Atmo:
PC Start, Windows-Betriebssystem, Töne zum Programmstart
Claudia Klinger, O-Ton:
Ich stehe
morgens auf, und sobald das Nötigste getan ist, begebe ich mich mit Kaffee -
und leider auch Zigaretten - online, und rufe erst mal Emails ab und schaue,
was so anliegt, und beantworte wiederum allerlei Anfragen, und so geht das im
Prinzip den ganzen Tag weiter, im Stunden- oder auch 2-Stunden-Abstand, je
nachdem was für Arbeiten ich mir dazwischen lege, die ich mir ungestört gönne.
Es ist nicht
nur die Arbeit, sondern seit es das Internet gibt, sind auch alle anderen
Bereiche des täglichen Lebens davon erfasst: Die Mehrheit meiner heutigen
Freunde und Bekannten habe ich im Internet kennen gelernt. Und auch die haben
wiederum die Mehrheit ihrer Freunde und Bekannten im Internet kennen gelernt.
So wie auch alle Kunden, Klienten und sonstigen Zusammenhänge, auch den Arzt,
was immer man braucht, da schaut man erst einmal, was gibt es im Internet, wer
hat dort eine Website und verrät etwas über sich.
Sprecher:
Claudia Klinger selbst verrät viel über sich. Auf ihrer Homepage führt sie ein
digital diary, ein Web-Tagebuch im Netz, wo sie in lockerer Folge Erlebnisse
veröffentlicht und Reflexionen über die Welt in- und außerhalb des Netzes. Sie
nennt es ein Philosophieren in der ersten Person. Claudia Klinger arbeitet als Webdesignerin, darüber
hinaus hat sie verschiedene Webprojekte entwickelt, unter anderem leitet sie Kurse
im kreativen Schreiben. Claudia Klinger lebt im Netz, ihre Homepage ist wie
selber sagt ihre Heimat. Von dort spinnen sich tausende Fäden in die unendliche
Weite des Cyberspace, der ihr weit mehr und vor allem interessantere Kontakte
verspricht als die reale Umgebung.
Claudia Klinger, O-Ton:
Es ist einfach
ein sehr großes Netz, das ich da auswerfen kann, in dem die Wahrscheinlichkeit
sehr viel höher ist, dass sich passende Menschen einfinden, als wenn ich
einfach in eine Kneipe oder zu einer Veranstaltung gehe. Die Veranstaltungen im
realen Leben, wie es so schön heißt, wenn man sich die einmal anschaut, sind
doch in der Regel so, dass man irgendwo hingeht, und irgendetwas konsumiert,
ein Programm, und dann geht man hinterher noch einen trinken, also das ist
irgendwie nicht richtig kreativ, ich habe davon nicht so viel und die
Möglichkeit neue Leute kennen zu lernen auf solchen Ebenen ist relativ gering,
da brauchen Sie nur einmal herumzufragen, das ist Tatsache so.
Sprecherin:
Dagegen
prophezeite der Sozialwissenschaftler Bernd Guggenberger, Rektor der
Lessing-Hochschule in Berlin, 1997, als das Internet boomte, in seinem Buch
„Das digitale Nirwana“, dass die Netzwelt die Menschen einsamer machen würde.
Das Internet fördere Berührungsängste, die Menschen würden einander ausweichen
und das Soziale Schaden nehmen. An dieser Diagnose hält er auch heute fest:
Bernd Guggenberger,
O-Ton:
Die Welt
wird immer künstlicher. Die ursprünglichen Sozialbegegnungen nehmen einfach ab,
dass sich Menschen wie Du und Ich begegnen, dass wir uns direkt angucken, dass
wir ein bisschen Zeit haben, auch das spielt eine Rolle, Sozialbegegnungen
finden immer in der Zeit statt, …Die Chancen den anderen wirklich
kennenzulernen, ihn einzulassen bei sich selber, die Wahrnehmungsfilter zu
durchdringen, das erfordert Zeit, das hat man in der Regel weder im Netz noch
in der immer flüchtiger werdenden realen Begegnung, also kurzum was hat sich
verändert: die Welt wird immer künstlicher, wir leben in einem artificial
enviroment. In einer Umgebung die durch das Zwischentreten von Medien, die
unmittelbare Mensch-zu-Mensch Begegnung im Visavis an den Rand drängt.
Musikalisches
Intermezzo
aus: Skyphone, Fabula
(auch die folgenden Intermezzi)
Sprecher:
Eine
mehrjährige internationale Studie, deren Ergebnisse jüngst veröffentlicht
worden sind, widerspricht Guggenbergers Diagnose. „Der Mythos von der sozialen
Isolation des Surfers ist klar widerlegt“, sagt Jo Groebel, Direktor des
Europäischen Medieninstituts, das die Umfrage in Deutschland durchführte. Internetnutzer
reduzierten demnach ihren Fernseh-Konsum und seien sozial aktiver als Nichtnutzer.
Florian Rötzer merkt allerdings an, dass diese internationale Studie von
Unternehmen wie AOL, Microsoft, Hewlett Packard, Sony gesponsert wird.
Sprecherin:
Bernd
Guggenberger misstraut empirischen Befragungen. Als Sozialwissenschaftler kennt
er den psychischen Mechanismus, dass Menschen gern ihrem Wunschbild gemäß antworten.
Im Übrigen empfiehlt er bei den viel gepriesenen neuen Kontakten via Internet
genauer hinzuschauen, was und wie hier kommuniziert wird.
Bernd Guggenberger,
O-Ton:
Die Tatsachen,
dass Menschen miteinander Nachrichten des Typs „It’s raining today“– „What are
you doing?“, - oder Banalitäten dieses Typs austauschen - ich habe mich viel um
die Inhalte der ausgetauschten Mailboxnachrichten gekümmert - wenn Schulkinder
aus Buxtehude mit anderen aus der Bronx kommunizieren, Banalitäten austauschen
und das jetzt als großer Brückenschlag über den Atlantik gefeiert wird, dann
bedeutet das doch nicht, dass jemandem, der als pickliger einsamer Hacker-Knabe
existiert und gerne eine Freundin hätte, in irgendeiner Weise wirklich geholfen
ist. …Ein bisschen mutet dieser Hochgesang auf die sozialen Segnungen des
Internet an, wie wenn jemand, der das Bein gebrochen hat, jetzt das hohe Lied
auf seine Krücken, auf seine Gipsschienen am Bein singt, - die helfen mir auf
Zeit, aber natürlich um wieder selbständig gehfähig zu werden.
Sprecher:
Der
Hacker-Knabe, der sich ausschließlich von Chips und Cola ernährt, von seinem
Monitor nicht mehr loskommt und andere Wesen nur noch via Netz wahrnimmt, den
gibt es vielleicht immer noch, aber er ist nur ein Benutzertypus unter vielen
und nicht mehr repräsentativ. 10 Jahre nach der Einführung des World Wide Web,
womit der unaufhaltsame Siegeszug des Internet begann, wird das Netz heute
massenhaft genutzt.
Sprecherin:
Aus der
Arbeitswelt ist es ebenso wenig wegzudenken wie aus der Freizeit. Aber die
Nutzung geschieht sehr unterschiedlich und vielfältig: Manche surfen nur,
andere schreiben hauptsächlich emails, wieder andere klicken sich in die
Chatrooms, um sich dort mit anderen zu unterhalten, vor allem zu flirten. Dann
gibt es diejenigen, die vom ebay-virus angesteckt sind, und ständig den
Auktionsstand abfragen müssen. Oder Leute, die Bankgeschäfte abwickeln, Reisen
buchen oder auf der Jagd nach Schnäppchen ständig im Netz umherstreifen. Noch
andere saugen nächtelang gierig Musik, Filme, Programme in der Größenordung von
Gigabytes aus dem Internet, um die Beute auf ihrem Rechner zu horten oder
weiterzuleiten.
Sprecher:
Und schließlich
gibt es eine schier unendliche Zahl von so genannten Mailinglists, das sind Diskussionsforen
zu nahezu jedem Thema. Parsimony.net veröffentlicht eine aktuelle Hitliste der
meistbesuchten Foren. Unter den ersten zehn finden sich Fangruppen von
Fußballclubs, diverser Auto- und Motorradmarken, und mailing lists, die um das
Thema Beziehung kreisen. Absolute Beginners – Menschen ohne
Beziehungserfahrung, heißt ein vielbesuchtes Forum. Ein anderes „Sexy Outfit’, da
werden viele PinUps gezeigt, durchsetzt von kommerziellen Pornographie-Anbietern,
die mit Links zu ihren Seiten hinüberlocken und Geschäfte machen wollen.
Sprecherin:
So hat sich die
Welt des Netzes in eine Vielfalt von Welten diversifiziert, die miteinander
nicht viel gemeinsam haben, außer dass sie denselben technischen Kanal benutzen.
Das Netz ist eins, doch es bedeutet vieles:
unerschöpfliche
Informationsquelle, schnellster Kommunikationskanal, Kunstgalerie und
Klatsch-Ecke genauso wie seriöses Kaufhaus, Nachtbar, Spielhölle und Pornographiewinkel. Und vieles
andere mehr.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecher:
Mindestens
in den reichen Ländern gehört das Internet inzwischen zum Alltag – als
Bestandteil eines modernen Menschseins. Doch wie wirkt sich das Medium auf den
Menschen aus? Löst das Internet seine Verheißungen ein? Bringt es die große
Freiheit? Auf dem gigantischen virtuellen Marktplatz kursieren auch menschenverachtende
Texte und Bilder, rassistische Ideologie und Kinderpornographie.
Sprecherin:
Längst überfällig werden
solche ethischen und anthropologischen Fragen inzwischen in den
Humanwissenschaften diskutiert. Die Philosophie hinkt hinterher, wofür sie ihre
klassische Begründung hat: Die Eule der Minerva erhebt sich in der Dämmerung zu
ihrem Flug, schreibt Hegel, und meint damit dass die philosophische Erkenntnis
erst dann gelänge, wenn Phänomene auskristallisiert, wenn Prozesse
abgeschlossen seien. Doch es scheint, dass sich die akademische Philosophie
ohnehin lieber in Philosophiegeschichte und klassischer Textexegese aufhält.
Bezeichnenderweise sind es Außenseiter, die sich den Fragen der neuen Zeit
stellen.
Rafael Capurro, O-Ton:
In der Tat,
die Philosophie hat sich erst seit einigen Jahren mit der Frage des Computers
näher befasst, natürlich gibt es Ansätze, Günter Anders, Vilem Flusser, aber
die meisten dieser Ansätze entstanden vor der Internet-Zeit, obwohl natürlich
der Computer da war, die Digitalisierung, aber die Entstehung des Internet hat
alles sehr stark revolutioniert, auch das philosophische Denken. Kann man
sagen.
Sprecher:
Rafael
Capurro, aus Uruguay stammend, Professor für Informationswissenschaft und
Informationsethik an der Fachhochule Stuttgart, lehrt zugleich Philosophie an
der Stuttgarter Universität. Capurro gehört zu den wenigen Wissenschaftlern,
die zwei Seiten zusammenführen. Fachliche Kenntnis der modernen
Informationssysteme verbindet sich bei ihm mit philosophischer Reflexion. Seine
philosophische Arbeit zum Informationsbegriff, obwohl schon 1978 verfaßt, ist
immer noch ein Standardwerk.
Sprecherin:
Rafael Capurro,
der seine Veröffentlichungen konsequent auch ins Netz stellt, hat, im Anschluß
an Heidegger, eine These aufgestellt über den grundlegenden Wandel im Seinsverständnis,
der sich im Informationszeitalter vollzieht.
Rafael Capurro, O-Ton:
Eine Epoche
wird nicht zuletzt dadurch bestimmt, dass die Menschen einen Maßstab haben für
das, was sie als real erachten, eine Seinsthese, wenn man das philosophisch
ausdrücken will. Wer bestimmt was als seiend zu gelten hat, was ist der
Maßstab. Und das pflegt man in der Philosophie eine Ontologie zu nennen, oder
früher eine Metaphysik …. Platon hatte die Ideen für das was als Maßstab zu
gelten hat, dementsprechend wurden alle Erscheinungen an diesem Maßstab
gemessen, …. Und wenn Sie das in diesem großen Kontext sehen, … dann könnte man
heute … sprechen von einer Art digitaler Metaphysik, oder Ontologie, d.h. dass
das Digitale der Verstehenshorizont ist, in dem wir alle Dinge entwerfen, indem
wir etwa sagen: ich habe verstanden, was etwas ist, wenn ich es digital
manipulieren kann.
Sprecher:
Capurro
behauptet, dass eine geistige Umwälzung stattfindet, die derjenigen Newtons
vergleichbar sei. So wie die Newtonsche Physik die Natur erklärte, indem sie sie
mathematisch erfasste, so unterliegen heute alle Phänomene dem digitalen Code. Bilder,
Töne, Texte, alles lässt sich in Bits und Bytes umwandeln und umgekehrt wieder daraus
erzeugen. Das Digitale selber ist damit gleichsam zum Nenner des Wirklichen
geworden, sozusagen die Seinsprüfung.
Sprecherin:
Folgt man
Capurros These, so drängen sich weitere kritische Fragen auf: Was geschieht mit
all dem, was sich nicht digitalisieren lässt? Was wird aus Ironie und Witz, die
ein Rechner nicht versteht, was aus der Poesie, aus den Paradoxien der Sprache?
Fällt das alles ins Nichts? Was wird aus menschlichen Gefühlen und Stimmungen?
Reduzieren sie sich auf ein halbes Dutzend Smileys, Zeichenkürzel, die man in
seine Emails und Chat-Äußerungen einstreut?
Musikalisches
Intermezzo
Sprecher:
Der
deutschjüdische Kommunikationswissenschaftler und Philosoph Vilém Flusser, oft
als digitaler Denker verspottet, hat früher als andere begriffen, dass wir in
einem kulturellen Umbruch leben und versucht die Entwicklungstendenzen
auszuloten. Flusser, der 1991 verstarb, hat den Aufstieg des Internet nicht
mehr erlebt, aber die Idee der Vernetzung theoretisch vorweggenommen und die
möglichen Auswirkungen der Medien auf den Menschen diskutiert.
Sprecherin:
Flusser unterscheidet zwei Schaltpläne der
Medien, die er einander idealtypisch gegenüberstellt: das positive Modell des
Netzes und das negative des Bündels.
Fernsehen, Radio und Presse liefern das
Negativbeispiel: Ihre Bündelstruktur verweist auf ein Zentrum, von dem alle Botschaft
strahlenförmig ausgesendet wird, aber eben nur über Einbahnstraßen, wenn man
einmal von den rudimentären Feedbacks wie Hörerpost und Leserbriefen absieht.
Die Empfänger sind von einander isoliert, sie stellen bloße Konsumenten dar,
eine Masse, betont Flusser, die in Verantwortungslosigkeit versinkt, weil man
sie von der Möglichkeit des Antwortens systematisch abgeschnitten hat. ‚Das
Zeug ist falsch geschaltet’ – schimpfte Flusser über Funk und Fernsehen.
Sprecher:
Dagegen berge das Netzmodell, so wie Flusser
es schon im Post- und Telefonssystem verwirklicht fand, emanzipatorisches Potential.
Wenn alle Teilnehmer senden wie empfangen können, sei Kommunikation in einem
wahrhaften Sinne möglich. In der dezentralen Vernetzung lägen die Chancen zu
einem neuen Humanismus und zu einer Demokratie im Informationszeitalter. Flusser
war pessimistisch, er bezweifelte, dass seine Utopie der Vernetzung sich historisch
durchsetzen könnte.
Aber hat das Internet nicht auf eine großartige
Weise seinen Pessimismus widerlegt?
Rafael Capurro, O-Ton:
Mit dem
Internet hat sich das verändert, oder man hat wenigstens den Eindruck gehabt:
es wird eine Gegenmacht geschaffen gegenüber dem Einfluss der massenmedialen
Distribution der Nachrichten, der Bilder usw. hin zu einem Medium für die
Massen, also nicht ein Massenmedium, sondern ein Medium für die Massen, d.h. mehr
ein Individualisierungsmedium mit allen Problemen, die das schafft. Wenn Sie
jedem die Möglichkeit geben – urbi et orbi – überall messages zu schicken, …
was bis jetzt in den Händen von wenigen Sendern war - im wahrsten Sinne des Wortes,
dann schaffen Sie natürlich zunächst einmal ein Chaos, und ein Chaos, was
eigentlich als Freiheit empfunden wird.
Zitator:
"Regierungen
der industriellen Welt, ihr trägen Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme
aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft fordere
ich euch, die ihr der Vergangenheit angehört, auf, uns nicht zu belästigen. Ihr
seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Regierungsgewalt, wo wir uns
versammeln. [...] Ich wende mich an euch mit keiner geringeren Autorität als
der, mit der die Freiheit selbst zu sprechen
pflegt. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir bauen, als naturgegeben
unabhängig von dem tyrannischen Regiment, das ihr über uns zu errichten
versucht. Ihr habt kein moralisches Recht, uns zu regieren, noch besitzt ihr
irgendwelche Methoden zur Durchsetzung, die zu fürchten wir wahren Grund haben.
Sprecherin:
Mit
diesen Worten schleuderte John Perry Barlow 1996 auf dem Weltwirtschaftsforum
in Davos den versammelten Wirtschaftsbossen und politischen Führern die
Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace entgegen, den
Bruch mit ihrer alten Welt aus Macht und Geschäft. Barlows Manifest kündete von
einer neuen Ordnung des Geistes, wo Freiheit und höhere Moralität zu Hause
seien.
Zitator:
Der
Cyberspace besteht aus Transaktionen, Beziehungen und dem Denken selbst, die
sich wie eine stehende Welle im Gewebe unserer Kommunikationen anordnen. Unsere
Welt ist zugleich überall und nirgends, doch sie ist nicht dort, wo Körper
leben. Eure Rechtsbegriffe von Eigentum, Ausdruck, Identität, Bewegung und
Kontext sind auf uns nicht anzuwenden. Sie gründen in der Materie, doch hier
gibt es keine Materie."
Sprecher:
John Perry Barlow, bis dahin als Songschreiber der
Rockgruppe Greatful Dead bekannt, wurde zu einem Guru des Netzes. Aber er stand
mit seinem Cyberenthusiasmus keineswegs allein. Vor allem in Amerika fanden
sich Gleichgesinnte: Kevin Kelly, Chefredakteur des Online-Magazins „Wired“
oder George Keyworth proklamierten das Netz als Anbruch einer besseren Welt, Claudia
Klinger schildert, wie die Aufbruchstimmung
auch hierzulande die zu Beginn noch kleine Cybergemeinde in Bann schlug.
Claudia Klinger, O-Ton:
Anfänglich
waren nur kleine Kreise aktiv im Netz, und das waren im wesentlichen Studenten,
Künstler, alle möglichen Leute, die Zeit hatten, Bastler, Computer-Freaks, die
haben unter sich ausprobiert, was man da machen kann, das war natürlich ein
gänzlich anderes Internet-Gefühl als heute, eben dadurch kam auch dieser
Utopismus zustande, der den so genannten ersten Hype ausgelöst hat. Alle
dachten jetzt bricht das Paradies aus, einfach weil man da nett zueinander war,
niemand hatte kommerzielle Interessen, das ganze normale Leben blieb sozusagen
draußen, man traf sich da in einem völligen Freiraum, alle waren sehr gut
drauf, das gab diesen ganzen Hype, und als dann, ab `98, verstärkt kommerzielle
Web-Seiten erschienen und die ganze normale Welt sich im Internet darstellt und
wieder findet, - das ist ein Prozess der noch nicht zuende ist, wird auch das
Netz immer normaler. Es findet sich dort eben die Gesellschaft mit allen ihren Aspekten und
Begleiterscheinungen vor, und … das ist schon richtig so, dass das Netz alles
beinhaltet und zeigt.
Sprecherin:
Ähnlich
beschreibt auch Rafael Capurro, Informationswissenschaftler und Philosoph, die
Ernüchterung als heilsam. Das Internet sei nicht das ersehnte Paradies. Es
stelle aber umgekehrt mehr dar als eine technische Plattform, es bilde eine
neuartige soziale und interkulturelle Bühne, auf der viele Probleme in ihrer
Dramatik sichtbar werden.
Rafael Capurro, O-Ton:
Es ist keine
Pfingststimmung, ich würde da warnen gegenüber irgendwelchen gnostischen
Vorstellungen wir würden jetzt, also die Menschheit, eine Art hyperreales
Subjekt bilden, wo wir jetzt alle Sprachen in die Sprache HTML übertragen, HTML
wäre so eine Art göttliche Sprache, in der wir uns alle verstehen können. Also
ich halte das für Quatsch.
Es ist
natürlich eine technische Grundlage, die uns das erlaubt, aber die Aufgaben des
Verstehens anderer Kulturen, das ist eher dringender geworden, die sind uns
viel näher. Und jetzt auf einmal kommuniziere ich mit Kollegen aus China und
Japan, aber ich weiß immer noch nichts von Japan, auch wenn die mir das in HTML
oder per mail mitteilen. Es wird noch erdrückender die Vorstellung oder die
Realität, wie wenig man von dem anderen weiß.
Also es löst
nicht die Probleme, es macht die Probleme nur dringender.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecher:
Rafael
Capurro leitet gemeinsam mit Thomas Hausmanninger von der Universität Augsburg
ein Internationales Zentrum für Informationsethik.
Capurro
thematisiert Ethik in doppelter Hinsicht: Einmal im Sinne einer Pflichtethik,
wie sie für die Neuzeit beispielhaft Immanuel Kant vorgelegt hat. Ihre
Leitfrage lautet: Was sollen wir tun? – Welche Normen und Spielregeln gelten im
Netz, nach denen wir uns zu richten haben? Dazu gehören in der Konsequenz auch
entsprechende juristische Bestimmungen.
Sprecherin:
Capurro
versteht Ethik aber noch in einem zweiten Sinne, so wie die Antike die ethische
Frage anschnitt und worauf die Gegenwart, angestoßen durch den französischen
Philosophen Michel Foucault, wieder zurückkommt. Die Leitfrage der Antike
lautete: Wie wollen wir leben? Wonach strebt der Mensch? Auf das Netz bezogen:
Wie wollen wir den Umgang im Netz kultivieren? Hier geht es um eine Ethik der
Lebenskunst, aber nicht verstanden als oberflächlicher Genuß, sondern als ein
kreativer und verantwortungsbewusster Gestaltungsauftrag.
Sprecher:
Schon die
pflichtethische Seite ist schwierig. Denn das Netz hat seine Unschuld längst
verloren. Das spiegelt sich auch in der Bilanz der Freiwilligen Selbstkontrolle
der Multimedia Dienstanbieter, kurz FSM wider. Es handelt sich dabei um eine Selbstkontrollorganisation
der Internetwirtschaft: Ihre Geschäftsführerin Sabine Frank, von Hause aus
Rechtsanwältin berichtet über Art und Umfang der Beschwerden, die im letzten
Jahr eingegangen sind:
Sabine Frank, O-Ton:
Wir haben
1200 Beschwerden letztes Jahr bearbeitet, der Hauptanteil der Beschwerden
betrifft Angebote über pornographische Inhalte, kinderpornographische Inhalte,
Beschwerden über rechtsradikale Inhalte, das sind die Hauptpfeiler die sich in
jedem Jahr spiegeln. Wir haben Beschwerden über so genannte Dialer, das sind
Einwählprogramme, im Internet, wo kostenpflichtige Inhalte darüber abgerechnet
werden, da gibt es Missbräuche, wo Leute sich darüber beschweren, es gibt
einige wenige Beschwerden über Gewaltdarstellungen im Internet. Spam ist ein
ganz großes Thema, das sind unversandt zugesandte Emails, die in letzter Zeit
sehr viele pornographische, aber auch kinderpornographische Angebote bewerben,
und das ist ein großes zunehmendes Problem des Internets.
Sprecherin:
Die
Selbstkontrollorganisation FSM hat inzwischen 430 Mitglieder, die einen
Verhaltenskodex unterzeichnet haben. Darin verpflichten sie sich bestimmte
Inhalte nicht im Netz auszustrahlen, dazu zählen rechtsradikales Gedankengut,
die Menschenwürde verletzende Inhalte und insbesondere keine
Kinderpornographie. Pornographie darf nur unter bestimmten technischen
Voraussetzungen ins Netz gestellt werden, die Kindern und Jugendlichen keinen Zugang
gestatten.
Sprecher:
Gewaltdarstellungen
sind bis jetzt noch kein gravierendes Problem des Netzes. Dies hat aber vor
allem technische Gründe. Immer noch arbeitet das Internet vor allem mit Texten
und statischen Bildern, so dass Gewaltdarstellungen, die mit Aktion und
Gegenaktion operieren, weiterhin ihre Nischen in Fernsehen, Kino und auf
Videokassetten suchen. Wenn allerdings die Übertragungsbandbreiten im Netz
zunehmen, ist zu befürchten, dasd Gewaltszenen auch hier ihre Schlupfwinkel
finden.
Sprecherin:
Immerhin steht
das Internet den Verletzungen von Menschenrecht und Würde nicht mehr völlig
wehrlos gegenüber. Die FSM hat auf ihrer Homepage
www.fsm.de
eine Beschwerdeseite eingerichtet. Sabine Frank:
Sabine Frank, O-Ton:
Wir haben
eine Beschwerdestelle, wo sich jedermann bei uns beschweren kann, wenn er
entwicklungsbeeinträchtigende, jugendgefährdende oder auch strafrechtsrelevante
Inhalte findet, wir werden dann den Inhalteanbieter, wenn er in Deutschland
ansässig ist anschreiben und auffordern uns eine Stellungnahme abzugeben, bzw. den
Inhalt vom Netz zu nehmen. Wenn es sich bei den gemeldeten Inhalten um
kinderpornographische Inhalte handelt, werden wir sie unverzüglich ans BKA
weiterleiten, die dann für die Strafverfolgung zuständig sind, wir verstehen
uns als Ergänzung zur Strafverfolgung, wir sind kein Ersatz, sondern wir
arbeiten sehr kooperativ zusammen.
Sprecherin:
Aber das
Internet ist keine nationale Angelegenheit, Probleme lassen sich nicht auf ein
Land beschränkt wirksam angehen. Deshalb hat die FSM zusammen mit 18 Organisationen
aus 16 anderen Ländern einen internationalen Dachverband gegründet - er heißt Inhope
- um weltweit diskriminierende,
menschenverachtende Inhalte im Netz bekämpfen zu können. Sabine Frank ist
Vizepräsidentin dieser internationalen Dachorganisation Inhope:
Sabine Frank, O-Ton:
Wenn die
Inhalte im Ausland liegen haben wir Partnerorganisationen, an die wir das
weiterleiten können, die dann nach dem Recht des jeweiligen Landes, wo der
Inhalt vor Ort gehostet wird, tätig werden. Das ist in verschiedenen Ländern
sehr unterschiedlich. Während wir in Deutschland zum Beispiel sehr rigide
Gesetze für rechtsradikale Inhalte haben, was aufgrund unserer Historie bedingt
ist, sieht man das in vielen Ländern ganz anders, Paradebeispiel sind die USA,
die ...die Meinungsfreiheit sehr hoch schreiben,
und rechtsradikale Inhalte auch darunter fassen.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecher:
Dem Internet
droht nicht nur Gefahr durch rassistische Hetze und kriminellen Missbrauch,
sondern auch durch staatliche Übergriffe oder andere autoritäre
Einschränkungen. Die Freiheit des Netzes, in den Anfängen des wildwüchsigen
dezentralen Internets grenzenlos, ist inzwischen durch Zensur gefährdet. Filtersoftware,
die vorgibt nur Gewalt und Pornographie auszuschließen, blockiert mitunter
andere Inhalte, ohne dem Benutzer die entsprechenden Kriterien offen zu legen.
Sprecherin:
Oft werden -
ganz plump - so genannte Keywordlisten eingesetzt. Sobald also ein bestimmtes
Wort auftaucht, wird die entsprechende Seite durch die Filtersoftware gesperrt,
ohne dass näher geprüft wurde, ob es sich vielleicht um aufklärerische Seiten
sexueller Minderheiten oder um Satire handelt.
Claudia
Klinger hat in dieser Hinsicht schon Erfahrungen mit Netz-Zensur gemacht.
Claudia Klinger, O-Ton:
Ich bin
schon ganz früh 1996/97 wegen des Abdrucks eines gezeichneten PinUps von
Compuserve verwarnt worden, dass jetzt bald meine Homepage gelöscht wird, wenn
ich das Teil, das in die Kategorie Pornographie 3 fiele, nicht bald wegnehme.
Es war der totale Lacher… Ein andermal sagte mir einer, dass er in irgendeinem
öffentlichen Internetzugang nicht auf mein Tagebuch kam, und es war an dem Tag,
wo in der Überschrift einmal das Wort Sex vorkam. Das war einfach weggefiltert
worden, ich finde, so kann es nicht bleiben, dass dann vielmehr der Staat
Regeln erlassen muss, damit die Filterer nicht einfach machen, was sie wollen.
- was zum Beispiel in Amerika jetzt Usus ist, weil man von Amerika einfach die
Filter übernimmt.
Sprecherin:
Ein weiteres
Problem im Netz gibt der mangelnde Datenschutz auf. Was geschieht mit den
Spuren, die jeder Surfer im Netz hinterlässt? Der einzelne wähnt sich
vollkommen anonym während seiner flüchtigen Aufenthalte im Cyberspace, in
Wahrheit folgt ihm ein markanter Datenschatten, der sich im Netz eingraviert
und von interessierter Stelle sehr wohl identifizieren ließe.
Sprecher:
Bernd
Guggenberger, Sozialwissenschaftler, wundert sich denn auch über die allgemeine
Sorglosigkeit angesichts der ungeheuren Missbrauchsmöglichkeiten und
Verfolgungsmittel, die dem Staat zuwachsen, auch wenn er davon aktuell keinen
Gebrauch macht.
Bernd Guggenberger,
O-Ton:
Mit jedem
Mausklick, den Sie machen im Netz, hinterlassen Sie digitale Spuren, Sie sind
abhörbar, ortbar, sichtbar in ihren Verhaltensweisen als Konsument, als
Praktiker bestimmter Sexualtechniken, was immer Sie nehmen wollen, ...
Ich behaupte
nicht, dass wir die Big-Brother-Situation haben – doch: wir haben sie, in
anderer Variante, als die ursprünglich gemeinte, die totalitäre
Zwangsvereinnahmung - aber eines muss man sagen: Hitler war mit dem
Volksempfänger, ohne den vermutlich die nationalsozialistische Diktatur nicht
möglich gewesen wäre, vergleichsweise waisenknabenhaft ausgestattet mit
totalitären Zugriffsmöglichkeiten im Vergleich zu dem, was ein Staat heute und
morgen, wenn er denn totalitär auf seine Bürger zugreifen wollte, zur Verfügung
hat. Wo steht denn geschrieben, dass diese Millionen von Computern in Büros, in
Haushalten nicht irgendwann im Takt marschieren sollten? Wir haben ja die
Situation in China vor Augen, die große Freiheit im Internet ist eine Chimäre.
Nichts leichter, als eine Zensur vorzuschalten, das passiert da genau.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecherin:
Das Netz
führt die Menschen in eine widersprüchliche Situation:
Einerseits
sammeln sich die Spuren des Einzelnen, wo er gesurft, was er angeschaut oder gekauft
hat zu einer regelrechten Freizeit-, Konsum-, und Verhaltensbiographie, zu
einem elektronischen Persönlichkeitsdoppel wie Bernd Guggenberger schreibt.
Sprecher:
Andrerseits
bietet das Internet auf der Oberfläche den Schein vollkommener Anonymität. Es
lockt mit der Möglichkeit, die eigene Identität zu entwerfen, sich eine andere
Persönlichkeit zuzulegen. Insbesondere in den Chat-Rooms tummeln sich die Leute
mit ihren Phantasienamen: sie heißen WeisseWölfin, Sexyboyxx18, magicwords, amor22
oder schlicht Hannover15. Sie treffen sich in verschiedenen Channels wie
Herzklopfen, Trauminsel oder Halle 1. Der Reiz besteht darin, sich in so genannte
Separees zurückziehen, um dort mit dem oder der Ausgewählten allein zu sein.
Sprecherin:
Hier entsteht
eine völlig paradoxe Situation: Scheinbar intim und nah, aber doch völlig
abstrakt und durch das Medium distanziert, geht es distanzlos penetrant zur
Sache: Dialoge per Tastatur, die sich oft in wüster Verbalerotik ergehen. Aber wer
verbirgt sich hinter Sexygirl69? Ist es überhaupt eine laszive Sie oder
vielleicht ein verklemmter Er, der mit dieser Rolle spielt. Oder verbirgt sich
hinter dem Pseudonym eine ganze Clique, die spätpubertäre Scherze treibt. Das
Internet bietet Gelegenheit zum Maskenspiel wie der Karneval vergangener
Zeiten.
Bernd Guggenberger,
O-Ton:
Eins der
großen Faszinosa des Internet ist ja dass man diese Chance der zweiten Geburt
hat. Dass man das Geschlecht frei wählen kann, dass man sich eine andere
Identität zulegen kann, insbesondere wenn man in der sozialen Realsituation
unzufrieden ist, weil man zu dick oder zu dürr oder zu hässlich ist, zu wenig
schön, dann legt man sich eine andere Identität zu. Ich hatte mal vor 10 oder
zwölf Jahren , als das Internet noch lange nicht so selbstverständlich war wie
jetzt eine Studentin, die auf den staubtrockenen Namen Astrid Österle hörte,
und die sich im Netz Wild Mandely nannte, - die wilde Mandely. Das ist ganz
klar, was da passiert: das Netz als Kompensationsinstrument, aber man muss eben
wissen, dass es nur Kompensation ist. Sie ist deswegen noch nicht im wirklichen
Leben die wilde, die sie gern sein möchte. So in fast allem.
Sprecher:
Aber das
Internet ist nicht nur ein Maskenball, wo Möchtegern-Phantasien und folgenlose
Rollenspiele ausgetragen werden, es bietet auch Gelegenheit zu Kontakten, die
wieder aus dem virtuellen Reich heraus ins reale Leben führen. Kontaktbörsen
wie FriendScout24 oder Neu.de erfreuen sich inzwischen in Deutschland großer
Beliebtheit, Online-Dating heißt ein Schlagwort der Netzwerk-Generation.
Kontaktbörsen sind nicht allein Orte zum Flirten, hier werden auch zahlreiche
Freundschaften und Liebesbeziehungen gestiftet.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecherin:
„Das
Internet ist ideal, um in kurzer Zeit unterschiedlichste Persönlichkeiten in
ganz Deutschland zu treffen“, schrieb eine junge Frau, die ihren späteren
Ehemann online kennengelernt hat. Nach Umfragen hat das Web inzwischen
klassische Orte des Kennenlernens wie Kneipe, Restaurant oder Fitnessclub
überholt und rangiert direkt hinter Arbeitsplatz und Party. Bei den
Partnerbörsen kann man sich kostenlos eintragen lassen. Gebühren werden erst
dann fällig, wenn man selbst Kontakt aufnehmen will. Natürlich versuchen T-Online,
Yahoo, AOL und die anderen Großen der Branche diesen Trend zu nutzen, der ihnen
ein gutes Geschäft verheißt.
Sprecher:
Was bedeutet
es, wenn Menschen heute zunehmend über technische Medien wie das Internet, über
Handys und SMS miteinander verkehren? Bleibt ihnen dieses Verhalten äußerlich?
Die Frage berührt das philosophische Problem des Subjekts. Die klassische
Bewusstseinsphilosophie unterstellte ein autonomes, in sich ruhendes Ich, das gleichsam
fertig die Welt betritt, in der es dann dem Anderen begegnet und auf die Dinge trifft. Die
Philosophie im 20. Jahrhundert hat auf verschiedenen Wegen dieses
Subjektverständnis revidiert.
Sprecherin:
Einen
radikalen Weg ist dabei der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Vilém
Flusser gegangen. Mit Verweis auf den Wandel durch die neuen
Informationstechnologien und -medien fordert Flusser dazu auf, das von der
Philosophie lange gehegte, aber falsche Selbstbild des Menschen zu
verabschieden: "Irgendein 'harter' Kern des Ich, ein 'Selbst', eine
'Seele', erweist sich – so schreibt Flusser - als logisches und existentielles
Unding."
Das Ich sei
kein abgeschlossenes Wesen, das in sich selbst ruhe, kein harter Kern, sondern stelle
vielmehr einen Knoten im Kommunikationsprozeß dar.
Für Flusser
bildet sich das Ich allererst in der Verbindung mit anderen, im Dialog, dort wo
Frage und Antwort, Rede und Gegenrede sich miteinander verknüpfen.
Sprecher:
Rafael
Capurro revidiert auf andere Weise das Bild des menschlichen Subjekts, mit seinem
neu entwickelten Konzept der Angeletik, der Lehre des Boten.
Rafael Capurro, O-Ton:
Das Wort
angelos auf Griechisch bedeutet ‚Bote’ - die Engel im theologischen Sinne sind
die himmlischen Boten, die die Botschaften Gottes an Maria und an sonstige
Empfänger gebracht haben. Aber der angelos – der Bote - ist ein ganz normaler
griechischer Begriff gewesen für die Antike, wie der Briefbote, der Postbote,
und in diesem Sinne sind wir immer alle schon Boten gewesen, wir sind alle
Träger einer Botschaft gewissermaßen als Menschen. Man spricht auch von leeren
Boten, die wir alle sind, ein gewisser Bedarf an einer Botschaft, die wir mit
uns tragen und die wir an andere vermitteln wollen, man kann das vielleicht so
sagen: …wenn wir tatsächlich in eine Kultur übergehen, die durch Vernetzung und
Austausch von Botschaften, von messages geprägt ist, dann verwandelt sich die
Auffassung, der Mensch wäre ein selbständiges autonomes Subjekt, weil der
Begriff des Boten und der Botschaft zunächst einmal ein heteronomer Begriff
ist, … ein Bote ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass er autonom und
selbständig ist, er ist eher abhängig.
Sprecherin:
Der Bote ist
weder der Schöpfer einer Botschaft, noch ihr endgültiger Adressat. Der Bote
existiert mitten im Geschehen. Aber er hat sehr wohl eine verantwortliche
Aufgabe, einen existentiellen Auftrag: Er ist mit der Frage konfrontiert: Wie
gehe ich mit den Informationen um, die ich erhalten habe? Wem übermittle ich
sie? Wahrscheinlich muss er die Nachricht auch selber interpretieren und sich aneignen,
um die beiden ersten Fragen überhaupt beantworten zu können.
Sprecher:
Das Bild des
Boten scheint geeignet die menschliche Existenz in einer medial vermittelten
Welt zu reflektieren, auch deshalb weil dieses Paradigma eine Balance hält zwischen
Freiheit und Abhängigkeit, zwischen Souveränität und Angewiesensein auf andere.
Für den Boten ist eine reine Pflichtethik, also die Ausrichtung auf bestimmten
Normen und Regeln, nicht ausreichend. Denn um der Herausforderung gerecht zu
werden, um sein Ziel überhaupt zu erkennen und Wege dorthin zu finden, muss der
Bote konstruktiv denken und handeln, - ethisch im Sinne einer philosophischen
Lebenskunst.
Sprecherin:
Die ethische
Verantwortung ist deshalb neu zu tarieren. Rafael Capurro hat dazu ein neues
Buch vorgelegt mit dem Titel: Ethik im Netz. Der Akzent verschiebt sich von
einer kantischen Pflichtethik hin zu einer Verantwortung im Sinne eines
Antwortgebens im Wortsinn. Wir müssen uns selbst und den anderen Antwort geben,
in Worten und Taten. Gemeint sind dabei Antworten, die wir nicht fertig aus
Schubladen hervorholen, sondern die wir – herausgefordert durch Probleme und
Fragen – erst mühsam entwickeln müssen. So wie der französische Ethiker Emanuel
Lévinas sagte: Antworten heißt, etwas geben, was man nicht hat.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecher:
Neben
Konzepten, die einer Bescheidung des Menschen das Wort reden, kursieren im Netz
auch entgegen gesetzte Entwürfe, die ihn überhöhen und dank Technik in die Nähe
Gottes rücken. Solche Ideologien moniert Bernd Guggenberger:
Bernd Guggenberger,
O-Ton:
Ich fürchte,
wir stolpern in diese Welten einer nicht menschengemäßen oder vom Menschen noch
nicht begriffenen Künstlichkeit ohne zu wissen was wir tun, blind, … viel zu
wenige reflektieren darüber, dass es diesen neuesten Schulterschluss zwischen
Technokratie und Theologie gibt, das ist mit Händen zu greifen Netreligionists
– „Das Netz ist das Göttliche“, … die reichlich anmaßende Selbsttitulierung des Netzes ist ja: ‚Wonna
be gods’ – ‚Wir wollen sein wie Gott’, - wir schaffen die Welt neu, virtuelle
Welten am laufenden Band zu kreieren und uns von dieser Welt der Kiloponds der
Ecken und Kanten, wo man sich blutige Schienbeine holt, eingeschlagene Nasen
uns davon zu lösen und in die Welt der Bits und Bytes, der Körperlosigkeit, der
Ortlosigkeit, zu sein wie Engel – wenn nicht wie Gott, dann wie Engel - wie
engelsgleiche Wesen.
Sprecherin:
Engel ist
hier nicht im Sinne des Boten, griechisch angelos, sondern streng theologisch
gemeint. Als Geistwesen sind die Engel körperlos, weder an Ort noch an Zeit
gebunden. Sie haben auch kein Geschlecht. Gleicht der Internetsurfer, wenn er
mit ein paar Klicks überall und nirgends ist, wenn er seine Mails in Echtzeit
über den Globus schießt, nicht einem Engel?
Und auch mit
seiner Geschlechtsidentität kann er spielen, wenn er den Chatroom betritt.
Rückt uns das Internet in die Nähe Gottes? Hat es selbst gottähnliche Züge, wie
die Ideologen des Netzes verkünden?
Sprecher:
"God is the machine" – "Gott ist die Maschine"
überschreibt Kevin Kelly einen Artikel über den Cyberspace. In den Ideologien der Cyberenthusiasten
finden wir eine höchst problematische Abwertung des Körperlichen und eine
Geringschätzung der Materie: In der Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von
John Perry Barlow hieß es:
Zitator:
Unsere
Welt ist zugleich überall und nirgends, doch sie ist nicht dort, wo Körper
leben. Eure Rechtsbegriffe … gründen in der Materie, doch hier gibt es keine
Materie."
Sprecherin:
Vor
uns ersteht aufs neue das manichäische Weltbild der spätantiken Gnosis: es spaltet
den Kosmos in die gute Welt des Geistes, - das ist das Internet; und die
schlechte Welt der Materie - das ist die alte Erde, wo Macht und Geld regieren.
In der vermeintlich ganz und gar technisch-utopisch angelegten Weltanschauung
treffen wir unverarbeitete religiöse Weltbilder. Die Verachtung des Körpers, dieser
wetware - wie die Hacker spotten, bildet die fatale Kehrseite des technoreligiösen
Traumes, an der Göttlichkeit des Netzes teilzuhaben.
Sprecher:
Aber
die Verdrängung und Verleugnung des Körpers holt den Cyberenthusiasten mit
Sicherheit ein. Denn das Verdrängte kehrt allemal wieder. Der vernachlässigte,
missachtete Körper, den der Geist im Netz scheinbar endgültig überwunden und
abgestreift hatte, bringt sich – im buchstäblichen Sinne - schmerzlich bei jedem
in Erinnerung. Der Körper klagt sein Recht ein.
Claudia Klinger, O-Ton:
Also ich
sitze sozusagen 12 Jahre vor dem PC und jetzt ist das Ende der Fahnenstange
erreicht, jetzt habe ich diverse Sitzschäden, Nervenstörungen, taube Stellen am
Bein, und wenn ich darüber rede oder schreibe meldet sich jeder Zweite zu Wort
und sagt: Das habe ich auch. Das ist echt fortgeschritten zur Zeit des
Internets. Man hat eine andere Situation als Mensch, man muss sagen, aha, ich
muss mich diesem Körper anders zuwenden, und zwar weil mein normaler
Lebensvollzug offensichtlich nicht mehr dazu ausreicht, dass er genug bekommt,
was er braucht, um in Ordnung zu bleiben, und das ist schon neu, man tut es
nicht um schön, fit oder schlank zu sein aufgrund irgendwelcher Ideale, die man
mit sich trägt, sondern aus Notwendigkeit.
Das ist
schon ein anderes Verhältnis zum Körper. Und ich glaube, es ist nicht schlecht,
wenn die Menschen dahin kommen, das wirklich bewusst zu tun. Ich versuche es,
indem ich zum Beispiel Yoga mache oder ins Fitness-Center gehe, dann entsteht
auch eine andere Körperkultur, die nicht nur vom Anblick ausgeht, also man soll
schön sein, sondern es könnte auch eine echte Zuwendung zur körperlichen Ebene
herauskommen.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecherin:
Der
vernachlässigte Körper ist nicht nur ein gesundheitliches Problem. Denn es geht
nicht allein darum, den Körper fit zu halten, weil wir trotz Internet ein
organisches Vehikel brauchen. Wir haben einen Körper, aber wir sind auch Leib.
Körperhaben bedeutet, dass unser Wille die Glieder in Regie nimmt, in mancher Hinsicht
über sie verfügen kann wie über äußere Dinge. Leibsein, bedeutet dass wir
unmittelbar körperlich existieren, indem wir sehen und hören, fühlen und uns
bewegen – mit einem Wort: Leibsein bedeutet Leben.
Die Absage
der Cyberianer an den Körper kommt deshalb einer Distanzierung vom Menschsein
gleich. Und umgekehrt bedeutet, sich dem Körper zuzuwenden eben auch unsere
conditio humana zu bejahen.
Sprecher:
Freilich ist
der Mensch ein äußerst plastisches Wesen. Er ist in der Lage, sich immer neuen
Bedingungen, zunehmend auch solchen, die er selber geschaffen hat, erfolgreich anzupassen.
Das zeigte auch die Krise in der Folge der Industrialisierung. Motorisierung
und sitzende Tätigkeiten hatten dazu geführt, dass es dem modernen Menschen an
Bewegung mangelt. Bewegung musste eigens gesucht und bewusst gelebt werden.
Dies geschah vor allem im Phänomen des Breitensportes, der sich im 20.
Jahrhundert rasch ausbreitete.
Die Kultur entwickelt immer wieder Formen des
Ausgleichs und der Kompensation, sie versucht unter veränderten Bedingungen ein
neues Gleichgewicht zu schaffen.
Sprecherin:
Vielleicht
müsste man die Idee der Kompensation auch für die Probleme des Menschen im Netz
fruchtbar machen. Das Netz wäre dann nicht per se als gut oder schlecht zu
beurteilen, als heilsbringend oder verhängnisvoll, vielmehr stellt sich die
Frage eines klugen, ausgewogenen Umgangs. Ein solcher Umgang muss gelernt und
kultiviert werden. Die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia beschäftigt sich
aus diesem Grund auch nicht nur mit Restriktionen und der Verhütung von
Negativem, sondern arbeitet konstruktiv in medienpädagogischer Hinsicht:
Sabine Frank, O-Ton:
Für mich
sehr wichtig ist eine Aufklärungsarbeit, das ist dasjenige, wo die FSM sich
sehr stark engagiert. Ich finde es sehr wichtig, dass Eltern als auch Kinder
mit dem Medium umgehen können. Man braucht eine hohe Auswahlkompetenz, viel
mehr noch als in den klassischen Medien, man muss wissen, wo finde ich die
Inhalte, die mich interessieren und wie gehe ich mit vielleicht schädigenden
Inhalten um. Aus diesen Gründen haben wir Leitfäden entwickelt, die sich an
Kinder, an Eltern richten, haben zusammen mit zum Beispiel dem Deutschen
Kinderhilfswerk eine Broschüre erstellt, die gute Kinderseiten aufzeigen: Das
ist der richtige Weg für Kinder ins Netz.
Und das ist für
mich ein Weg in die Zukunft: Medienkompetenz zu stärken.
Sprecherin:
Während auf
der nationalen Ebene medienethische und medienpädagogische Fragen besonders
relevant sind, prägt auf internationaler Ebene das Problem des so genannten
digital divide – der digitalen Spaltung - die Diskussion. Länder und Regionen,
die mit der informationstechnologischen Aufrüstung nicht Schritt halten, fallen
in ihrer Gesamtentwicklung noch weiter zurück. Vernetzt – Gespalten wird ein
Buch heißen, an dem Capurro und Hausmanninger derzeit arbeiten. Es thematisiert
den Widerspruch, dass ausgerechnet eine Technologie, die eigentlich die Länder
und Menschen zusammenführt, bestehende Unterschiede noch verschärfen kann.
Sprecher:
Und im
Oktober diesen Jahres findet am Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien ein internationaler
Kongress statt unter dem Thema Localizing the Internet. – Wie wirkt sich die
Vernetzung auf einzelne Kulturen und Regionen aus? Was bringt sie den Menschen
vor Ort?
Rafael
Capurro, der aus Uruguay stammt, verfolgt die Entwicklungen der verschiedenen
Kontinente, mit besonderem Augenmerk auf die Situation in Lateinamerika.
Rafael Capurro, O-Ton:
Es ist sehr
unterschiedlich. Wenn ich mich erinnere, sind im Augenblick 5 – 10 Prozent der
Bevölkerung in Südamerika angeschlossen gegenüber 80, 90 % in Europa oder in
USA oder Japan. In Afrika ist es noch viel schlimmer. Ich glaube der ganze
afrikanische Kontinent hat so viele Telefonanschlüsse wie Manhattan. … In
Südamerika ist es sehr unterschiedlich. Sie haben Länder mit sehr breiten
Entfernungen, … Ich bin vor kurzem in Peru gewesen, in Macchu Picchu und in
Cuzco. Und in Cuzco habe ich an jeder Ecke ein Internet-Cafe gesehen, aber
gleichzeitig saßen die Bettler, Frauen abends mit kleinen Kindern, 2, 3 Jahre
alt, und haben um ein bisschen Geld gebettelt. Und sie sahen trotzdem an jeder
Ecke ein Internet-Cafe. So dass es eigentlich deutlicher wird, dass die
Vernetzung die Spaltung noch vertieft, die Kinder gehen ins Internet-Cafe und
schicken Mails aber gleichzeitig haben sie nichts zu essen. .. Es kann auf viel
basaleren Ebenen den Leuten geholfen werden, gerade in den entfernten Gebieten.
Was sie brauchen, ist nicht das Internet, sondern sie brauchen Wasser. Ob das
Internet denen hilft, schneller an das Wasser zu kommen, das ist die Frage.
Sonst
stellen wir die Sache auf den Kopf, dann fragen wir: "Sie haben
Internetanschluss?" – "Ja schon, aber wofür?" (Lachen)
Musik zum Ausklang: