Atmo:
Flughalle mit Ansagen
Sprecherin:
Urlaub –
Kein Traum kann schöner sein. Raus aus dem Alltag, Schluss mit Stress, Regen,
und Kälte! Heben Sie mit uns ab, der Sonne entgegen. Wir legen Ihnen die Welt
zu Füßen. Was darf’s bitte schön diesmal sein: Andalusiens Städte, Australiens
Outback oder lieber tibetanische Klöster? Eine Kreuzfahrt auf dem Nil
vielleicht oder einfach mal Ferien auf dem deutschen Bauernhof?
Möchten
Sie relaxen oder aktiv reisen? - Wie hätten Sie es gern? Allein, mit Freunden
oder Familie? In den Robinson-Club, ins Wellness-Hotel oder auf eine Rundreise,
die keinen Tempel auslässt?
Sprecher:
Der
Reisemarkt bietet heute jeden Winkel der Erde an. Und schneidert den Urlaub
maßgerecht für alle Globetrotter zu, Urlaubskasse vorausgesetzt.
Denn das
Reisen, früher nur Privilegierten
vorbehalten, ist nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Industrieländern
zu einem Massenphänomen geworden.
Die
Welttouristikorganisation zählte im vergangenen Jahr 689 Millionen touristische
Flüge weltweit. Auch bei den Deutschen ist die Urlaubslust ungebrochen, so
Professor Christoph Becker, der Fremdenverkehrsgeografie an der Universität
Trier lehrt:
O-Ton, Christoph Becker:
Ungefähr 77%
der Deutschen unternehmen jedes Jahr mindestens eine Reise. Die Trends des
Reisens gehen vor allem dahin, dass immer häufiger gereist wird, dass häufig
nicht nur eine Reise unternommen wird, sondern auch Zweit- und Drittreisen und
noch weitere Kurzreisen im Jahr, dafür sind diese Reisen aber kürzer, also man
kommt so ein bisschen ab von der langen Urlaubsreise. Daneben wird aber auch immer weiter gereist:
die Distanzen werden immer größer, deshalb wird auch das Flugzeug immer
häufiger benutzt, zumal das Flugzeug auch relativ schnell ist und große
Entfernungen überwinden kann.
Sprecherin:
Der
Tourismus bildet weltweit den drittgrößten Wirtschaftszweig nach der Automobil-
und der Erdölindustrie. Allerdings hat sich die steile Wachstumskurve in den
letzten Jahren abgeflacht. Und auch der 11. September hinterließ im Tourismus
seine Spuren: Reiseveranstalter klagen über Rückgange bei Fernreisen.
Inzwischen gibt es zu der Frage, ob sich das Reiseverhalten nach den
Terroranschlägen des 11. September verändert hat, erste wissenschaftliche
Untersuchungen. Die Ergebnisse hat das Hamburger
BAT-Freizeitforschungsinstitut, geleitet von Horst Opaschowski, veröffentlicht:
O-Ton, Horst
Opaschowski:
Wir haben im
Januar, teilweise auch schon im Dezember Befragungen durchgeführt, können diese
Befragungen auch vergleichen mit der Golfkrise 1991. Und der wirkliche harte
Kern, der auf Reisen verzichtet hat, liegt bei vier bis fünf Prozent. Alle
anderen halten an ihren Reiseplänen fest, variieren allenfalls das
Verkehrsmittel, ansonsten hoffen sie darauf, dass die Krise bald vorbei geht, und
wechseln dann eben das Reiseziel: statt Tunesien wird dann eben Griechenland
gewählt, und dann ist die Welt wieder in Ordnung.
Sprecher:
Warum liegt
den Menschen so viel am Reisen, dass sie selbst in unsicheren Zeiten und in der
Rezession, den Rotstift lieber woanders ansetzen als beim Urlaub. Nicht
zufällig spricht man von den schönsten Wochen des Jahres. Die Urlaubsreise –
das scheint die populärste Definition von Glück zu sein.
Sprecherin:
Philosophen
und Kulturhistoriker gehen in ihrer Erklärung noch weiter. Die Mobilität, der
Drang zur Bewegung sei im Menschen tief verwurzelt. Ja, das Leben selber ist
immer wieder unter das Sinnbild der Reise gestellt worden. Das Leben ist eine Reise – schreibt der
spanische Philosoph Ortega y Gasset. Horst Opaschowski sieht in der Reiselust
eine anthropologische Konstante:
O-Ton, Horst
Opaschowski:
Die Menschen
waren mobil ehe sie sesshaft wurden, und die Mobilität ist sozusagen im
Menschen angelegt, ist ein urmenschliches Bedürfnis. Und die ganze Menschheitsgeschichte
ist auch immer eine Geschichte der Wanderungen oder der Reisen gewesen. Ob wir
nun die Kreuzzüge sehen oder die Pilgerfahrten oder die Entdeckungsreisen, die
Abenteuerreisen, die Jugendbewegung, den Wandervogel, letztlich bis hin zur
Entstehung des modernen Tourismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich glaube den
Menschen kann es noch so gut gehen, die eigenen vier Wände können noch so
komfortabel eingerichtet sein, am Ende droht vielen doch die Decke auf den Kopf
zu fallen und sie müssen raus. Und dahinter steht auch ein wenig die Angst, im
Leben etwas zu verpassen. Draußen geht die Post ab, und ich bin nicht dabei.
Sprecher:
Allerdings
enthüllt ein Blick zurück in die Kulturgeschichte, wie sehr sich Reisen im
Laufe der Zeit gewandelt hat, was Motive, Reiseformen und Verkehrsbedingungen
angeht. Auch in der Frage, welche soziale Schicht reiste, gibt es große
Unterschiede, und in welchem Maße Zwang oder Freiheit dabei regierten.
Sprecherin:
Die ersten
Reisenden verlieren sich im Dunkel der Vorgeschichte. Man vermutet, dass sie
aus Afrika, wo wohl die Wiege der Menschheit stand, nach Asien, Amerika und
Australien wanderten. In den späteren Migrationsschüben ging es auch um die
Eroberung fremder Lebensräume, d.h. die Mobilität war oft im Bunde mit Aggression
und hat Kriege provoziert.
Sprecher:
Davon künden
die ältesten Mythen. Wir lesen, dass Gilgamesch, König von Uruk und Held des
altbabylonischen Epos, zu einem Feldzug in den Libanon aufbrach.
Und
Odysseus, ein anderer früher Reisender und Held des Trojanischen Kriegs war
nicht aus freien Stücken viele Jahre unterwegs, sondern aufgrund eines
Götterfluchs. Er war ein Abenteurer wider Willen, und seine Reise eine endlose
Irrfahrt, auf der er alle Gefährten verlor. Odysseus hatte wenig Sinn für den Reiz
der Fremde, er trachtete einzig danach,
wieder in die Heimat zu gelangen, nach Ithaka, zu Frau und Kind.
Sprecherin:
Die Odyssee
spiegelt die Auffassung der Antike wider: Reisen, so dachte man, ist eine
Mühsal und ein ungnädiges Schicksal, das den Menschen sinnlos umhertreibt.
Sprecher:
In der
Spätantike gab es ein ausgebautes Straßennetz. Hier entstand tatsächlich ein
dem modernen Tourismus vergleichbares Reisen um des Vergnügens und der Erholung
willen, freilich nur für die Oberschichten. Reiche Bürger Roms verließen die
stickige Metropole und begaben sich in die Sommerfrische, sie besuchten
Sehenswürdigkeiten der Antike, zum Beispiel die Ägyptischen Pyramiden, oder
fuhren – wie im modernen Gesundheitstourismus - zu weit entfernten Heilquellen.
Sprecherin:
In den
Wirren der Völkerwanderung zerfielen die ausgebauten Römerstraßen. Und mit dem
Untergang des römischen Reiches ging auch die Rechtssicherheit verloren, die
den riesigen Verkehrsraum geordnet hatte.
Sprecher:
Im frühen
Mittealter bewegte sich nur, wer musste.
Das traf
allerdings für einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft zu. Viele Arme
verbrachten ihr Leben buchstäblich auf der Straße, da sie kein Zuhause, kein
Obdach hatten. Sie zogen als Hausierer umher, boten Gelegenheitsdienste an oder
bettelten. Nicht viel besser ging es den so genannten Vaganten, das waren
fahrende Schüler unterwegs zu den neu gegründeten Universitäten und Geistliche
auf der Suche nach einer Anstellung.
Sprecherin:
Auch die
Könige und Kaiser mussten reisen. Karl der Große besaß keine Residenz im
modernen Sinne. Seine Macht beruhte auf
leibhaftiger Präsenz, indem er vor Ort erschien, Hof hielt und Recht
sprach, Lehen vergab und Verwalter einsetzte, bevor er weiterzog.
Sprecher:
Eine weitere
bedeutende Gruppe von Reisenden bildeten die Pilger. Sie zogen auf dem
Jakobsweg ins spanische Santiago de Compostela und nach Palästina, ins Heilige
Land. Sie taten es für ihr Seelenheil. Aber ihr Wallfahrtslied – In Gottes Namen fahren wir – stimmte man
auch auf Kreuzzügen an, als Kampfgesang gegen die so genannten Ungläubigen.
Musik:
Pilgerlied: In Gottes Namen fahren wir ... (Lied Nr. 18)
Sprecherin:
Was für das
Mittelalter galt, blieb auch für die frühe Neuzeit bestimmend. Reisen war
anstrengend und gefährlich. Niemand brach zu seinem Vergnügen auf, resümiert
Wolfgang Griep, der eine Forschungsstelle für Reiseliteratur in Eutin leitet:
O-Ton, Wolfgang Griep:
In früheren
Zeiten reiste man nicht ohne einen kräftigen Anlass. Entweder war es in einem
Auftrag von einem Landesherren, Soldaten beispielsweise. Es war im Auftrag
irgendeiner göttlichen Fügung oder einer göttlichen Buße, dann waren es die
Pilger, oder es war im Auftrag von Handelsbeziehungen ... Kaufleute, Händler,
Schifffahrer, Transportunternehmer. Diplomaten reisten natürlich auch. Also
keine Reise ohne einen entsprechenden Anlass, der auch gravierend genug sein
musste, um das sichere Haus zu verlassen und sich in eine ungewisse Fremde zu
begeben.
Sprecher:
In der
Renaissance wurde aber auch der Wunsch nach geistiger Selbständigkeit und
Entfaltung der Persönlichkeit zu einem mächtigen Impuls. Die Humanisten des 15.
Jahrhunderts, Erasmus von Rotterdam, Konrad Celtis, Ulrich von Hutten und
andere fuhren zu Studienaufenthalten nach Italien. Reisen bedeutet -
etymologisch - aufbrechen, und die humanistische Bewegung war selbst ein
Aufbruch. Dem neuzeitlichen Individuum, das sich von den mittelalterlichen
Autoritäten der Kirche und der Tradition befreien und auf sich selbst stellen
wollte, gelang diese Emanzipation in besonderem Maße durch das Reisen. Reisend
bildete und festigte sich das neuzeitliche Ich.
Sprecherin:
Auch der
Adel wusste um den Wert des Reisens und schickte seine Söhne auf die so
genannte Grand Tour zu den Höfen Europas, eine Art Bildungsreise für die
Aristokratie. Wolfgang Griep:
O-Ton, Wolfgang Griep:
Im 17.
Jahrhundert wird es zur Norm, dass die Adligen eine Reise unternehmen müssen,
um ihre praktische Ausbildung abzuschließen, sich an den französischen
vorbildlichen Höfen gesellschaftlich bilden müssen, gesellschaftliche
Konversation, auch Diplomatie lernen müssen. Dass sie in Italien beispielsweise
Rechtswissenschaft lernen müssen, in England sich mit der Politik
auseinandersetzen müssen, das ist eine tradierte Norm, die bis ins 19.
Jahrhundert hinein reicht. Das sind die frühen Bildungsreisen.
Sprecher:
Die Zünfte
der Handwerker sahen es als notwendig an, dass der Nachwuchs, bevor er in der
Heimatstadt einen Meisterbrief erhielt, anderswo berufliche Erfahrungen
sammelte, so wie das deutsche Wort ‚erfahren’ ja auch von ‚fahren’ abgeleitet
ist. Die Handwerksburschen gingen auf die Walz, und dieses Wanderleben gefiel
ihnen anscheinend recht gut. Jedenfalls klagte 1674 der anonyme Verfasser eines
Reisebuchs über die "reißgierigen Teutschen", bei denen der
"Handwerker und fast jedermann, dem etwa die Mutter zehn Heller in die
Sparbüchs gesammelt, reisen" würde, nur weil "unter den Qualitäten
eines geschickten Mannes das Reisen mit erfordert" werde.
Musik:
Lied der
Handwerksgesellen: Er, er und er, der Meister lebe wohl ... (2. Strophe)
Sprecherin:
Freiheitsdrang
und Reiselust dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Reisen weiterhin mühselig war und die Fremde
viele Fährnisse enthielt, denen man ungeschützt ausgesetzt war. Man konnte
Räubern in die Hände fallen oder - nicht minder fatal - den Werbeagenten der
Armee, die mit lauteren wie unlauteren Mitteln Jagd auf neue Rekruten machten.
Sprecher:
Nie wusste
man, wann man sein Ziel erreichte. Reisen hieß aufbrechen und hoffen, dass man
irgendwann heil ankam. Die Situation besserte sich erst, als im 17. Jahrhundert
nach dem verheerenden 30jährigen Krieg allmählich ein organisiertes
Postkutschennetz mit festen Routen und geregelten Zeiten entstand. Aber nach
einem Tag in der Postkutsche, über holprige Straßen und verschlammte Wege,
fühlte man sich buchstäblich wie ‚gerädert’. Und auch die Kutschenfahrt blieb
ein Wagnis, selbst für den mächtigsten Herrscher der Zeit, den französischen Sonnenkönig
Ludwig IVX.
O-Ton, Wolfgang Griep:
Ludwig XIV
wäre einmal beinahe in einem Fluss ertrunken, weil er die Furt verpasst hat,
die Kutsche umgekippt ist und er im geschlossenen Kutschenwagen saß und nicht
mehr rauskonnte. Es gehörte zu den alltäglichen Realitäten einer damaligen
Reise, dass die Achse brach, dass die Kutsche umfiel, dass sie den Abhang
hinunterfiel ... da gab es keine
Sicherungen, da gab es keine Gesellschaft, die da noch das Netz ausspannte. das
war die alltägliche Reiserealität. Natürlich gab es wilde Tiere, natürlich war
auch bis ins weite 19. Jahrhundert hinein die Gefahr des Verirrens sehr groß,
und das war lebensbedrohlich. Da kam man nicht an ein Haus, wo man klopfen
konnte und telefonieren. Da konnte man tagelang bis zu seinem Hungertod in
wilden Gegenden herumirren, und das konnte genauso gut die Eifel wie der
Westerwald wie der Hunsrück sein. Das musste nicht auf einer einsamen Insel
passieren.
Sprecherin:
Unsere
moderne Vorstellung von Reisen setzt den Triumph von Mensch und Technik über
die Natur voraus - bis ins 19.
jahrhundert hinein galt jedoch umkehrt die Natur als übermächtig. Insbesondere
das Hochgebirge flößte den Menschen großen Schrecken ein, seine unberechenbare
Witterung, die Ödnis und Unwirtlichkeit bereitete Angst. Der Aufklärer Voltaire
nannte die Alpen ein hässliches Bollwerk, das die Völker voneinander trenne und
am besten abgetragen werden sollte. Erst langsam kam gegen Ende des 18.
Jahrhunderts ein Umwertungsprozeß in Gang, in dem sich, so der Freizeitforscher
Horst Opaschowski, das Verhältnis zur Natur wandelte:
O-Ton, Horst
Opaschowski:
Im Grunde
genommen hat es mit der Besteigung des Mont Ventoux des Dichters Petrarca
eigentlich so die erste positive Äußerung zur Schönheit der Bergwelt gegeben,
dem schloss sich dann später Rousseau an, dann der deutsche Dichter Haller, sie
führten dazu und bewirkten, dass dann auch eine zunehmende Zahl von Bildungsreisenden
sich aufmachte, bis zu Goethe und anderen und ein Loblied auf die Bergwelt und
die Schönheit der Natur sangen, bis dahin war Reisen eigentlich nur
beschwerlich, etwas was man möglichst vermied, und es gibt ja auch in der
Neuzeit Menschen genug, wie Immanuel Kant, die ihr Königsberg nie verlassen haben,
also freiwillig auch nicht dazu bereit gewesen wären.
Sprecher:
Immanuel
Kant verschlang gierig Reiseromane und ethnografische Berichte, wie sie im 18.
Jahrhundert in Mode kamen, doch selber gereist ist er nicht. Königsberg war
seine Königsburg der Rationalität. Kant verkörperte einen philosophischen
Typus, der eine unbedingte Selbstbeherrschung und rationale Kontrolle
anstrebte und der deshalb seinen Alltag in geradezu zwanghafter Weise ordnete
und ritualisierte. Daraus spricht eine Angst vor dem Anderen, vor einer
Begegnung, in der sich Unvorhersehbares ereignen könnte. Reisen jedoch bedeutet
gerade, sich dem Unvorhersehbaren zu öffnen, sich Situationen der Irritation
auszusetzen, der psychischen Verunsicherung, vielleicht sogar der physischen
Gefährdung in der Fremde. Und zu Zeiten Kants begann die Fremde buchstäblich
hinter der nächsten Ecke, wie Wolfgang Griep erläutert:
O-Ton, Wolfgang Griep:
Im 18.
Jahrhundert war, wenn man in die Kutsche stieg, eigentlich schon der Ort, den
man von dem Kirchturm des eigenen Ortes nicht mehr sehen konnte, ein fremder
Ort ... Das heißt, die Fremde beginnt hinter der nächsten Ecke.
Die großen
Welt- und Eroberungsreisen, da müssen wir schon wieder einen ganz anderen
Begriff von Fremde ansetzen. Das waren Kulturen, die in keiner Weise mit der
Ausgangskultur, aus der man kam, kompatibel waren. ... da musste man ganz neue
Mechanismen entwickeln, um mit solchen Leuten in Kontakt zu kommen. Gutes
Beispiel ist die Weltreise von Käptn Cook und Johann G. Forster, deren
Versuche, Kulturen zu beschrieben, die sie vorher überhaupt noch nicht gekannt
haben. Und man merkt deutlich, die Fremde wird nur beschreibbar im Spiegel des
Eigenen. Die Südseeinsulaner sind für Forster antike Figuren. Er nimmt die
antike Vergangenheit um zu beschreiben, was er da eigentlich sieht. ... Die
Gesellschaftsform, die er mitkriegt, diese demokratisch oder auch hierarchisch
strukturierten Familienverbände werden mit den griechischen Poleis
gleichgesetzt oder den römischen Ausgangspunkten, ... Das ist das Paradies auf Erden, und zwar das antike Paradies.
Sprecherin:
In Forsters
Reiseberichten wird die Stimme einer Zivilisationskritik hörbar, die bis heute
in den Träumen vom Reisen nachklingt. Es ist eine Gegenstimme zur Aufklärung,
zu jener Bewegung, die das 18. Jahrhundert bestimmt. Die Aufklärung will die
Welt nach den Prinzipien der Vernunft ordnen, mittels Verstand und Wissenschaft
die Natur unterwerfen. Darin verheißt sie Humanität und Fortschritt.
Sprecher:
Doch von
Anfang an ist die Aufklärung von Kritik begleitet, am nachhaltigsten
artikuliert sie Jean-Jacques Rousseau. Die Welt, so Rousseau, leide nicht an
einem Mangel an Vernunft, vielmehr an ihrer Entfernung von der Natur und vom
ursprünglichen Leben.
Sprecherin:
Die
Reisebeschreibungen Johann Georg Forsters, der James Cook auf seinen
Pazifikreisen begleitete, und andere ethnografische Berichte aus dieser Zeit
schienen Rousseaus Credo „Zurück zur Natur’ zu bestätigen. Tahiti, Hawai und
andere Südseeinseln wurden in den Reiseberichten als irdische Paradiese
gepriesen. Der französische Weltumsegler Louis-Antoine de Bougainville
beschrieb die Menschen von Tahiti als ‚sanft und gutmütig’. Inmitten
paradiesischer Üppigkeit litten sie keinerlei Mangel und könnten ungehindert
ihrer Sinnenlust nachgehen. Erst im 20. Jahrhundert haben Völkerkundler dieses
Bild korrigiert. Sie schreiben, dass sie in der Südsee autoritär
strukturierte Gesellschaften mit einem
strengen Keuschheitskult vorgefunden hätten.
Sprecher:
Aber die
Mythen vom edlen Wilden und vom exotischen Paradies leben weiter. Und die
Vorstellung, in der Ferne ein ursprüngliches Menschsein wieder zu finden, ein
Leben ohne Druck und falsche Verpflichtungen, nährt eine tiefe Sehnsucht. Ihr
Abklatsch findet sich noch in jeder Tourismuswerbung.
Sprecherin:
Rousseaus
Zivilisationskritik wurde von der Bewegung der Romantik aufgegriffen und weiter
entfaltet. Das romantische Unbehagen galt der Entzauberung der Welt durch
Wissenschaft und Technik, ihrer Kommerzialisierung durch den wachsenden
Kapitalismus. Die romantischen Dichter reagierten auf die Zeichen neuer
Entfremdung: die beginnende Vermassung des städtischen Lebens, die steife
Bürgergeselligkeit der Salons und Bälle. Sie suchten einen Weg zurück zu sich
selbst und fanden ihn draußen – in der Natur. War es vorher bitteres Los der
Ärmsten, sich zu Fuß fortzubewegen, so kommt nun das Wandern regelrecht in
Mode. Der Wanderer ist der Natur nahe, er kann sie mit allen seinen Sinnen
erleben, und dabei sich selbst im Einklang mit dem Ganzen fühlen.
Musik:
Wanderung
(Robert Schumann)
O-Ton, Wolfgang Griep:
In der
Romantik wird die Natur zum Gegensatz von Zivilisation. Unberührte Natur, ein
Landschaftserlebnis, dass einen noch einmal in die unmittelbare Natur
hineinstellt, ... Das ist eine Sache, die auch sehr stark nicht nur mit den
philosophischen Grunderkenntnissen und einer philosophischen Grundhaltung zu
tun hat, wir halten der Zivilisation den Spiegel vor, indem wir das
Ursprüngliche wieder betonen, sondern die auch mit Reisebedingungen zu tun hat.
Man kann die Natur erst dann genießen, wenn sie ungefährlich geworden ist, wenn
die wilden Tiere heraus sind, wenn das Bedrohliche fort ist. Wobei man bei
Eichendorff, bei Tieck immer noch den bedrohlichen Unterton hat. Gerade
Eichendorff, der schöne Naturschilderungen hinterlassen hat, hat eben auch, als
er im Harz unterwegs war, einige sehr bedrohliche Erlebnisse gehabt, die er in
Briefen geschildert hat, aber nie dichterisch umgesetzt hat. Er musste einmal
lange durch das schöne Selketal laufen, weil ein Wildschwein hinter ihm her
war.
Sprecher:
Während die
Romantik noch die Nähe zur Natur suchte, aber auch verklärte, begann ein neues
Verkehrsmittel das Reisen zu revolutionieren. Seit den vierziger Jahren des 19.
Jahrhunderts erschloss die Eisenbahn mehr und mehr den zentraleuropäischen
Raum. Die Zeitgenossen hatten das durchaus zwiespältige Gefühl, wie ein
Geschoss durch den Raum zu fliegen. Anfangs klagten manche über Kopfschmerzen,
weil sie die Blumen entlang dem Schienenstrang anschauen wollten, anstatt den
Blick in die Ferne zu richten. Die neuen Züge brachten die Bürger von Paris zur
Cote d’Azur, von London nach Brighton, wo schon im 18. Jahrhundert das erste
Seebad entstanden war. Die Zahl der begüterten Bürger, die sich eine Reise
leisten konnten, stieg rapide an. So formte sich ein spezifisch bürgerlicher
Tourismus der Erholung, aber auch der
luxuriösen Muße.
Sprecherin:
Die
Zumutungen des Reisens versuchte der Tourismus jedoch auszuschließen. Tour
meint etymologisch eine kreisförmige Bewegung, die Tour soll den Touristen
seelisch unverändert wieder an seinen Ausgangspunkt zurückbringen.
Der
existentialistische Schriftsteller Paul Bowles hat in seinem Roman 'Himmel
über der Wüste' einen typologischen Unterschied zwischen einem Touristen und
einem wahrhaft Reisenden formuliert:
Sprecher:
"Während
der Tourist gewöhnlich nach einigen Wochen oder Monaten nach Hause dränge,
bewege sich der Reisende, der keinem Ort zugehöre, langsam, jahrelang, von
einem Erdteil zum anderen." Ein weiteres, wichtiges Unterscheidungskriterium liegt Bowles zufolge
darin, dass der Tourist "seine eigene Zivilisation akzeptiere, ohne an
ihr zu zweifeln. Nicht so der Reisende, der sie mit anderen Zivilisationen
vergleiche und Elemente ablehne, die nicht nach seinem Geschmack seien."
Bowles Unterscheidung möchte der Frankfurter Ethnologe und Schriftsteller
Hans-Jürgen Heinrichs, der selbst sehr viel gereist ist, modifizieren.
O-Ton, Hans-Jürgen Heinrichs:
Die
Unterscheidung ist nicht falsch, aber sie ist natürlich auch vorläufig und sie
hat etwas Vorurteilhaftes an sich. Der Reisende ist natürlich auch Tourist.
Also man darf sich darüber keine Illusionen machen, man ist auch als
leidenschaftlicher Reisender ein Teil des Tourismus. Vor allen Dingen wie man
heute reist und auch die Verkehrsmittel benutzt, die auch die Touristen
benutzen. Dennoch gibt es natürlich einen Unterschied und ich würde ihn etwas
tiefer fassen, als Paul Bowles ihn fasst. Für mich ist der Reisende jemand, der
triebhaft verbunden ist mit dem Reisen, für den es eine Notwendigkeit gibt im
Reisen, der aus einer tiefen inneren Motivation, die ihm in der Regel gar nicht
selbst bewusst ist, und die ihm vielleicht erst im Laufe der Jahrzehnte oder
vielleicht erst retrospektiv also im Nachhinein bewusst wird. Der Reisende ist
gleichsam auf der Spur, der Suche seiner selbst und vielleicht gibt er
irgendwann das äußere Reisen auf und beginnt die Suche nach dem, was er im
Außen gesucht hat in sich selbst zu suchen.
Sprecherin:
"Der
kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum" - mit diesem Leitwort
überschrieb Hermann Graf Keyserling sein "Reisetagebuch eines
Philosophen", nachdem er sich 1911 auf seiner Weltreise mit der
asiatischen Denk- und Glaubenswelt nicht nur theoretisch auseinandergesetzt,
sondern sich ihr gegenüber auch im Erleben geöffnet hatte.
Sprecher:
Die Frage
nach der eigenen Identität, Selbstfindung und Selbstverlust in der Fremde,
bildet eine existentielle Thematik, die meist untergründig mitschwingt, während
an der Oberfläche andere Reisemotive hervortreten: Flucht aus dem Alltag,
Erholungsbedürfnis, Lust auf Abwechslung und Abenteuer, auch Prestigewünsche
spielen eine Rolle. Früher konnte man mit den Kanarischen Inseln imponieren,
heute müssen es schon die Malediven sein. Aber hinter allen durchsichtigen
Motiven bleibt ein undurchschaubarer Rest, eine Faszination des Reisens, die
unauflöslich scheint.
O-Ton, Hans-Jürgen Heinrichs:
Von Pascal
stammt ja dieses berühmte Wort, das ganze Unglück des Menschen käme daher, dass
er nicht zu Hause bleiben könne. Was bedeutet das? - Es bedeutet, dass es etwas
Triebhaftes gibt, den Wunsch in der Fremde etwas zu finden, was man in der eigenen
Kultur nicht findet, ... Für mich ist der tiefste Grund, dass man so etwas wie
eine Resonanzbeziehung sucht, also etwas, was in einem selbst sehr vage
vorstellbar ist, dass das eine Entsprechung findet in der Art, wie Menschen in
einer anderen Kultur sich zueinander verhalten. Also ich zum Beispiel habe bei
den Tuareg in der Sahara am ehesten das gefunden, was ich mir vorgestellt habe
unter sozialen Verhaltensformen, Umgangsformen, Ästhetik, auch körperliche
Schönheit der Menschen. Zugleich musste ich auch feststellen, dass dem ein
Mangel bei mir selbst zugrunde liegt: warum suche ich das irgendwo anders,
warum finde ich es nicht in mir selbst?
Musik:
Tuareg, Tanz
und Gesang des Medizinmannes
Sprecherin:
Reisen
eröffnet eine spannungsreiche Begegnung des Eigenen und des Fremden, die beide
dialektisch aufeinander bezogen sind. Das Fremde an sich gibt es nicht. Was uns
ungewöhnlich, merkwürdig oder fremd anmutet, ist dies nur auf der Folie
unseres eigenen kulturellen Hintergrunds, relativ zu jenen Vorstellungen und
Verhaltensmustern, die wir selber mitbringen.
Sprecher:
Das
Erlebnis der Fremde lehrt aber im Gegenzug auch die Herkunftskultur neu zu
sehen und zu verstehen. Zu Hause ist uns die eigene Kultur gleichsam zu nah und
zu selbstverständlich, als dass wir sie reflektieren könnten. Die Reise wirkt
wie ein Verfremdungseffekt, sie verschafft eine notwendige Distanz, so dass wir
im Durchgang durch Unbekanntes zu einer Wiederbegegnung und einem tieferen
Verständnis der eigenen Kultur gelangen können. Ein solcher doppelsinniger
Reflexionsprozeß, in dem man sich der anderen Kultur gegenüber öffnet und dabei
zugleich der eigenen innewird - das war die ursprüngliche Idee der Bildungsreise.
Sprecherin:
Der
Kulturanthropologe Helmuth Plessner hat darauf aufmerksam gemacht, dass solche
Erfahrungsprozesse durchaus unangenehm sind, denn sie entspringen Momenten des
Bruchs und Augenblicken der Irritation, der Verunsicherung, auch des
Schreckens. "Der Schock des Erlebnisses", schreibt Plessner,
"entbindet den Blick: wir sehen mit anderen Augen."
O-Ton, Hans-Jürgen Heinrichs:
Ja, der
Schrecken gehört natürlich dazu, wenn man sich selbst aussetzt der Fremde.
Freud hat ja diese berühmte Formel vom inneren Ausland geprägt, die Seele als
inneres Ausland. Und wenn man sich eben der Fremde aussetzt, dann wird man im
äußeren Ausland mit dem inneren Ausland konfrontiert, und das hat natürlich
Schrecken zur Folge, wenn ich mich in einer fremden Kultur mit einem Ritual
auseinandersetze, das mir angst macht, dann ist es eine Angst, die in mir an
etwas rührt, mit dem ich mich bisher nicht auseinandergesetzt habe. Und Reisen
hat immer mit Schrecken und Irritation zu tun, und stellt letztlich alle meine
Erkenntnisformen und Kategorien von Grund auf in Frage.
Sprecher:
In dieser
Hinsicht ist der Tourismus geradezu das Gegenteil des Reisens. Denn der Tourist
vermeidet die Begegnung, er sucht nicht das Andere, sondern das Selbe. Er will
sich nicht irritieren, sondern bestätigen lassen. So liest er die heimische
Zeitung, trinkt das gewohnte Bier und unterhält sich mit den mitgereisten
Landsleuten. Die fremde Kultur ist für ihn zu einer leichtverdaulichen
Folklore aufbereitet und liefert im übrigen nur die Kulisse. Sonne, Sand und
Palmen bilden die exotischen Requisiten eines Urlaubsorts, der überall und
nirgends liegt. Deshalb hat der Tourismus ebenso wenig zu einem besseren
Verständnis der fremden Kultur wie zur Selbstreflexion der eigenen
beigetragen. Horst Opaschowski, Leiter des BAT-Freizeitforschungsinstituts in
Hamburg:
O-Ton, Horst
Opaschowski:
Wir wissen
aus unseren Tourismusforschungen, dass die meisten Urlauber zwar das ganz
Andere suchen, also eine fremde Umgebung haben wollen, aber sich letztendlich
nicht einlassen wollen auf die fremden Lebensweisen, sie möchten sie eigentlich
nur so aus der Distanz beobachten und betrachten, da gibt es wörtliche Äußerungen
wie "Es ist schon ganz interessant einmal zu sehen, wie die leben" - oder
"Man hat ja sonst nicht so viel Gelegenheit, Einheimische oder Fremde
kennen zu lernen", also sie gehören schon zum Urlaubsleben hinzu,
"Sie stören mich nicht" oder wie eine junge Mutter sagte, "Ich
habe schon einmal versucht die Kinder miteinander spielen zu lassen, damit die
auch lernen, wie gut es ihnen geht" - also Fremdheit in originaler Version
ist durchaus erwünscht, gehört so zur Urlaubskulisse, zum Urlaubsgefühl hinzu,
Einheimische sollten also schon echt sein, aber bitteschön sie sollten nicht zu
nahe kommen, sie sollten keine Wünsche äußern und sie dürfen vor allen Dingen
nichts fordern. Und deshalb muss man leider sagen, dass dieser Wunsch, Land
und Leute kennen zu lernen, letztlich aus dem Oberflächlichen nicht
herauskommt, nur Kulisse meint.
Sprecherin:
Die Kritik
am Tourismus ist so alt wie der Tourismus selbst, sie begleitet ihn seit den
Anfängen. Schon im 19. Jahrhundert klagte beispielsweise Fontane in seinem
Roman Cecile darüber, dass die Touristen im Harz ihre Butterbrotpapiere
fallen ließen.
Immer wieder
gab es Anstrengungen, die Trampelpfade eines zunehmenden Massentourismus zu
verlassen. Vor allem Künstler waren Vorreiter eines individuellen Reisens:
August Macke und Paul Klee reisten nach Tunis, wohnten und malten an den Küsten
des Lichts. Gauguin kehrte dem Abendland gänzlich den Rücken, vagabundierte
nach Martinique und Tahiti, um sich schließlich auf den Marquesasinseln in der
Südsee niederzulassen.
Sprecher:
Bis heute
rebellierte vor allem die Jugend in immer neuen Schüben gegen das etablierte
Reisen. Jack Kerouac und die Beatgeneration in den fünfziger, die Hippies und
Aussteiger in den sechziger und siebziger Jahren, bis zum breiten Spektrum des
Alternativtourismus seit den 80ern.
Doch es
begann schon um 1900, so Christoph Becker, Professor für
Fremdenverkehrsgeographie an der Universität Trier, als der Wandervogel die
Reihe der Jugendbewegungen eröffnete.
O-Ton, Christoph Becker:
Der
Wandervogel war auch eine Gegenbewegung, gegen die Reisen des Bürgertums, das
seinen ganz besonderen Stil mit besonderen Konventionen entwickelt hatte. Und
dagegen hat der Wandervogel aufbegehrt. Er hat sich anders gekleidet und ist
vor allem auch ganz anders gereist. Man hat eben nicht mehr die Hotels und
Pensionen und die Sommerfrischen aufgesucht, sondern ist zu Fuß über Land
gezogen, hat häufig beim Bauern übernachtet, sehr einfach gelebt, zumal man
auch nicht sehr viel Geld zur Verfügung hatte, und hat so ein bisschen das
andere Leben geprobt, was auch sonst immer einmal wieder kommt.
Musik:
Unterwegs
nach Süden (Hannes Wader)
Sprecherin:
Die Reise
ist auch eine Art Ausnahmezustand. Man fühlt sich gleichsam von sich selbst
befreit und seltsam leicht. Wo uns der Alltag das Gewicht der Wirklichkeit
aufbürdet, taucht nun eine Welt der Möglichkeiten auf, schillernd, unbestimmt,
aber voller Verheißungen. Das Universum der Reise verspricht all das, was die
eigene Erwartung hineinprojiziert.
Sprecher:
Darin liegt
das elektrisierende Hochgefühl des Aufbruchs begründet, manchmal aber auch die
bange Befürchtung, ohne die Stützen von Arbeit und Alltag in eine abgrundtiefe
Leere und Sinnlosigkeit zu stürzen. Aus diesem Grund meiden immer noch viele
Menschen das Reisen. Sie möchten nicht ihre vertraute Umgebung gegen ein
anonymes Hotelzimmer eintauschen, mag es auch noch so komfortabel sein.
Sprecherin:
Dennoch hat
der Tourismus im Laufe des 20. Jahrhunderts alle sozialen Schichten und Gruppen
erobert. Pauschalreisen wurden erschwinglich für breite Bevölkerungsschichten.
Nach dem ersten Weltkrieg packten außer dem gehobenen Bürgertum auch
Angestellte und Facharbeiter ihre Reisekoffer. Und nach dem zweiten Weltkrieg
im Zuge des Wirtschaftswunders wurde das Reisen endgültig demokratisiert. Nun
reisten buchstäblich alle, sogar Bauern, die traditionell sesshafteste Gruppe,
begannen sich für 14 Tage von ihrer Scholle zu trennen, wenn es der Betrieb
zuließ.
Sprecher:
Der
Massentourismus verlor jedoch spätestens dann seine Unschuld, als ökologische
Schäden in den Alpen und auf vielen Ferieninseln unübersehbar wurden. 1975
veröffentlichte Jost Krippendorf seine aufrüttelnde Studie „Die
Landschaftsfresser“. Seitdem entwickelt und diskutiert man verschiedene
Konzepte vom sogenannten Sanften Reisen über die Idee eines nachhaltigen
Tourismus, die das Reisen ökologisch und sozial verträglicher gestalten sollen.
Sprecherin:
Dazu gehört
auch die Selbstreflexion der Reisenden. Die Einsicht, dass Reisen doch mehr meint, als in kürzester Zeit
möglichst weit zu fahren und möglichst viele Orte abzuklappern. Zwar definiert
die Fremdenverkehrswissenschaft Reisen als Ortswechsel, als Bewegung im
Raum. In Wahrheit entfaltet sich eine Reise jedoch in mehreren Dimensionen. Zur
räumlichen tritt eine zeitliche Bewegung hinzu, z.B. als Hinwendung zur
Geschichte des bereisten Landes oder auch als Erinnerung an Privates. Und die
Erinnerung verweilt nicht nur rückwärts gewandt im Vergangenem, sondern sie
läßt auch Bilder und Wünsche aufsteigen, die in die Zukunft vorauseilen, die
Pläne und Phantasien freisetzen.
Sprecher:
Auch die
Ebene des Imaginären ist wichtig, die Tagträume und die Lektüre: lesend begibt
man sich gleichsam noch auf eine zweite Reise in der Reise. Alle diese Ebenen sind miteinander
verschränkt, so dass sich - im glücklichen Fall - die äußere Reise in einer
inneren fortsetzt und vertieft.
Musik:
Die wahren
Abenteuer sind im Kopf (André Heller)
Sprecherin:
Den Sinn musst Du wechseln nicht den
Himmelsstrich, schrieb Seneca. Ist
wirklich Ortswechsel nötig, um Abstand zu gewinnen und Muße? Um vielleicht eine
neue Perspektive zu finden und sich innerlich weiter zu entwickeln. Oder ist die Idee eines Urlaub zu Hause, in
der eigenen Stadt, nur eine Illusion?
O-Ton, Horst Opaschowski:
Das
Abstreifen des Alltagskleides und das Hineinschlüpfen in die Urlauberrolle ist
wohl für viele ungeheuer wichtig, und deswegen sagen auch viele, Urlaub daheim
ist nicht möglich. Weil sie das eigentlich immer mit dem Kontrasterlebnis
verbinden, Kontrast zum Zuhause, zu dem Gewohnten, und natürlich auch Kontrast
zu sich selbst, insofern spielen ja viele im Urlaub eine Rolle, wie man ja
generell sagen muß, dass die Urlaubswelten zunehmend Szenerien werden, sie
werden inszeniert wie ein Theaterspiel, dramaturgisch in Szene gesetzt und die
Urlauber spielen dann ihre Rollen, ... Wobei man die Miturlauber als Mitspieler
benötigt, für das eigene Selbstwertgefühl, die Anerkennung, das Prestige, das
Sehen-und-gesehen-werden, und ich glaube die gegenwärtig boomenden
Urlaubswelten sind künstliche und auch inszenierte Welten, also die etwas
bieten, was die Natur nicht mehr bieten kann und was auch erklärt, dass
mitunter Kulissen, z.B. Filmkulissen mehr Resonanz etwa bei amerikanischen
Touristen finden als die Originale in Ägypten oder Griechenland.
Sprecher:
Das Reale
scheint den hochgezüchteten Erlebniswünschen, den Ansprüchen an Perfektion,
Attraktivität und Anschaulichkeit nicht mehr zu genügen. Erlebnis heißt das
Zauberwort unserer Tage, aber nicht authentische Freude an der Natur wie in der
Romantik ist gefragt, sondern künstlich arrangiertes Vergnügen. Im vergangenen
Jahrzehnt ist ein ganze Palette von Freizeit- und Ferienparks entstanden, von
den Spaßbädern über die Phantasia- und Disney-Lands, über Indoor-Ski-Anlagen, bis hin zu komplett
synthetischen Urlaubswelten, die unter
einer Kuppel Sommer, Strand und Wellengang für den Besucher inszenieren.
Sprecherin:
Hier werden
die Erlebnisse gleichsam vorgefertigt und zum Verzehr bereitgestellt sind.
Anlagen im Stile der Walt-Disney-Parks gleichen aufgeklappten Fernsehgeräten,
in denen man nun umherspaziert.
Manchen
scheint diese Kritik an den modernen Kunstwelten überzogen, vor allem wenn man
wie die Fremdenverkehrsgeografin Anja Brittner von der Universität Trier
historische Vergleich heranzieht.
O-Ton, Anja Brittner:
Diese Welten
werden als künstliche Welten bezeichnet, aber man muss sich auch die Frage
stellen, ob sie denn so künstlich sind...., wenn man ein bisschen in der
Vergangenheit gräbt, findet man auch bereits künstliche Welten in Form von
Landschaftsparks, Landschaftsgärten, wie es sie schon gegeben hat, ab Mitte des
17. Jahrhunderts oder auch dann im 18. Jahrhundert als die französischen und
englischen Landschaftsgärten ihre Großzeit hatten, die waren auch inszeniert,
es gab damals schon Musterblätter für Felsentwürfe, die den Besucher in eine
bestimmte Stimmung versetzen sollte, so wie das heute mittels der Architektur
und der ganzen Kulisse, die in den Ferienwelten auch vorhanden ist,
beabsichtigt ist.
Sprecher:
Die
künstlichen Urlaubs- und Freizeitwelten existieren ohne Anbindung an eine
bestimmte Kultur oder Geschichte. Deshalb ist der Ort ihrer Errichtung
beliebig. Mehr und mehr beliebig scheinen heute überhaupt die Reiseziele zu
werden. Die moderne Reise, das erkannte schon Siegfried Kracauer in den
zwanziger Jahren, wird um ihrer selbst willen unternommen. Sie ist kein durch
ihr Ziel bestimmter Weg, sondern reines Unterwegssein. Nicht um die Ankunft
geht es, sondern um die Bewegung, um die Mobilität.
O-Ton, Horst
Opaschowski:
Bei jungen
Leuten haben wir heute oft schon den Eindruck, das für sie das Unterwegssein
wichtiger ist als das Ankommen, d.h. sie halten sich mitunter mehr im Zug auf,
z.B. bei den Interrail-Fahrten, benutzen den Zug als Aufenthalts-, als
Speise-, als Schlafraum und sind also mehr im Zug unterwegs als an den
eigentlichen Zielen, nämlich den Metropolen Europas. Also hier deutet sich
etwas an, was die Amerikaner hopping nennen, nicht mehr lange verweilen an
einem Punkt, ganz schnell wieder weiter, im Urlaub ist dann island-hopping
angesagt, eine Insel reicht nicht mehr, nein schnell weiter zu den nächsten
zwei, drei um sie kennenzulernen, ob nun Mallorca, Ibiza oder Menorca oder die
karibische Inselwelt, das ist das was in Zukunft gefragt ist, und das wirkt
sich letztlich auf das gesamte Alltagsleben aus.
Sprecherin:
"Wer
aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig Flüchtigern noch als wir
selbst", fragte Rainer Maria Rilke zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Heute
könnte man darauf antworten, diese Fahrenden sind gar nicht mehr die anderen,
eine bestimmte Gruppe sozialer Außenseiter. Fahrende sind vielmehr wir alle
selbst. Denn das Unterwegssein kennzeichnet die moderne Existenz des Menschen
in grundlegender Weise: Mobilität, Flexibilität, Bereitschaft zur Veränderung
werden heute beruflich wie privat von jedem erwartet. Kein Beruf, keine
Beziehung, keine Partei oder Weltanschauung stellt einen Anker für das gesamte
Leben dar. Die Bindungen an die festen Werte und Vorstellungen der Tradition
sind gekappt, wir sind auf freier Fahrt, wo der Kurs, die Orientierung ständig
neu gefunden werden muß.
Sprecher:
Dieses
moderne Lebensgefühl des Unterwegsseins erhält im Reisen seinen konkreten
Ausdruck. Zugleich bietet das Reisen die Chance "Die unerträgliche
Leichtigkeit des Seins" - wie Milan Kundera die moderne Existenz nannte -
bewußt anzunehmen und zu einem positivem Erlebnis umzugestalten.
O-Ton, Hans-Jürgen Heinrichs:
In der Tat
ist Reisen heute etwas, was mit zwei entscheidenden Komponenten in Verbindung
zu bringen ist. Das eine ist: unser heutiger Arbeitsmarkt ist ein
internationaler Arbeitsmarkt von Menschen, die jederzeit flexibel von einem zu
einem anderen Ort sind, ... also Reisender auch als eine Form des modernen
flexiblen Arbeiters. Das andere ist, was man als Nicht-Orte bezeichnet hat,
... unser Leben ist von Durchgangsorten bestimmt eigentlich, wir fahren
über die Autobahn, nicht um dort zu bleiben, sondern um woanders hinzukommen,
wir gehen durch die Supermärkte
hindurch, wir gehen durch die Bank hindurch, wir sind ständig am Flughafen,
wir sind ständig an Durchgangsorten, wir sind wirklich Passagiere geworden der
modernen Welt, und ... da verliert die Vorstellung des Reisens all ihren mythischen
Glanz und wird zu einer Komponente der Moderne, auf die man dann noch einmal
ganz neu zu sprechen kommen müßte.
Sprecherin:
Die Grenzen
zwischen Reisen und Nichtreisen, zwischen Unterwegs- und Zuhausesein
verschwimmen, weil die Dynamik der Moderne die Lebensform einer traditionellen
Seßhaftigkeit zunehmend auflöst. Wir leben in einer Kultur der Beschleunigung.
Menschen, Güter und Informationen werden in einem vorher nicht gekannten Tempo
durch Raum und Zeit katapultiert.
Sprecher:
Aufgrund der
Fortschritte der Informationstechnologie prognostizieren manche Beobachter eine
gegenläufige Entwicklung. Demnach würden Manager künftig nicht mehr so viel
reisen und stattdessen über Internet und Videokonferenz miteinander
kommunizieren. Und Freizeitreisende fänden es spannender, am PC über den Globus
zu surfen, anstatt auf der Autobahn im Stau zu stehen oder auf dem Flughafen in
der Wartehalle. Gehört dem virtuellen Reisen die Zukunft? Reiseforscher wie
Anja Brittner widersprechen:
O-Ton, Anja Brittner:
Ich bin der
Meinung, dass man sich beruflich mehr im Internet fortbewegen wird über Video-
und Telefonkonferenzen etc, aber dass virtuelle Reisen nicht die Funktion einer
Erholungsreise oder einer Reise aus Freude ersetzen werden. Dafür ist
virtuelles Reisen im Internet nicht greifbar genug, und es ist kein Ersatz für
eine Haupturlaubsreise oder für eine Reise an einen realen Ort, dieser
Tourismus ohne Raum – wie man ihn bezeichnen möchte - wird sich in der Form
nicht umsetzen, auch nicht im Internet.
Sprecherin:
Die
Mobilität wird vermutlich noch zunehmen. Schon heute ist der Mensch der
westlichen Gesellschaft permanent unterwegs: er lebt in Autos, Bussen, U-Bahnen
und Zügen, in Wochenendfreizeiten und auf Dienstreisen. Von einem Kurzurlaub
zurück, im Geiste aber schon auf dem
kommenden Fortbildungsseminar hat er kurz seine Wohnung aufgesucht. Der
geographische Wohnort bildet nicht mehr "die Erfahrungsgrundlage des
Menschen", schreibt der französische Philosoph Paul Virilio, er ist - nur
noch "ein beim Hin- und Zurückfahren erreichbarer Pol".
Sprecher:
So ähnelt
die Situation der Gegenwart in spiegelverkehrter Weise dem Mittelalter. Im
Mittelalter waren vor allem die Ärmsten unterwegs, verglichen mit heute
bewegten sie sich im Schneckentempo, nämlich zu Fuß.
In der
Gegenwart katapultieren sich die Menschen mit den schnellsten Verkehrsmitteln
rund um den Globus, und je weiter sie auf der Karriereleiter hinauf geklettert
sind, desto höher ist auch ihre Mobilität. Das gilt nicht nur für Politiker und
Top-Manager. Auch Wissenschaftler trifft man weniger in Labors und Bibliotheken
als unterwegs - auf Kongressen und Tagungen, während
Forschungsreisen und Gastprofessuren.
Sprecherin:
Bei all dem
handelt es sich jedoch nicht um berufsbedingte Zwänge, die dem Einzelnen
äußerlich blieben. Die Menschen haben die erforderliche Mobilität vielmehr
verinnerlicht. Inzwischen übertrifft das Verkehrsaufkommen in der Freizeit, der
so genannte Spaßverkehr noch den Berufsverkehr. Der Ausflugsboom bietet das
Bild eines rastlosen Umherirrens auf der Suche nach einem Leben, das vermeintlich
gerade woanders stattfindet. Und die Reiselust verwandelt sich zunehmend in
Reisesucht, verrät Züge einer Manie, die die Maßlosigkeit des Umherfahrens
mit einem erfüllten Leben verwechselt.
Musik zum
Ausklang:
Lied: Heute
hier, morgen dort ... (Hannes Wader)