierung nicht selbst Menschen im Süden einfängt, aber dass sie
stillschweigend zuschaut, wie Milizen im Süden ganze Dörfer in Brand setzen,
Männer töten, Frauen und Kinder rauben, und in den Norden verkaufen. Und wenn
diese Menschen im Norden angekommen sind, erwartet sie schwere Arbeit unter
sehr schlechten Arbeitsbedingungen, Folter, Hunger, Beschneidung und der
zwangsweise Übertritt zum Islam.
Zitator:
"Mein Name ist Osman. Ich bin 14
Jahre alt. Ich habe in dem Dorf Adangala für einen Mann namens Hemer
gearbeitet. Meine Arbeit bestand darin, auf seine Kühe aufzupassen. Wenn eine
Kuh weglief, wurde ich zur Strafe geschlagen. Ich mußte eine Koranschule
besuchen. Als ich einmal fragte, ob ich nicht auf eine normale Schule gehen
könne, sagte Hemer: "Falls du diese Frage noch einmal stellst, schneide
ich dir die Kehle durch!". Ich wußte, er würde das wirklich tun, denn
einmal hat er vor unseren Augen drei Sklaven die Kehle durchgeschnitten. Ihre
Namen waren Deng, Gagang und Ngor. Der erste Sklave hatte versucht zu fliehen.
Der zweite hatte aufgehört zu arbeiten und nach etwas zu Essen gefragt. Der
dritte hatte einige Kühe verloren."
Sprecher:
Das ist der authentische Bericht
Osmans, eines sudanesischen Jungen, dessen Sklavenschicksal durch die
Münsteraner Ausstellung davor bewahrt wird, im Niemandsland globaler
Vergesslichkeit unterzugehen.
Sprecherin:
Vor allem
Kinder sind Opfer der Knechtung des Menschen. In Indien, Pakistan und Nepal
geraten sie unter das Joch der Schuldknechtschaft, ein System, das Familien
über Generationen hinweg in Abhängigkeit hält.
Sprecher:
Die Falle
schnappt zu, wenn sich eine Familie wegen einer Missernte oder wegen teurer
Medikamente verschuldet. Kann sie das Geld nicht in absehbarer Zeit
zurückzahlen, wird sie gezwungen ihre Schulden beim Gläubiger abzuarbeiten. Die
Löhne sind jedoch so gering, Zinsen und Zinseszinsen so hoch, dass man sich aus
der Verschuldung nicht mehr befreien kann, zumal der Arbeitgeber überzogene
Preise für Nahrung, Unterkunft, Transport oder Werkzeug vom kärglichen Lohn
abzieht.
Sprecherin:
Der
Geldgeber ist auch gar nicht an einer Tilgung interessiert, sondern dass ihm
der Schuldner neben seiner eigenen Arbeitskraft auch die seiner Kinder
verpfändet. Die Schulden werden sogar auf nachfolgende Generationen vererbt, so
schließt sich ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die UN haben
dieses System der Schuldknechtschaft – auch Zinssklaverei genannt - in einem
Zusatzabkommen verboten. Dennoch ist es in der Dritten Welt für schätzungsweise
20 Millionen Menschen Realität, davon lebt die Hälfte auf dem indischen
Subkontinent.
Sprecher:
Vor allem Kinder werden von den
verschuldeten Familien, die keinen Ausweg wissen, in die Schuldknechtschaft
gegeben. Gestützt auf die Ausbeutung von Kindern schlägt die indische
Teppichindustrie die Konkurrenz und liefert jene preisgünstige Ware, nach der
der Weltmarkt verlangt.
O-Ton, Josephine Kronfli:
Die Kinder,
die in der Teppichindustrie arbeiten, knüpfen Teppiche für den westlichen
Markt, man muss sagen, dass Deutschland der größte Teppichimporteur weltweit
ist. 50 Prozent der indischen Teppiche werden nach Deutschland importiert. ...
In Indien arbeiten circa 120.000 Kinder in der Teppichindustrie, und jedes 5.
Kind ist ein Schuldknecht. Die Kinder sind zwischen 8 und 12 Jahre alt und müssen 12 bis 15 Stunden in der Regel ohne
Pause arbeiten, d.h. dass Schule, Ferien, Freizeit für sie ein Fremdwort ist.
Diese Kinder
werden in der Regel gefangen gehalten, damit sie nicht weglaufen können, sie
sind unternährt, und auch durch die Arbeit bedingt krank, und die Krankheiten,
die in der Regel bei ihnen vorkommen, sind Augenkrankheiten, Hautkrankheiten,
Erkrankungen, der Atemwege, Staublunge und natürlich Rückenschäden. Und laut
der International Labour Organisation stirbt etwa die Hälfte der Kinder in
Pakistan vor dem 12. Lebensjahr.
Sprecherin:
Menschenrechtsgruppen
haben in spektakulären Aktionen immer wieder Kinder befreit und in ihre
Familien zurückgebracht. Sie mussten aber auch erleben, dass sich viele der
Kinder unter dem Druck der Verhältnisse kurze Zeit später wieder bei ihren
Herren einfanden. Immerhin haben die Aktionen in der Weltöffentlichkeit auf den
Skandal der Schuldknechtschaft aufmerksam gemacht. Deutlich wurde aber auch,
wie schwer es würde, Schuldknechtschaft wirklich zu überwinden. Denn für ihren
Fortbestand sorgt ein fatales Zusammenspiel interner und globaler Faktoren.
Sprecher:
Auf der
einen Seite ist Schuldknechtschaft fest im Kastensystem verwurzelt. Trotz
gesetzlicher Verbote billigt es deshalb die indische Gesellschaft innerlich,
dass Angehörige der Kaste der Dalits, der sogenannten Unberührbaren – oder
diskriminierte Minderheiten wie die Adivasi in Steinbrüchen und Bergwerken ihr Leben in Schuldknechtschaft
fristen.
Sprecherin:
Auf der
anderen Seite begünstigt aber auch die Globalisierung die Fortdauer
sklavenähnlicher Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Denn die Weltwirtschaft
fördert nicht nur die Konkurrenz, sie drängt auch die ungelernten und schlecht
entlohnten Arbeiten mehr und mehr in die Dritte Welt. Dort wiederum suchen die
Arbeitgeber die Lohnkosten zu minimieren, um ihre Produkte möglichst
preisgünstig auf dem Weltmarkt anbieten zu können. Kinder sind billigere
Arbeitskräfte als Erwachsene, und wegen ihrer Fingerfertigkeit in der
Teppichindustrie sehr gefragt. So zwingt man die Kinder auf Kosten ihrer
Ausbildung und Gesundheit zu jener Arbeit, die man umgekehrt den Erwachsenen
wegnimmt – pervertierte Welt: die Eltern, nun zur Erwerbslosigkeit verdammt,
verarmen und müssen ihre Kinder in die Schuldknechtschaft verpfänden.
Musik:
Let the children live (Inga Rumpf)
Let the children live,
Yeah, let the children live,
Some live in a castle,
Some live in a den,
Some live in nowhere,
Trying to find childhood again.
This is a mean old world
Makes the souls gonna die,
Children get older
Make the whole world gonna cry.
Let the children live,
Sprecher:
Die
Ausbeutung der Kinder fern ihrer Familien ist weder neu noch exotisch. Im
England des späten 18. Jahrhunderts brachten die Besitzer von
Baumwollspinnereien Kinder armer Eltern und Waisen aus dem ganzen Land in ihre
Manufakturen, wo sie 13 bis 16 Stunden täglich arbeiten mussten. Sie erhielten
keinen Lohn, nur das Nötigste zum Lebensunterhalt. Der Frühkapitalismus im 19.
Jahrhundert verschließ die Kinder, indem er sich ihre Arbeitskraft
rücksichtslos aneignete. Heute wiederholt sich dieses Elend in noch größeren
Ausmaßen in der Dritten Welt.
Sprecherin:
Die
Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass heute 250 Millionen Kinder
zwischen 5 und 14 Jahren Arbeiten verrichten müssen, von denen etwa ein Viertel
sklavenähnlichen Verhältnissen zuzurechnen ist, wie Schuldknechtschaft,
Zwangsarbeit, Leibeigenschaft und Kinderprostitution.
Immer wieder
ist in diesem Zusammenhang auch vom Elend der Straßenkinder die Rede. Die
Bochumer Professorin Christel Adick, die als Vergleichende
Erziehungswissenschaftlerin über Straßenkinder und Kinderarbeit geforscht hat,
betont die Unterschiede:
O-Ton, Christel Adick:
Bei dem
ganzen Komplex Kinderarbeit, muss man zunächst einmal differenzieren, und zwar
werden häufig Straßenkinder und arbeitende Kinder synonym verwendet, das
entspricht nicht mehr unbedingt der Realität, denn nicht mehr jedes Kind, das
sich auf der Straße aufhält, ist ein
arbeitendes Kind, und nicht jedes arbeitende Kind ist in diesem negativ
klassifizierten Sinne ein Straßenkind, denn es trägt auch zum Einkommen der Familie
bei, und viele Familien in den so genannten Drittweltländern würden ohne die
Mitarbeit der Kinder gar nicht leben können. ... Und interessanterweise haben
die Kinderbewegungen selbst, die sich im Laufe der letzten 10, 15 Jahre
gebildet haben, so langsam ihre Rechte definiert und ihre Beziehungen zur
Arbeit, und dabei durchaus darauf hingewiesen, dass sie nicht die Arbeit an sich abschaffen
wollen, sondern eine Arbeit in Würde und Respekt fordern, also mit gewissen
Mindeststandards, und eine Arbeit, die ihnen auch medizinische Versorgung
gewährleistet, die Möglichkeit bietet, an schulischen Maßnahmen teilzunehmen,
gewisse Freizeitelemente, gesundheitliche Fürsorge usw.
Sprecher:
Auch in traditionellen Gesellschaften
Europas, auf den Bauernhöfen und in den Handwerksbetrieben trugen Kinder
selbstverständlich zum Lebensunterhalt der Familie bei. Kinder nahmen
unmittelbar an der Welt der Erwachsenen teil. Moderne Kindheit als Sonderraum,
was Spielzeug und schulisches Lernen, was Gesprächs- und Erfahrungstabus
anbetrifft, hat sich erst langsam im Lauf der Neuzeit ausdifferenziert.
Sprecherin:
Deshalb ist es nicht gerechtfertigt,
diese Vorstellung von Kindheit auf andere Kulturen und deren Lebens- und
Arbeitsformen zu übertragen. Aber die Mitarbeit der Kinder geschah in
traditionellen Gesellschaften in maßvoller Weise, vor allem weil es unter den
Augen der Eltern und in einem sozialen Rahmen stattfand. Die Kinderbewegung,
die sich heute in einer Süd-süd-Kooperation quer über die Kontinente Asiens,
Afrikas und Lateinamerikas organisiert, hat begonnen sich nicht gegen Arbeit
als solche, wohl aber gegen Arbeitsklaverei und maßlose Ausbeutung zu wehren.
Die erste Forderung, die die Kinder auf einem Treffen in Indien 1996 erhoben,
lautete, dass sie als Gesprächpartner ernstgenommen werden wollen.
Sprecher:
In Städten der Dritten Welt gibt es
vereinzelt Versuche, eine Art Kindergewerkschaft zu formieren – konkret: dass
sich die jungen Schuhputzer untereinander über Mindestpreise verständigen, oder
dass man über Nichtregierungsorganisationen versucht, Kurse schulischer und
beruflicher Bildung einzurichten.
Sprecherin:
Straßenkinder haben es schwer, ihre
Existenz zu behaupten im Kampf gegen Unternährung, Krankheit und Gewalt. Noch
gefährdeter sind Kinder in Ländern, wo Krieg und Bürgerkrieg herrschen: Kinder
erleben Schreckliches, werden verletzt, traumatisiert, sind Waisen und
Flüchtlinge. Ohnehin Opfer des Krieges werden viele Kinder von den Armeen als
Söldner angeworben. Weltweit, schätzt man, gibt es 300.000 Kindersoldaten, das
sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Kindersoldaten begegnet man auf allen Kontinenten, wo bewaffnete
Konflikte stattfinden. Viele Kinder sind zwangsrekrutiert, werden zum Rauben
und Morden gezwungen. Christel Adick erläutert wie Kinder zu Soldaten werden.
O-Ton,
Christel Adick:
Die Familien fallen in vielen
Ländern, auch in Afrika in Folge von Aids-Toten, gerade in der mittleren
Generation, häufig auseinander, wenn beide Eltern verstorben sind, vielleicht
auch die Großeltern nicht mehr verfügbar sind, dann hängt manchmal die ganze
Familienversorgung an den älteren Geschwistern, und wenn die kein Einkommen
haben, denn irgendwo muss es her – da verpflichten sich Kinder häufiger,
einfach um irgendeine berufliche Chance zu haben – das wäre die Variante, dass
Kinder selbst Soldat werden wollen. Es gibt aber auch die andere Variante, dass
Dörfer überfallen und geplündert werden usw und Kinder dann zwangsrekrutiert
werden, gegen ihren Willen sie können gar nicht anders sie werden einfach mit
verschleppt, manchmal werden vielleicht ihre Familien vor ihren Augen ermordet,
und es wird gesagt, wenn du nicht bekommst, passiert mit dir dasselbe, oder es
wird angedroht, wenn du nicht mitkommst und Spionagedienste und Hilfsdienste
für uns machst, und vielleicht in weiteren Stadien an der Waffe ausgebildet
wirst und Überfälle mitmachst usw., dann wird es deiner Familie schlecht gehen,
das wäre Zwangsrekrutierung.
Sprecher:
Kinder
wurden auf dem Weg zur Schule entführt und so brutal behandelt, dass es ihnen
später leicht fiel, selber Grausamkeiten zu begehen. In der Spirale der Gewalt
sind sie Opfer und Täter zugleich. Kindersoldaten, die man versucht zu
resozialisieren, werden manchmal von ihren Angehörigen abgelehnt, sie wollen
nicht mit jenem Kind unter einem Dach leben, das Bluttaten begangen hat.
Sprecherin:
Mädchen, von der Soldateska auf Kriegszügen erbeutet und
mitgeschleppt, erwartet ein anderes Schicksal. Sie werden als so genannte
Kriegsbräute bezeichnet, in Wahrheit sind sie den jeweiligen Anführern völlig
ausgeliefert. Es handelt sich um kaum
verhüllte sexuelle Ausbeutung und Versklavung.
Sprecher:
Gisela Wuttke, Entwicklungssoziologin
aus Münster, hat sich zunehmend mit der sexuellen Gewalt gegenüber Kindern und
jungen Mädchen befasst, auch da wo sie zunächst nicht sichtbar ist. Wo man den
armen Eltern auf dem Lande Hoffnung macht, dass ihre Tochter als Dienstmädchen
in der Stadt einer besseren Zukunft entgegengeht und sie selber mit
finanzieller Unterstützung rechnen können.
O-Ton, Gisela Wuttke:
Das sind eben diese neueren
Entwicklungen im Zuge von Armut, im Zuge von zunehmender Abhängigkeit, aber
auch im Zuge von Bürgerkriegen, aber auch im Zuge von wirtschaftlichen
Entwicklungen wie sie zum Beispiel aus dem Tourismus resultieren, das immer
mehr Eltern Anreize bekommen, ihre Kinder wegzugeben, um in Hotels oder in
Privathaushalten zu arbeiten, oder eben, um sie in die Prostitution zu führen,
was gleichzeitig natürlich ein großes Tabu ist, was nicht beim Namen genannt wird,
in Thailand heißt es dann, dass die Tochter in den Süden gegangen ist.
... Es wird nicht gern ausgesprochen,
weil es eine unangenehme Realität ist, und nirgendwo in der Welt wünschen sich
Eltern, dass ihre Kinder in der Prostitution landen, aber wenn die Armut keine
Alternative bietet und diese Kinder umworben werden, sie werden von den
Touristen umworben und von den Mittelsmännern, die für Nachschub sorgen müssen,
... wenn es dann junge Mädchen sind, melden sich nicht zu Hause und erzählen
von ihrem Alltag als Prostituierte, sondern erfinden manchmal regelrecht
Geschichten, die sie ihren Eltern erzählen, um deutlich zu machen: ‚Ich bin
eine gute Tochter, ich arbeite und verdiene Geld und ich unterstütze euch’ -
Das ist die andere Tatsache, die dahinter steht, dass die Kinderprostituierten
sehr häufig ihre Familie zu Hause unterstützen, die häufig kein eigenes
Einkommen haben.
Sprecherin:
In ihrer Studie „Kinderprostitution,
Kinderpornographie, Tourismus“ kritisiert Gisela Wuttke auch die Verharmlosung durch
die herrschende Sprache. Sie lehnt es ab, von Sextourismus zu sprechen, da es
sich in Anbetracht der Minderjährigen offensichtlich um eine sexuelle
Ausbeutung, ja um Missbrauch handelt. Die Kinder haben aufgrund ihrer Lage
nicht die Möglichkeit sich zu verweigern. Und statt einer regulären Bezahlung
wie erwachsene Prostituierte erhalten sie nicht selten irgendwelche billigen
Geschenke, CDs oder T-Shirts. Der Kinderprostitutionstourismus hat neue Länder
erobert. Nach Thailand, den Philippinen und Sri Lanka, sind inzwischen
Kambodscha, Brasilien, die Dominikanische Republik und Kenia hinzugekommen.
Heute sind es eher die Länder der ersten Stunde, vor allem Thailand, wo man den
Kindern zu helfen versucht.
O-Ton, Gisela Wuttke:
In einigen Ländern gibt es Zentren
für Kinder, die erst einmal auf die Rehabilitation der Kinder setzen. Sie sind
häufig körperlich krank, sie gehen ein ganz großes Risiko der HIV-Infizierung
ein, weil die Männer - gerade diejenigen, die Kinderprostituierten benutzen,
auf Kondome verzichten, also das was erwachsene Frauen in der Prostitution für
sich durchsetzen können, können Kinder für sich noch lange nicht durchsetzen.
Und die Männer bestehen darauf, keine Kondome zu benutzen. Die Kinder haben oft
ein ganz schlechtes Blutbild, sind in einer schlechten gesundheitlichen
Verfassung, weil sie zum Beispiel schnüffeln. Sie schnüffeln häufig Klebstoffe,
sie nehmen zum Teil Drogen, sie haben sehr häufig Alkoholprobleme, weil das in
diesem Milieu natürlich auch alles mit dazu gehört, sie sind seelisch
verwundet, es werden Therapieansätze praktiziert mit diesen Kindern, und man
versucht, Möglichkeiten zu finden, wie diese Kinder Tätigkeiten nachgehen
können außerhalb des Milieus. Und das ist deswegen schwer, weil die Kinder
häufig über viele Jahre gar kein anderes Leben kennen gelernt haben, als das in
Abhängigkeit, als das in der sexuellen Dienstleistung, als das, sexuell
ausgebeutet zu werden und anderen zu Diensten zu sein.
Lied
Kleine Hände (Bettina Wegner)
Sind so kleine Hände
winz’ge Finger dran.
Darf man nie drauf schlagen,
die zerbrechen dann.
(......)
Sind so schöne Münder ,
sprechen alles aus.
Darf man nie verbieten,
kommt sonst nichts mehr raus.
(....)
Sind so kleine
Seelen,
offen und ganz frei.
Darf man niemals quälen,
geh‘n kaputt dabei.
Ist so’n kleines Rückgrat,
sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen,
weil es sonst zerbricht.
Grade klare Menschen
wär’n ein schönes Ziel.
Leute ohne Rückgrat
hab’n wir schon zuviel.
Zitatsprecherin:
"Mein Name ist Marlyn, ich komme
von den Philippinen und bin 18 Jahre alt. Ich war gerade 13 Jahre alt, als mich
1995 ein deutsches Ehepaar mit nach Deutschland nahm. Sie besorgten für mich
die notwendigen Papiere, damit ich ausreisen konnte. In Deutschland angekommen
wurde ich noch am gleichen Abend gezwungen, einen Kunden zu empfangen. Fast
jeden Tag kamen Männer. Es war schrecklich. Ich wurde wie eine Gefangene
gehalten. Die Tür meines Zimmers wurde nur aufgeschlossen, wenn man mir etwas
zum Essen brachte oder ein Kunde kam. Zwei Monate war ich in Deutschland. Dann
gaben sie mir 500,00 Mark und schickten mich zurück nach Manila. Sie haben
sicher schon den Film "Tatort Manila" im deutschen Fernsehen gesehen
oder zumindest davon gehört. Der Film handelt von mir, es wurde meine
Geschichte nachgestellt, allerdings mit einem Jungen als Hauptdarsteller."
Sprecher:
Immer wieder verdrängt und
totgeschwiegen, hat die Öffentlichkeit nun begonnen, über das Thema der
sexuellen Ausbeutung und des Missbrauchs von Kindern hierzulande zu
sprechen. Im Prozess gegen den
Kindermörder Dutrout und seine Hintermänner in Belgien, falls er denn überhaupt
jemals in Gang kommt, wird sich zeigen, ob die Gesellschaft bereit ist zu einer
tiefergehenden Aufarbeitung oder sich nur einer zeitweiligen medienwirksamen
Empörung überlässt.
Sprecherin:
Herrschaft-Knechtschaft ist kein
exotisches Thema, das sich in andere Epochen und Kulturen verbannen lässt, es
gehört vielmehr zu den dunklen Seiten unserer eigenen Gesellschaft. Opfer sind
meist die Schwachen und Schwächsten, vor allem Kinder und junge ausländische
Frauen.
Pino Arlacchi, der die internationale
Verbrechensbekämpfung bei der UN leitet, weist daraufhin, dass die Globalisierung
diese Probleme verschärft.
O-Ton, Pino
Arlacchi (ital. Orig.,
dt. Übersetzungssprecher)
Die
Globalisierung hat das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage enorm
beschleunigt, dies gilt vor allem für die sexuelle Sklaverei. Die
Transportkosten sind heute sehr niedrig, durch die Preisunterschiede für
bestimmte Leistungen in den reichen und in den armen Ländern sind intensive
Verbindungen entstanden. Frauen werden unter den Bedingungen illegaler
Einwanderung von Ost- nach Mitteleuropa gebracht. Unter ähnlichen Konditionen
werden Asiatinnen in der ganzen Welt angeboten. Das kostet heute sehr viel
weniger als früher.
Die andere
Form ist der Sextourismus. Hier treffen Angebot und Nachfrage direkt auf
einander. Das gilt für die sexuelle Ausbeutung in Ländern wie Thailand oder die
Philippinen. Das Angebot steigert die Nachfrage.
Sprecher:
Im Kreislauf
des Menschhandels gilt aber auch umgekehrt: die hohe Nachfrage ruft nach
weiteren Angeboten. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs boomt der Frauenhandel mit
Osteuropa. Man schätzt dass inzwischen 90% der Frauen, die nach Westeuropa
geschleust werden, aus Osteuropa stammt, für die Hälfte von ihnen ist
Deutschland Ziel oder Durchgangsland.
Sprecherin:
Viele
junge Frauen wollen der Misere in ihrem Heimatland entkommen,
Wirtschaftsmigrantinnen, die für sich und ihre Familie Geld verdienen wollen.
Die ominösen Anzeigen und Angebote der Anwerber, im Westen als Bardame,
Tänzerin oder Serviererin im
Dienstleistungsgewerbe zu arbeiten, trifft nicht in jedem Fall auf völlig naive
ahnungslose Frauen. Manche wissen, dass sie sich ins Milieu der Prostitution
wagen. Aber auch sie ahnen nicht, welch verhängnisvolle Rechtlosigkeit und
maßlose Ausbeutung ihnen bevorsteht. Noch brutaler trifft es jene, die mit
Gewalt in die Prostitution gezwungen werden.
O-Ton, Ulrike Mann:
Ganz grob lässt es sich damit umreißen, dass die
Frauen häufig mit körperlicher Gewalt dazu gezwungen werden, – wenn wir von in
die Prostitution gehandelten Frauen reden ... - sprich: diejenigen, die das so
für sich nicht in Betracht gezogen haben, werden geschlagen, vergewaltigt,
unter Druck gesetzt, es wird ihnen gedroht, dass zu Hause ihrer Familie, ihren
Kindern etwas angetan wird, sie müssen Zeuginnen sein, wie anderen Frauen etwas
angetan wird. Sicherlich spielt die Isolation eine ganz große Rolle, die Frauen
sprechen in der Regel kein Deutsch, haben auch keine Chance das zu lernen, es
wird ihnen jeglicher Außenkontakt verboten, zu telefonieren, Briefe zu
schreiben, überhaupt Mitteilungen zu hinterlassen, wo man sich eigentlich
befindet - das alles ist ein enorme Belastung für die Frauen, weil sie
überhaupt nicht wissen, an wen sie sich wenden könnten.
Sprecher:
Ulrike Mann ist Vorsitzende der
Organisation Terre des Femmes, einer Menschenrechtsorganisation für Frauen, die
seit genau zwanzig Jahren besteht. Sie arbeitet wie Amnesty International mit
ehrenamtlichen Städtegruppen. Terre des Femmes versteht sich nicht primär als
Beratungs- oder Anlaufstelle für einzelne betroffene Frauen, sondern als eine
politische Organisation, die mit Aufklärungskampagnen und Öffentlichkeitsarbeit
gesetzliche und gesellschaftliche Veränderungen erreichen will.
Sprecherin:
Terres des Femmes und auch andere
Menschenrechtsorganisationen weisen auf die Entrechtung hin, die vor allem
illegal in Deutschland befindlichen Frauen de facto widerfährt, und zwar nicht
nur den Zwangsprostituierten, sondern auch den Frauen, die in die Prostitution
selber eingewilligt hatten. Frauen werden mit brutaler Gewalt oder mit dem
Druckmittel der Anzeige zum Wechsel in andere Bordelle gezwungen, sie werden
wie lebendige Ware weiterverkauft. Von dem Geld, das sie erwirtschaften,
erhalten sie, wenn überhaupt nur einen Bruchteil. Vor allem unterbindet man
alle Kontakte in die Heimat und aus dem Milieu heraus. Jegliche Form der
Selbstbestimmung, zum Beispiel, wann sie aufhören möchten, wird ihnen genommen.
Musik:
Dead
Indeed (Nils Petter Molvaer)
(Im folgenden unterlegen)
Sprecher:
Die Frauen befinden sich in einer
verzweifelten Lage zwischen zwei Gewalten, zwischen der Mafia des
Frauenhandels, die sie sexuell und ökonomisch ausbeutet, und einer Polizei, an
die sie sich zwar wenden könnten, die sie dann aber als Illegale in die Nähe
der Kriminalität rückt und mit Abschiebung bedroht. Diese Frauen erleben sich
als rechtlos mitten im Rechtsstaat, als moderne Sklavinnen in einer Demokratie,
die doch auf dem Respekt vor den Menschenrechten gegründet ist.
Sprecherin:
Das
Damoklesschwert der Abschiebung treibt die Opfer zusätzlich in die Gewalt der
Menschenhändler, - das hat endlich die Vereinten Nationen dazu bewogen, ein
Duldungsrecht für Opfer des Menschenhandels zu vereinbaren. Pino Arlacchi, der
stellvertretende Generalsekretär leitet die Abteilung der Internationalen
Verbrechensbekämpfung.
O-Ton, Pino
Arlacchi: (ital. Original, dt.
Übersetzungssprecher)
In den
westlichen Staaten ist die sexuelle Unterdrückung die verbreitetste. Im
Protokoll, das wir kürzlich in Wien angenommen haben und das Teil der
Konvention von Palermo gegen die Großkriminalität ist, haben wir eine wichtige
Regel festgeschrieben: Wenn sich ein Opfer des Menschenhandels oder der
sexuellen Versklavung an die Behörden wendet, hat es den Anspruch auf eine
begrenzte Aufenthaltsgenehmigung, auf Beistand und auf eine Reintegration, das
ist wichtig, weil damit die Kette, mit der das Opfer an den Sklavenhalter
gebunden ist, zerbrochen wird. In Österreich, in Italien, vielleicht auch in
Deutschland haben wir Beispiele dafür, dass diese Maßnahme wertvoll ist.
Sprecher:
Leider ist dieses
Duldungsrecht in Deutschland keineswegs überall in einer Weise umgesetzt, die
dem Schutz des Opfers und seinen Ansprüchen in vollem Umfang gerecht wird. Die
Situation ist von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden, wie Ulrike Mann
erläutert:
O-Ton, Ulrike Mann:
Nordrhein-Westfalen
ist relativ fortschrittlich, da ist es so, dass nach Razzien eigentlich allen
Frauen erst einmal eine vierwöchige Aufenthaltsduldung zugestanden wird, damit
sie selber erst einmal gucken können, wie es ihnen geht. Wollen sie als
Klägerinnen auftreten, als Zeuginnen auftreten? Gibt es noch gewisse Dinge zu
regeln? Wie sieht es aus, wenn sie in ihr Land zurückgehen? Und sie werden
immer an eine Beratungsstelle verwiesen.
Diese dichte
Netz an Beratungsstellen, wie wir es hier in NRW kennen, gibt es so in keinem
anderen Bundesland. In vielen anderen Bundesländern ... sieht es so aus, dass
ein Großteil der Frauen binnen 48 Stunden abgeschoben wird, und da ist es
tatsächlich so, dass wir sagen, das kann nicht sein, diese Frauen haben anderes
verdient, als dass sie ausgehoben werden, und dann mit Nullkomma-nichts
zurückverfrachtet werden und dann überhaupt keine Chance mehr haben, eigene
Ansprüche geltend zu machen, was aus dem Ausland so gut wie unmöglich ist....
und da macht sich unsere Gesellschaft und der Staat ein gewisses Stück der
Komplizenhaftigkeit mitschuldig, weil da nicht konsequent nachgedacht wird, wie
diese Mechanismen zusammenhängen, von Wirtschaftskreislauf, Geldern, wer
verdient und wer bezahlt eigentlich dafür.
Sprecher:
Die Frauen
haben aus dem Ausland heraus kaum eine Chance, finanzielle Ansprüche gegen
Bordellbesitzer, Zuhälter und Menschenhändler geltend zu machen. Durch die
schnelle Abschiebung wird die ökonomische Ausbeutung der Frauen praktisch
besiegelt.
Sprecherin:
Terre des
Femmes macht vor allem auf die Isolation aufmerksam, in denen sich die Frauen
befinden. Es schwächt, wenn man sich mit keinem über die eigene Situation
verständigen, und dabei Anteilnahme, Unterstützung und Hilfe finden kann. Isolation
ist wie ein Gefängnis ohne Mauern. Durchbrechen könnten diese Isolation Ärzte
und Krankenhäuser. Dort besteht gegenüber der Behandlung von Illegalen vielfach
Unsicherheit und Unwissen. Tatsächlich ist die medizinische Versorgung von
illegal in Deutschland sich aufhaltenden keineswegs strafbar, das Recht auf
Gesundheit bildet ein Menschenrecht, ebenso besteht auch keine Meldepflicht für
Ärzte, aber die Frage der Bezahlung ist ungeklärt.
Sprecher:
Menschenrechtsorganisationen
fordern deshalb Abschreibungsmöglichkeiten für Ärzte und Krankenhäuser
einzurichten, damit sie den Opfern uneingeschränkt helfen können.
Neben den
Menschenrechtsverletzungen gegenüber illegalen Migrantinnen gibt es eine
Diskussion über die Gefährdung der Straßenkinder in Deutschland.. Christel
Adick, vergleichende Erziehungswissenschaftlerin in Bochum, die über das
Phänomen Straßenkinder und Kinderarbeit forscht, rät zunächst einmal genauer zu
klären, um welche Gruppe es sich handelt. Der Begriff Straßenkind wird auf eine
breite Skala von Kindern und Jugendlichen angewandt, die sich auf der Straße aufhalten. Das reicht von
kurzfristigen Ausreißern, über zeitweilige Aussteiger, die aber nicht mit ihrer
Familie gebrochen haben, bis hin zu jenen Kindern, die dauerhaft auf der Straße
leben, die so genannten Trebegänger.
Sprecherin:
Diese
Straßenkinder im engeren Sinne haben keinen festen Wohnsitz, sind nicht
polizeilich gemeldet, haben dementsprechend auch nicht die Möglichkeit,
reguläre Arbeit aufzunehmen. Adick schätzt diese Gruppe auf 7000 bis 10.000 in
der Bundesrepublik, nicht so hoch wie mitunter in den Medienberichten behauptet
wurde. Gisela Wuttke, Entwicklungssoziologin aus Münster warnt, dass diese
Straßenkinder in Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse geraten.
O-ton, Gisela Wuttke:
Selbst wenn
es nur eine ganz kleine Zahl ist, die hier betroffen sind, ist der Missstand so
groß, dass wir uns damit zu befassen und auseinander zu setzen haben. Bei den Straßenkindern, bei den weiblichen
ist es so, dass sie umso länger sie auf der Straße sind, umso größer die
Gefahr, dass sie über Zuhälter, über den Straßenstrich, über die Übernachtung,
die sie auch suchen, dass sie in sexuelle Ausbeutungsverhältnisse geraten, d.h.
es wird immer darum gehen, die Zeit, in denen Kinder diesen Gefährdungen
ausgesetzt sind, möglichst klein zu halten, möglichst immer zu versuchen,
Angebote zu schaffen, die sie am Leben halten und davon abhalten sich Zuhältern
auszuliefern, oder Männern auszuliefern, die ihre Situation ausnutzen. Und dass
tun sie gnadenlos, wenn diese Kinder eine Übernachtung suchen, dann bekommen
sie diese Übernachtung privat und inoffiziell nur gegen Leistung, und diese
Gegenleistung ist Sexualität, das ist etwas, was eine Realität ist, ... so dass
wir uns auch damit beschäftigen müssen, wenn nur sehr wenige betroffen sind.
Lied:
Teen-Age Prostitute (Frank Zappa)
She’s only seventeen
She’s really sort of cute
She’s working in the street
She’s a teen-age prostitute.
She ran away from home
Her mom was destitute
Her daddy doesn’t care
She’s a teen-age prostitute.
Sprecher:
Der moderne
Sklaverei ist mittlerweile ein Skandal, d.h. sie hat Aufmerksamkeit und
Empörung auf sich gezogen. Sie ist ins Blickfeld von Sozialwissenschaftlern
gerückt, hat zu Ausstellungen geführt und im Kampf für die Menschenrechte
zahlreiche Initiativen auf den Plan gerufen. Eine Reihe von Organisationen und
Initiativen hat nun ihre Kräfte gebündelt zur – so der Titel -Europäischen
Aktion zur Überwindung von Sklaverei und Zwangsarbeit. Diese Allianz reicht
von der Anti-Slavery-International in London, das ist die älteste
Organisation im Kampf gegen Sklaverei, über das DGB-Bildungswerk, die Kindernothilfe
bis hin zu Terre des Femmes und dem Evangelischen Entwicklungsdienst.
Sprecherin:
In
Deutschland wird die Aktion koordiniert von der Werkstatt Ökonomie in
Heidelberg. Dort erhält man Informationsmaterial und Arbeitsblätter für den
Unterricht, vor allem die aktuelle Broschüre„Zwangsarbeit und Sklaverei im 21.
Jahrhundert“. Die Schrift durchkreuzt die Illusion, es gäbe einen großen
Fortschritt bei der Durchsetzung der Menschenrechte.
Sprecher:
"Der Mensch ist frei geboren, und überall
liegt er in Ketten" - so beginnt Rousseaus Schrift "Vom
Gesellschaftsvertrag", worin der Philosoph gegen herrschende Unterdrückung
und soziale Ungerechtigkeit ein besseres Gemeinwesen entwarf, in dem alle
Menschen frei und gleich sind.
Aufklärung
und Freiheitskampf ließen nicht locker bis, die alte Form der Sklaverei
abgeschafft und endgültig ausgerottet schien. Doch zu Beginn des 21.
Jahrhunderts stellen wir fest, dass nicht einmal die alte Sklaverei vollständig
überwunden ist. Jüngst, auf der
Anti-Rassismus-Konferenz im südafrikanischen Durban lehnten es die USA ab, sich
zu ihrer historischen Schuld in der Sklavereifrage zu bekennen. In der
Gegenwart sind neue Formen mit noch
größeren Dimensionen hinzugekommen. Die moderne Sklaverei vergibt keinen
Besitztitel, aber sie verleiht Verfügungsmacht über den anderen, die Verfügungsmacht,
ihn ökonomisch und sexuell auszubeuten und in faktischer Rechtlosigkeit zu
halten: von Schuldknechtschaft und Zwangsarbeit über die Ausbeutung von Kindern
bis hin zur Zwangsprostitution.
Sprecherin:
Sklaven im
traditionellen Sinne zu besitzen sei nicht mehr nötig, ja nicht einmal wünschenswert,
meint der amerikanische Sklaverei-Forscher Kevin Bales. Viel effizienter sei es
doch, im Sinne des modernen Wirtschaftens, eines Just-in-time-Management, die
Menschen dann zu benutzen wenn man sie braucht und sich ihrer zu entledigen,
wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Die Dritte Welt, aber ebenso die Ränder
unserer Gesellschaft, liefern genügend Nachschub für dieses Geschäft: Menschen
als Ware, als Wegwerfware.
Bales
resümiert:
Zitator:
"Auf
meinen Reisen durch alle Weltgegenden, um die neue Sklaverei zu erforschen
blickte ich hinter die Masken der Legalität, und ich sah Menschen in Ketten.
Natürlich sind viele überzeugt, so etwas wie Sklaverei gebe es nicht mehr, und
noch vor ein paar Jahren zählte auch ich zu ihnen."
Lied:
Jim Crow (The Union Boys)
Lincoln set the Negro free,
why is he still in slavery...