Atmo:
PC Start, Windows-Betriebssystem, Töne zum Programmstart
Claudia Klinger, O-Ton:
Ich stehe morgens auf, und sobald das Nötigste getan ist, begebe ich mich mit Kaffee - und leider auch Zigaretten - online, und rufe erst mal Emails ab und schaue, was so anliegt, und beantworte wiederum allerlei Anfragen, und so geht das im Prinzip den ganzen Tag weiter, im Stunden- oder auch 2-Stunden-Abstand, je nachdem was für Arbeiten ich mir dazwischen lege, die ich mir ungestört gönne.
Es ist nicht nur die Arbeit, sondern seit es das Internet gibt, sind auch alle anderen Bereiche des täglichen Lebens davon erfasst: Die Mehrheit meiner heutigen Freunde und Bekannten habe ich im Internet kennen gelernt. Und auch die haben wiederum die Mehrheit ihrer Freunde und Bekannten im Internet kennen gelernt. So wie auch alle Kunden, Klienten und sonstigen Zusammen­hänge, auch den Arzt, was immer man braucht, da schaut man erst einmal, was gibt es im Internet, wer hat dort eine Website und verrät etwas über sich.
Sprecher:
Claudia Klinger selbst verrät viel über sich. Auf ihrer Homepage führt sie ein digital diary, ein Web-Tagebuch im Netz, wo sie in lockerer Folge Erlebnisse veröffentlicht und Reflexionen über die Welt in- und außerhalb des Netzes. Sie nennt es ein Philosophieren in der ersten Person. Claudia Klinger arbeitet als Webdesignerin, darüber hinaus hat sie verschiedene Webprojekte entwickelt, unter anderem leitet sie Kurse im kreativen Schreiben. Claudia Klinger lebt im Netz, ihre Homepage ist wie selber sagt ihre Heimat. Von dort spinnen sich tausende Fäden in die unendliche Weite des Cyberspace, der ihr weit mehr und vor allem interessantere Kontakte verspricht als die reale Umgebung.
Claudia Klinger, O-Ton:
Es ist einfach ein sehr großes Netz, das ich da auswerfen kann, in dem die Wahrscheinlichkeit sehr viel höher ist, dass sich passende Menschen einfinden, als wenn ich einfach in eine Kneipe oder zu einer Veranstaltung gehe. Die Veranstaltungen im realen Leben, wie es so schön heißt, wenn man sich die einmal anschaut, sind doch in der Regel so, dass man irgendwo hingeht, und irgendetwas konsumiert, ein Programm, und dann geht man hinterher noch einen trinken, also das ist irgendwie nicht richtig kreativ, ich habe davon nicht so viel und die Möglichkeit neue Leute kennen zu lernen auf solchen Ebenen ist relativ gering, da brauchen Sie nur einmal herumzufragen, das ist Tatsache so.
Sprecherin:
Dagegen prophezeite der Sozialwissenschaftler Bernd Guggenberger, Rektor der Lessing-Hochschule in Berlin, 1997, als das Internet boomte, in seinem Buch „Das digitale Nirwana“, dass die Netzwelt die Menschen einsamer machen würde. Das Internet fördere Berührungsängste, die Menschen würden einander ausweichen und das Soziale Schaden nehmen. An dieser Diagnose hält er auch heute fest:
Bernd Guggenberger, O-Ton:
Die Welt wird immer künstlicher. Die ursprünglichen Sozialbegegnungen nehmen einfach ab, dass sich Menschen wie Du und Ich begegnen, dass wir uns direkt angucken, dass wir ein bisschen Zeit haben, auch das spielt eine Rolle, Sozialbegegnungen finden immer in der Zeit statt, …Die Chancen den anderen wirklich kennenzulernen, ihn einzulassen bei sich selber, die Wahrnehmungs­filter zu durchdringen, das erfordert Zeit, das hat man in der Regel weder im Netz noch in der immer flüchtiger werdenden realen Begegnung, also kurzum was hat sich verändert: die Welt wird immer künstlicher, wir leben in einem artificial enviroment. In einer Umgebung die durch das Zwischentreten von Medien, die unmittelbare Mensch-zu-Mensch Begegnung im Visavis an den Rand drängt.
Musikalisches Intermezzo
aus: Skyphone, Fabula
(auch die folgenden Intermezzi)
Sprecher:
Eine mehrjährige internationale Studie, deren Ergebnisse jüngst veröffentlicht worden sind, widerspricht Guggenbergers Diagnose. „Der Mythos von der sozialen Isolation des Surfers ist klar widerlegt“, sagt Jo Groebel, Direktor des Europäischen Medieninstituts, das die Umfrage in Deutschland durchführte. Internetnutzer reduzierten demnach ihren Fernseh-Konsum und seien sozial aktiver als Nichtnutzer. Florian Rötzer merkt allerdings an, dass diese internationale Studie von Unternehmen wie AOL, Microsoft, Hewlett Packard, Sony gesponsert wird.
Sprecherin:
Bernd Guggenberger misstraut empirischen Befragungen. Als Sozialwissenschaftler kennt er den psychischen Mechanismus, dass Menschen gern ihrem Wunschbild gemäß antworten. Im Übrigen empfiehlt er bei den viel gepriesenen neuen Kontakten via Internet genauer hinzuschauen, was und wie hier kommuniziert wird.
Bernd Guggenberger, O-Ton:
Die Tatsachen, dass Menschen miteinander Nachrichten des Typs „It’s raining today“– „What are you doing?“, - oder Banalitäten dieses Typs austauschen - ich habe mich viel um die Inhalte der ausgetauschten Mailboxnachrichten gekümmert - wenn Schulkinder aus Buxtehude mit anderen aus der Bronx kommunizieren, Banalitäten austauschen und das jetzt als großer Brückenschlag über den Atlantik gefeiert wird, dann bedeutet das doch nicht, dass jemandem, der als pickliger einsamer Hacker-Knabe existiert und gerne eine Freundin hätte, in irgendeiner Weise wirklich geholfen ist. …Ein bisschen mutet dieser Hochgesang auf die sozialen Segnungen des Internet an, wie wenn jemand, der das Bein gebrochen hat, jetzt das hohe Lied auf seine Krücken, auf seine Gipsschienen am Bein singt, - die helfen mir auf Zeit, aber natürlich um wieder selbständig gehfähig zu werden.
Sprecher:
Der Hacker-Knabe, der sich ausschließlich von Chips und Cola ernährt, von seinem Monitor nicht mehr loskommt und andere Wesen nur noch via Netz wahrnimmt, den gibt es vielleicht immer noch, aber er ist nur ein Benutzertypus unter vielen und nicht mehr repräsentativ. 10 Jahre nach der Einführung des World Wide Web, womit der unaufhaltsame Siegeszug des Internet begann, wird das Netz heute massenhaft genutzt.
Sprecherin:
Aus der Arbeitswelt ist es ebenso wenig wegzudenken wie aus der Freizeit. Aber die Nutzung geschieht sehr unterschiedlich und vielfältig: Manche surfen nur, andere schreiben hauptsächlich emails, wieder andere klicken sich in die Chatrooms, um sich dort mit anderen zu unterhalten, vor allem zu flirten. Dann gibt es diejenigen, die vom ebay-virus angesteckt sind, und ständig den Auktionsstand abfragen müssen. Oder Leute, die Bankgeschäfte abwickeln, Reisen buchen oder auf der Jagd nach Schnäppchen ständig im Netz umherstreifen. Noch andere saugen nächtelang gierig Musik, Filme, Programme in der Größenordung von Gigabytes aus dem Internet, um die Beute auf ihrem Rechner zu horten oder weiterzuleiten.
Sprecher:
Und schließlich gibt es eine schier unendliche Zahl von so genannten Mailinglists, das sind Diskussionsforen zu nahezu jedem Thema. Parsimony.net veröffentlicht eine aktuelle Hitliste der meistbesuchten Foren. Unter den ersten zehn finden sich Fangruppen von Fußballclubs, diverser Auto- und Motorradmarken, und mailing lists, die um das Thema Beziehung kreisen. Absolute Beginners – Menschen ohne Beziehungserfahrung, heißt ein vielbesuchtes Forum. Ein anderes „Sexy Outfit’, da werden viele PinUps gezeigt, durchsetzt von kommerziellen Pornographie-Anbietern, die mit Links zu ihren Seiten hinüberlocken und Geschäfte machen wollen.
Sprecherin:
So hat sich die Welt des Netzes in eine Vielfalt von Welten diversifiziert, die miteinander nicht viel gemeinsam haben, außer dass sie denselben technischen Kanal benutzen. Das Netz ist eins, doch es bedeutet vieles:
unerschöpfliche Informationsquelle, schnellster Kommunikationskanal, Kunstgalerie und Klatsch-Ecke genauso wie seriöses Kaufhaus, Nachtbar, Spielhölle und Pornographiewinkel. Und vieles andere mehr.
Musikalisches Intermezzo

Sprecher:
Mindestens in den reichen Ländern gehört das Internet inzwischen zum Alltag – als Bestandteil eines modernen Menschseins. Doch wie wirkt sich das Medium auf den Menschen aus? Löst das Internet seine Verheißungen ein? Bringt es die große Freiheit? Auf dem gigantischen virtuellen Marktplatz kursieren auch menschenverachtende Texte und Bilder, rassistische Ideologie und Kinderpornographie.
Sprecherin:
Längst überfällig werden solche ethischen und anthropologischen Fragen inzwischen in den Humanwissenschaften diskutiert. Die Philosophie hinkt hinterher, wofür sie ihre klassische Begründung hat: Die Eule der Minerva erhebt sich in der Dämmerung zu ihrem Flug, schreibt Hegel, und meint damit dass die philosophische Erkenntnis erst dann gelänge, wenn Phänomene auskristallisiert, wenn Prozesse abgeschlossen seien. Doch es scheint, dass sich die akademische Philosophie ohnehin lieber in Philosophiegeschichte und klassischer Textexegese aufhält. Bezeichnenderweise sind es Außenseiter, die sich den Fragen der neuen Zeit stellen.
Rafael Capurro, O-Ton:
In der Tat, die Philosophie hat sich erst seit einigen Jahren mit der Frage des Computers näher befasst, natürlich gibt es Ansätze, Günter Anders, Vilem Flusser, aber die meisten dieser Ansätze entstanden vor der Internet-Zeit, obwohl natürlich der Computer da war, die Digitalisierung, aber die Entstehung des Internet hat alles sehr stark revolutioniert, auch das philosophische Denken. Kann man sagen.
Sprecher:
Rafael Capurro, aus Uruguay stammend, Professor für Informationswissenschaft und Informationsethik an der Fachhochule Stuttgart, lehrt zugleich Philosophie an der Stuttgarter Universität. Capurro gehört zu den wenigen Wissenschaftlern, die zwei Seiten zusammenführen. Fachliche Kenntnis der modernen Informationssysteme verbindet sich bei ihm mit philosophischer Reflexion. Seine philosophische Arbeit zum Informationsbegriff, obwohl schon 1978 verfaßt, ist immer noch ein Standardwerk.
Sprecherin:
Rafael Capurro, der seine Veröffentlichungen konsequent auch ins Netz stellt, hat, im Anschluß an Heidegger, eine These aufgestellt über den grundlegenden Wandel im Seinsverständnis, der sich im Informationszeitalter vollzieht.
Rafael Capurro, O-Ton:
Eine Epoche wird nicht zuletzt dadurch bestimmt, dass die Menschen einen Maßstab haben für das, was sie als real erachten, eine Seinsthese, wenn man das philosophisch ausdrücken will. Wer bestimmt was als seiend zu gelten hat, was ist der Maßstab. Und das pflegt man in der Philosophie eine Ontologie zu nennen, oder früher eine Metaphysik …. Platon hatte die Ideen für das was als Maßstab zu gelten hat, dementsprechend wurden alle Erscheinungen an diesem Maßstab gemessen, …. Und wenn Sie das in diesem großen Kontext sehen, … dann könnte man heute … sprechen von einer Art digitaler Metaphysik, oder Ontologie, d.h. dass das Digitale der Verstehenshorizont ist, in dem wir alle Dinge entwerfen, indem wir etwa sagen: ich habe verstanden, was etwas ist, wenn ich es digital manipulieren kann.
Sprecher:
Capurro behauptet, dass eine geistige Umwälzung stattfindet, die derjenigen Newtons vergleichbar sei. So wie die Newtonsche Physik die Natur erklärte, indem sie sie mathematisch erfasste, so unterliegen heute alle Phänomene dem digitalen Code. Bilder, Töne, Texte, alles lässt sich in Bits und Bytes umwandeln und umgekehrt wieder daraus erzeugen. Das Digitale selber ist damit gleichsam zum Nenner des Wirklichen geworden, sozusagen die Seinsprüfung.
Sprecherin:
Folgt man Capurros These, so drängen sich weitere kritische Fragen auf: Was geschieht mit all dem, was sich nicht digitalisieren lässt? Was wird aus Ironie und Witz, die ein Rechner nicht versteht, was aus der Poesie, aus den Paradoxien der Sprache? Fällt das alles ins Nichts? Was wird aus menschlichen Gefühlen und Stimmungen? Reduzieren sie sich auf ein halbes Dutzend Smileys, Zeichenkürzel, die man in seine Emails und Chat-Äußerungen einstreut?
Musikalisches Intermezzo

Sprecher:
Der deutschjüdische Kommunikationswissenschaftler und Philosoph Vilém Flusser, oft als digitaler Denker verspottet, hat früher als andere begriffen, dass wir in einem kulturellen Umbruch leben und versucht die Entwicklungstendenzen auszuloten. Flusser, der 1991 verstarb, hat den Aufstieg des Internet nicht mehr erlebt, aber die Idee der Vernetzung theoretisch vorweggenommen und die möglichen Auswirkungen der Medien auf den Menschen diskutiert.
Sprecherin:
Flusser unterscheidet zwei Schaltpläne der Medien, die er einander idealtypisch gegenüberstellt: das positive Modell des Netzes und das negative des Bündels.
Fernsehen, Radio und Presse liefern das Negativbeispiel: Ihre Bündelstruktur verweist auf ein Zentrum, von dem alle Bot­schaft strahlenförmig ausgesendet wird, aber eben nur über Ein­bahnstraßen, wenn man einmal von den rudimentären Feedbacks wie Hörerpost und Leserbriefen absieht. Die Empfänger sind von einander isoliert, sie stellen bloße Konsumenten dar, eine Masse, betont Flusser, die in Verantwortungslosigkeit versinkt, weil man sie von der Möglichkeit des Antwortens systematisch abgeschnitten hat. ‚Das Zeug ist falsch geschaltet’ – schimpfte Flusser über Funk und Fernsehen.
Sprecher:
Dagegen berge das Netzmodell, so wie Flusser es schon im Post- und Telefonssystem verwirklicht fand, emanzipatorisches Potential. Wenn alle Teilnehmer senden wie empfangen können, sei Kommunikation in einem wahrhaften Sinne möglich. In der dezentralen Vernetzung lägen die Chancen zu einem neuen Humanismus und zu einer Demokratie im Informationszeitalter. Flusser war pessimistisch, er bezweifelte, dass seine Utopie der Vernetzung sich historisch durchsetzen könnte.
Aber hat das Internet nicht auf eine großartige Weise seinen Pessimismus widerlegt?
Rafael Capurro, O-Ton:
Mit dem Internet hat sich das verändert, oder man hat wenigstens den Eindruck gehabt: es wird eine Gegenmacht geschaffen gegenüber dem Einfluss der massenmedialen Distribution der Nachrichten, der Bilder usw. hin zu einem Medium für die Massen, also nicht ein Massenmedium, sondern ein Medium für die Massen, d.h. mehr ein Individualisierungsmedium mit allen Problemen, die das schafft. Wenn Sie jedem die Möglichkeit geben – urbi et orbi – überall messages zu schicken, … was bis jetzt in den Händen von wenigen Sendern war - im wahrsten Sinne des Wortes, dann schaffen Sie natürlich zunächst einmal ein Chaos, und ein Chaos, was eigentlich als Freiheit empfunden wird.
Zitator:
"Regierungen der industriellen Welt, ihr trägen Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft fordere ich euch, die ihr der Vergangenheit angehört, auf, uns nicht zu belästigen. Ihr seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Regierungsgewalt, wo wir uns versammeln. [...] Ich wende mich an euch mit keiner geringeren Autorität als der, mit der die Freiheit selbst zu sprechen pflegt. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir bauen, als naturgegeben unabhängig von dem tyrannischen Regiment, das ihr über uns zu errichten versucht. Ihr habt kein moralisches Recht, uns zu regieren, noch besitzt ihr irgendwelche Methoden zur Durchsetzung, die zu fürchten wir wahren Grund haben.
Sprecherin:
Mit diesen Worten schleuderte John Perry Barlow 1996 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos den versammelten Wirtschaftsbossen und politischen Führern die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace entgegen, den Bruch mit ihrer alten Welt aus Macht und Geschäft. Barlows Manifest kündete von einer neuen Ordnung des Geistes, wo Freiheit und höhere Moralität zu Hause seien.
Zitator:
Der Cyberspace besteht aus Transaktionen, Beziehungen und dem Denken selbst, die sich wie eine stehende Welle im Gewebe unserer Kommunikationen anordnen. Unsere Welt ist zugleich überall und nirgends, doch sie ist nicht dort, wo Körper leben. Eure Rechtsbegriffe von Eigentum, Ausdruck, Identität, Bewegung und Kontext sind auf uns nicht anzuwenden. Sie gründen in der Materie, doch hier gibt es keine Materie."
Sprecher:
John Perry Barlow, bis dahin als Songschreiber der Rockgruppe Greatful Dead bekannt, wurde zu einem Guru des Netzes. Aber er stand mit seinem Cyberenthusiasmus keineswegs allein. Vor allem in Amerika fanden sich Gleichgesinnte: Kevin Kelly, Chefredakteur des Online-Magazins „Wired“ oder George Keyworth proklamierten das Netz als Anbruch einer besseren Welt, Claudia Klinger schildert, wie die Aufbruchstimmung auch hierzulande die zu Beginn noch kleine Cybergemeinde in Bann schlug.
Claudia Klinger, O-Ton:
Anfänglich waren nur kleine Kreise aktiv im Netz, und das waren im wesentlichen Studenten, Künstler, alle möglichen Leute, die Zeit hatten, Bastler, Computer-Freaks, die haben unter sich ausprobiert, was man da machen kann, das war natürlich ein gänzlich anderes Internet-Gefühl als heute, eben dadurch kam auch dieser Utopismus zustande, der den so genannten ersten Hype ausgelöst hat. Alle dachten jetzt bricht das Paradies aus, einfach weil man da nett zueinander war, niemand hatte kommerzielle Interessen, das ganze normale Leben blieb sozusagen draußen, man traf sich da in einem völligen Freiraum, alle waren sehr gut drauf, das gab diesen ganzen Hype, und als dann, ab `98, verstärkt kommerzielle Web-Seiten erschienen und die ganze normale Welt sich im Internet darstellt und wieder findet, - das ist ein Prozess der noch nicht zuende ist, wird auch das Netz immer normaler. Es findet sich dort eben die Gesellschaft mit allen ihren Aspekten und Begleiterscheinungen vor, und … das ist schon richtig so, dass das Netz alles beinhaltet und zeigt.
Sprecherin:
Ähnlich beschreibt auch Rafael Capurro, Informationswissenschaftler und Philosoph, die Ernüchterung als heilsam. Das Internet sei nicht das ersehnte Paradies. Es stelle aber umgekehrt mehr dar als eine technische Plattform, es bilde eine neuartige soziale und interkulturelle Bühne, auf der viele Probleme in ihrer Dramatik sichtbar werden.
Rafael Capurro, O-Ton:
Es ist keine Pfingststimmung, ich würde da warnen gegenüber irgendwelchen gnostischen Vorstellungen wir würden jetzt, also die Menschheit, eine Art hyperreales Subjekt bilden, wo wir jetzt alle Sprachen in die Sprache HTML übertragen, HTML wäre so eine Art göttliche Sprache, in der wir uns alle verstehen können. Also ich halte das für Quatsch.
Es ist natürlich eine technische Grundlage, die uns das erlaubt, aber die Aufgaben des Verstehens anderer Kulturen, das ist eher dringender geworden, die sind uns viel näher. Und jetzt auf einmal kommuniziere ich mit Kollegen aus China und Japan, aber ich weiß immer noch nichts von Japan, auch wenn die mir das in HTML oder per mail mitteilen. Es wird noch erdrückender die Vorstellung oder die Realität, wie wenig man von dem anderen weiß.
Also es löst nicht die Probleme, es macht die Probleme nur dringender.
Musikalisches Intermezzo

Sprecher:
Rafael Capurro leitet gemeinsam mit Thomas Hausmanninger von der Universität Augsburg ein Internationales Zentrum für Informationsethik.
Capurro thematisiert Ethik in doppelter Hinsicht: Einmal im Sinne einer Pflichtethik, wie sie für die Neuzeit beispielhaft Immanuel Kant vorgelegt hat. Ihre Leitfrage lautet: Was sollen wir tun? – Welche Normen und Spielregeln gelten im Netz, nach denen wir uns zu richten haben? Dazu gehören in der Konsequenz auch entsprechende juristische Bestimmungen.
Sprecherin:
Capurro versteht Ethik aber noch in einem zweiten Sinne, so wie die Antike die ethische Frage anschnitt und worauf die Gegenwart, angestoßen durch den französischen Philosophen Michel Foucault, wieder zurückkommt. Die Leitfrage der Antike lautete: Wie wollen wir leben? Wonach strebt der Mensch? Auf das Netz bezogen: Wie wollen wir den Umgang im Netz kultivieren? Hier geht es um eine Ethik der Lebenskunst, aber nicht verstanden als oberflächlicher Genuß, sondern als ein kreativer und verantwortungsbewusster Gestaltungsauftrag.
Sprecher:
Schon die pflichtethische Seite ist schwierig. Denn das Netz hat seine Unschuld längst verloren. Das spiegelt sich auch in der Bilanz der Freiwilligen Selbstkontrolle der Multimedia Dienstanbieter, kurz FSM wider. Es handelt sich dabei um eine Selbstkontrollorganisation der Internetwirtschaft: Ihre Geschäftsführerin Sabine Frank, von Hause aus Rechtsanwältin berichtet über Art und Umfang der Beschwerden, die im letzten Jahr eingegangen sind:
Sabine Frank, O-Ton:
Wir haben 1200 Beschwerden letztes Jahr bearbeitet, der Hauptanteil der Beschwerden betrifft Angebote über pornographische Inhalte, kinderpornographische Inhalte, Beschwerden über rechtsradikale Inhalte, das sind die Hauptpfeiler die sich in jedem Jahr spiegeln. Wir haben Beschwerden über so genannte Dialer, das sind Einwählprogramme, im Internet, wo kostenpflichtige Inhalte darüber abgerechnet werden, da gibt es Missbräuche, wo Leute sich darüber beschweren, es gibt einige wenige Beschwerden über Gewaltdarstellungen im Internet. Spam ist ein ganz großes Thema, das sind unversandt zugesandte Emails, die in letzter Zeit sehr viele pornographische, aber auch kinderpornographische Angebote bewerben, und das ist ein großes zunehmendes Problem des Internets.
Sprecherin:
Die Selbstkontrollorganisation FSM hat inzwischen 430 Mitglieder, die einen Verhaltenskodex unterzeichnet haben. Darin verpflichten sie sich bestimmte Inhalte nicht im Netz auszustrahlen, dazu zählen rechtsradikales Gedankengut, die Menschenwürde verletzende Inhalte und insbesondere keine Kinderpornographie. Pornographie darf nur unter bestimmten technischen Voraussetzungen ins Netz gestellt werden, die Kindern und Jugendlichen keinen Zugang gestatten.
Sprecher:
Gewaltdarstellungen sind bis jetzt noch kein gravierendes Problem des Netzes. Dies hat aber vor allem technische Gründe. Immer noch arbeitet das Internet vor allem mit Texten und statischen Bildern, so dass Gewaltdarstellungen, die mit Aktion und Gegenaktion operieren, weiterhin ihre Nischen in Fernsehen, Kino und auf Videokassetten suchen. Wenn allerdings die Übertragungsbandbreiten im Netz zunehmen, ist zu befürchten, dasd Gewaltszenen auch hier ihre Schlupfwinkel finden.
Sprecherin:
Immerhin steht das Internet den Verletzungen von Menschenrecht und Würde nicht mehr völlig wehrlos gegenüber. Die FSM hat auf ihrer Homepage www.fsm.de eine Beschwerdeseite eingerichtet. Sabine Frank:
Sabine Frank, O-Ton:
Wir haben eine Beschwerdestelle, wo sich jedermann bei uns beschweren kann, wenn er entwicklungsbeeinträchtigende, jugendgefährdende oder auch strafrechtsrelevante Inhalte findet, wir werden dann den Inhalteanbieter, wenn er in Deutschland ansässig ist anschreiben und auffordern uns eine Stellungnahme abzugeben, bzw. den Inhalt vom Netz zu nehmen. Wenn es sich bei den gemeldeten Inhalten um kinderpornographische Inhalte handelt, werden wir sie unverzüglich ans BKA weiterleiten, die dann für die Strafverfolgung zuständig sind, wir verstehen uns als Ergänzung zur Strafverfolgung, wir sind kein Ersatz, sondern wir arbeiten sehr kooperativ zusammen.
Sprecherin:
Aber das Internet ist keine nationale Angelegenheit, Probleme lassen sich nicht auf ein Land beschränkt wirksam angehen. Deshalb hat die FSM zusammen mit 18 Organisationen aus 16 anderen Ländern einen internationalen Dachverband gegründet - er heißt Inhope -  um weltweit diskriminierende, menschenver­ach­ten­de Inhalte im Netz bekämpfen zu können. Sabine Frank ist Vizepräsidentin dieser internationalen Dachorganisation Inhope:
Sabine Frank, O-Ton:
Wenn die Inhalte im Ausland liegen haben wir Partnerorganisationen, an die wir das weiterleiten können, die dann nach dem Recht des jeweiligen Landes, wo der Inhalt vor Ort gehostet wird, tätig werden. Das ist in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Während wir in Deutschland zum Beispiel sehr rigide Gesetze für rechtsradikale Inhalte haben, was aufgrund unserer Historie bedingt ist, sieht man das in vielen Ländern ganz anders, Paradebeispiel sind die USA, die ...die Meinungsfreiheit sehr hoch schreiben, und rechtsradikale Inhalte auch darunter fassen.
Musikalisches Intermezzo

Sprecher:
Dem Internet droht nicht nur Gefahr durch rassistische Hetze und kriminellen Missbrauch, sondern auch durch staatliche Übergriffe oder andere autoritäre Einschränkungen. Die Freiheit des Netzes, in den Anfängen des wildwüchsigen dezentralen Internets grenzenlos, ist inzwischen durch Zensur gefährdet. Filtersoftware, die vorgibt nur Gewalt und Pornographie auszuschließen, blockiert mitunter andere Inhalte, ohne dem Benutzer die entsprechenden Kriterien offen zu legen.
Sprecherin:
Oft werden - ganz plump - so genannte Keywordlisten eingesetzt. Sobald also ein bestimmtes Wort auftaucht, wird die entsprechende Seite durch die Filtersoftware gesperrt, ohne dass näher geprüft wurde, ob es sich vielleicht um aufklärerische Seiten sexueller Minderheiten oder um Satire handelt.
Claudia Klinger hat in dieser Hinsicht schon Erfahrungen mit Netz-Zensur gemacht.
Claudia Klinger, O-Ton:
Ich bin schon ganz früh 1996/97 wegen des Abdrucks eines gezeichneten PinUps von Compuserve verwarnt worden, dass jetzt bald meine Homepage gelöscht wird, wenn ich das Teil, das in die Kategorie Pornographie 3 fiele, nicht bald wegnehme. Es war der totale Lacher… Ein andermal sagte mir einer, dass er in irgendeinem öffentlichen Internetzugang nicht auf mein Tagebuch kam, und es war an dem Tag, wo in der Überschrift einmal das Wort Sex vorkam. Das war einfach weggefiltert worden, ich finde, so kann es nicht bleiben, dass dann vielmehr der Staat Regeln erlassen muss, damit die Filterer nicht einfach machen, was sie wollen. - was zum Beispiel in Amerika jetzt Usus ist, weil man von Amerika einfach die Filter übernimmt.
Sprecherin:
Ein weiteres Problem im Netz gibt der mangelnde Datenschutz auf. Was geschieht mit den Spuren, die jeder Surfer im Netz hinterlässt? Der einzelne wähnt sich vollkommen anonym während seiner flüchtigen Aufenthalte im Cyberspace, in Wahrheit folgt ihm ein markanter Datenschatten, der sich im Netz eingraviert und von interessierter Stelle sehr wohl identifizieren ließe.
Sprecher:
Bernd Guggenberger, Sozialwissenschaftler, wundert sich denn auch über die allgemeine Sorglosigkeit angesichts der ungeheuren Missbrauchsmöglichkeiten und Verfolgungsmittel, die dem Staat zuwachsen, auch wenn er davon aktuell keinen Gebrauch macht.
Bernd Guggenberger, O-Ton:
Mit jedem Mausklick, den Sie machen im Netz, hinterlassen Sie digitale Spuren, Sie sind abhörbar, ortbar, sichtbar in ihren Verhaltensweisen als Konsument, als Praktiker bestimmter Sexualtechniken, was immer Sie nehmen wollen, ...
Ich behaupte nicht, dass wir die Big-Brother-Situation haben – doch: wir haben sie, in anderer Variante, als die ursprünglich gemeinte, die totalitäre Zwangsvereinnahmung - aber eines muss man sagen: Hitler war mit dem Volksempfänger, ohne den vermutlich die nationalsozialistische Diktatur nicht möglich gewesen wäre, vergleichsweise waisenknabenhaft ausgestattet mit totalitären Zugriffsmöglichkeiten im Vergleich zu dem, was ein Staat heute und morgen, wenn er denn totalitär auf seine Bürger zugreifen wollte, zur Verfügung hat. Wo steht denn geschrieben, dass diese Millionen von Computern in Büros, in Haushalten nicht irgendwann im Takt marschieren sollten? Wir haben ja die Situation in China vor Augen, die große Freiheit im Internet ist eine Chimäre. Nichts leichter, als eine Zensur vorzuschalten, das passiert da genau.
Musikalisches Intermezzo

Sprecherin:
Das Netz führt die Menschen in eine widersprüchliche Situation:
Einerseits sammeln sich die Spuren des Einzelnen, wo er gesurft, was er angeschaut oder gekauft hat zu einer regelrechten Freizeit-, Konsum-, und Verhaltensbiographie, zu einem elektronischen Persönlichkeitsdoppel wie Bernd Guggenberger schreibt.
Sprecher:
Andrerseits bietet das Internet auf der Oberfläche den Schein vollkommener Anonymität. Es lockt mit der Möglichkeit, die eigene Identität zu entwerfen, sich eine andere Persönlichkeit zuzulegen. Insbesondere in den Chat-Rooms tummeln sich die Leute mit ihren Phantasienamen: sie heißen WeisseWölfin, Sexyboyxx18, magicwords, amor22 oder schlicht Hannover15. Sie treffen sich in verschiedenen Channels wie Herzklopfen, Trauminsel oder Halle 1. Der Reiz besteht darin, sich in so genannte Separees zurückziehen, um dort mit dem oder der Ausgewählten allein zu sein.
Sprecherin:
Hier entsteht eine völlig paradoxe Situation: Scheinbar intim und nah, aber doch völlig abstrakt und durch das Medium distanziert, geht es distanzlos penetrant zur Sache: Dialoge per Tastatur, die sich oft in wüster Verbalerotik ergehen. Aber wer verbirgt sich hinter Sexygirl69? Ist es überhaupt eine laszive Sie oder vielleicht ein verklemmter Er, der mit dieser Rolle spielt. Oder verbirgt sich hinter dem Pseudonym eine ganze Clique, die spätpubertäre Scherze treibt. Das Internet bietet Gelegenheit zum Maskenspiel wie der Karneval vergangener Zeiten.
Bernd Guggenberger, O-Ton:
Eins der großen Faszinosa des Internet ist ja dass man diese Chance der zweiten Geburt hat. Dass man das Geschlecht frei wählen kann, dass man sich eine andere Identität zulegen kann, insbesondere wenn man in der sozialen Realsituation unzufrieden ist, weil man zu dick oder zu dürr oder zu hässlich ist, zu wenig schön, dann legt man sich eine andere Identität zu. Ich hatte mal vor 10 oder zwölf Jahren , als das Internet noch lange nicht so selbstverständlich war wie jetzt eine Studentin, die auf den staubtrockenen Namen Astrid Österle hörte, und die sich im Netz Wild Mandely nannte, - die wilde Mandely. Das ist ganz klar, was da passiert: das Netz als Kompensationsinstrument, aber man muss eben wissen, dass es nur Kompensation ist. Sie ist deswegen noch nicht im wirklichen Leben die wilde, die sie gern sein möchte. So in fast allem.
Sprecher:
Aber das Internet ist nicht nur ein Maskenball, wo Möchtegern-Phantasien und folgenlose Rollenspiele ausgetragen werden, es bietet auch Gelegenheit zu Kontakten, die wieder aus dem virtuellen Reich heraus ins reale Leben führen. Kontaktbörsen wie FriendScout24 oder Neu.de erfreuen sich inzwischen in Deutschland großer Beliebtheit, Online-Dating heißt ein Schlagwort der Netzwerk-Generation. Kontaktbörsen sind nicht allein Orte zum Flirten, hier werden auch zahlreiche Freundschaften und Liebesbeziehungen gestiftet.
Musikalisches Intermezzo

Sprecherin:
„Das Internet ist ideal, um in kurzer Zeit unterschiedlichste Persönlichkeiten in ganz Deutschland zu treffen“, schrieb eine junge Frau, die ihren späteren Ehemann online kennengelernt hat. Nach Umfragen hat das Web inzwischen klassische Orte des Kennenlernens wie Kneipe, Restaurant oder Fitnessclub überholt und rangiert direkt hinter Arbeitsplatz und Party. Bei den Partnerbörsen kann man sich kostenlos eintragen lassen. Gebühren werden erst dann fällig, wenn man selbst Kontakt aufnehmen will. Natürlich versuchen T-Online, Yahoo, AOL und die anderen Großen der Branche diesen Trend zu nutzen, der ihnen ein gutes Geschäft verheißt.
Sprecher:
Was bedeutet es, wenn Menschen heute zunehmend über technische Medien wie das Internet, über Handys und SMS miteinander verkehren? Bleibt ihnen dieses Verhalten äußerlich? Die Frage berührt das philosophische Problem des Subjekts. Die klassische Bewusstseinsphilosophie unterstellte ein autonomes, in sich ruhendes Ich, das gleichsam fertig die Welt betritt, in der es dann dem Anderen begegnet und auf die Dinge trifft. Die Philosophie im 20. Jahrhundert hat auf verschiedenen Wegen dieses Subjektverständnis revidiert.
Sprecherin:
Einen radikalen Weg ist dabei der Philosoph und Kommunikationswissen­schaftler Vilém Flusser gegangen. Mit Verweis auf den Wandel durch die neuen Informationstechnologien und -medien fordert Flusser dazu auf, das von der Philosophie lange gehegte, aber falsche Selbstbild des Menschen zu verabschieden: "Irgendein 'harter' Kern des Ich, ein 'Selbst', eine 'Seele', erweist sich – so schreibt Flusser - als logisches und existentielles Unding."
Das Ich sei kein abgeschlossenes Wesen, das in sich selbst ruhe, kein harter Kern, sondern stelle vielmehr einen Knoten im Kommunikationsprozeß dar.
Für Flusser bildet sich das Ich allererst in der Verbindung mit anderen, im Dialog, dort wo Frage und Antwort, Rede und Gegenrede sich miteinander verknüpfen.
Sprecher:
Rafael Capurro revidiert auf andere Weise das Bild des menschlichen Subjekts, mit seinem neu entwickelten Konzept der Angeletik, der Lehre des Boten.
Rafael Capurro, O-Ton:
Das Wort angelos auf Griechisch bedeutet ‚Bote’ - die Engel im theologischen Sinne sind die himmlischen Boten, die die Botschaften Gottes an Maria und an sonstige Empfänger gebracht haben. Aber der angelos – der Bote - ist ein ganz normaler griechischer Begriff gewesen für die Antike, wie der Briefbote, der Postbote, und in diesem Sinne sind wir immer alle schon Boten gewesen, wir sind alle Träger einer Botschaft gewissermaßen als Menschen. Man spricht auch von leeren Boten, die wir alle sind, ein gewisser Bedarf an einer Botschaft, die wir mit uns tragen und die wir an andere vermitteln wollen, man kann das vielleicht so sagen: …wenn wir tatsächlich in eine Kultur übergehen, die durch Vernetzung und Austausch von Botschaften, von messages geprägt ist, dann verwandelt sich die Auffassung, der Mensch wäre ein selbständiges autonomes Subjekt, weil der Begriff des Boten und der Botschaft zunächst einmal ein heteronomer Begriff ist, … ein Bote ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass er autonom und selbständig ist, er ist eher abhängig.
Sprecherin:
Der Bote ist weder der Schöpfer einer Botschaft, noch ihr endgültiger Adressat. Der Bote existiert mitten im Geschehen. Aber er hat sehr wohl eine verantwortliche Aufgabe, einen existentiellen Auftrag: Er ist mit der Frage konfrontiert: Wie gehe ich mit den Informationen um, die ich erhalten habe? Wem übermittle ich sie? Wahrscheinlich muss er die Nachricht auch selber interpretieren und sich aneignen, um die beiden ersten Fragen überhaupt beantworten zu können.
Sprecher:
Das Bild des Boten scheint geeignet die menschliche Existenz in einer medial vermittelten Welt zu reflektieren, auch deshalb weil dieses Paradigma eine Balance hält zwischen Freiheit und Abhängigkeit, zwischen Souveränität und Angewiesensein auf andere. Für den Boten ist eine reine Pflichtethik, also die Ausrichtung auf bestimmten Normen und Regeln, nicht ausreichend. Denn um der Herausforderung gerecht zu werden, um sein Ziel überhaupt zu erkennen und Wege dorthin zu finden, muss der Bote konstruktiv denken und handeln, - ethisch im Sinne einer philosophischen Lebenskunst.
Sprecherin:
Die ethische Verantwortung ist deshalb neu zu tarieren. Rafael Capurro hat dazu ein neues Buch vorgelegt mit dem Titel: Ethik im Netz. Der Akzent verschiebt sich von einer kantischen Pflichtethik hin zu einer Verantwortung im Sinne eines Antwortgebens im Wortsinn. Wir müssen uns selbst und den anderen Antwort geben, in Worten und Taten. Gemeint sind dabei Antworten, die wir nicht fertig aus Schubladen hervorholen, sondern die wir – herausgefordert durch Probleme und Fragen – erst mühsam entwickeln müssen. So wie der französische Ethiker Emanuel Lévinas sagte: Antworten heißt, etwas geben, was man nicht hat.
Musikalisches Intermezzo

Sprecher:
Neben Konzepten, die einer Bescheidung des Menschen das Wort reden, kursieren im Netz auch entgegen gesetzte Entwürfe, die ihn überhöhen und dank Technik in die Nähe Gottes rücken. Solche Ideologien moniert Bernd Guggenberger:
Bernd Guggenberger, O-Ton:
Ich fürchte, wir stolpern in diese Welten einer nicht menschengemäßen oder vom Menschen noch nicht begriffenen Künstlichkeit ohne zu wissen was wir tun, blind, … viel zu wenige reflektieren darüber, dass es diesen neuesten Schulterschluss zwischen Technokratie und Theologie gibt, das ist mit Händen zu greifen Netreligionists – „Das Netz ist das Göttliche“, … die reichlich anmaßende Selbsttitulierung des Netzes ist ja: ‚Wonna be gods’ – ‚Wir wollen sein wie Gott’, - wir schaffen die Welt neu, virtuelle Welten am laufenden Band zu kreieren und uns von dieser Welt der Kiloponds der Ecken und Kanten, wo man sich blutige Schienbeine holt, eingeschlagene Nasen uns davon zu lösen und in die Welt der Bits und Bytes, der Körperlosigkeit, der Ortlosigkeit, zu sein wie Engel – wenn nicht wie Gott, dann wie Engel - wie engelsgleiche Wesen.
Sprecherin:
Engel ist hier nicht im Sinne des Boten, griechisch angelos, sondern streng theologisch gemeint. Als Geistwesen sind die Engel körperlos, weder an Ort noch an Zeit gebunden. Sie haben auch kein Geschlecht. Gleicht der Internetsurfer, wenn er mit ein paar Klicks überall und nirgends ist, wenn er seine Mails in Echtzeit über den Globus schießt, nicht einem Engel?
Und auch mit seiner Geschlechtsidentität kann er spielen, wenn er den Chatroom betritt. Rückt uns das Internet in die Nähe Gottes? Hat es selbst gottähnliche Züge, wie die Ideologen des Netzes verkünden?
Sprecher:
"God is the machine" – "Gott ist die Maschine" überschreibt Kevin Kelly einen Artikel über den Cyberspace. In den Ideologien der Cyberenthusiasten finden wir eine höchst problematische Abwertung des Körperlichen und eine Geringschätzung der Materie: In der Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von John Perry Barlow hieß es:
Zitator:
Unsere Welt ist zugleich überall und nirgends, doch sie ist nicht dort, wo Körper leben. Eure Rechtsbegriffe … gründen in der Materie, doch hier gibt es keine Materie."
Sprecherin:
Vor uns ersteht aufs neue das manichäische Weltbild der spätantiken Gnosis: es spaltet den Kosmos in die gute Welt des Geistes, - das ist das Internet; und die schlechte Welt der Materie - das ist die alte Erde, wo Macht und Geld regieren. In der vermeintlich ganz und gar technisch-utopisch angelegten Weltanschauung treffen wir unverarbeitete religiöse Weltbilder. Die Verachtung des Körpers, dieser wetware - wie die Hacker spotten, bildet die fatale Kehrseite des technoreligiösen Traumes, an der Göttlichkeit des Netzes teilzuhaben.
Sprecher:
Aber die Verdrängung und Verleugnung des Körpers holt den Cyberenthusiasten mit Sicherheit ein. Denn das Verdrängte kehrt allemal wieder. Der vernachlässigte, missachtete Körper, den der Geist im Netz scheinbar endgültig überwunden und abgestreift hatte, bringt sich – im buchstäblichen Sinne - schmerzlich bei jedem in Erinnerung. Der Körper klagt sein Recht ein.
Claudia Klinger, O-Ton:
Also ich sitze sozusagen 12 Jahre vor dem PC und jetzt ist das Ende der Fahnenstange erreicht, jetzt habe ich diverse Sitzschäden, Nervenstörungen, taube Stellen am Bein, und wenn ich darüber rede oder schreibe meldet sich jeder Zweite zu Wort und sagt: Das habe ich auch. Das ist echt fortgeschritten zur Zeit des Internets. Man hat eine andere Situation als Mensch, man muss sagen, aha, ich muss mich diesem Körper anders zuwenden, und zwar weil mein normaler Lebensvollzug offensichtlich nicht mehr dazu ausreicht, dass er genug bekommt, was er braucht, um in Ordnung zu bleiben, und das ist schon neu, man tut es nicht um schön, fit oder schlank zu sein aufgrund irgendwelcher Ideale, die man mit sich trägt, sondern aus Notwendigkeit.
Das ist schon ein anderes Verhältnis zum Körper. Und ich glaube, es ist nicht schlecht, wenn die Menschen dahin kommen, das wirklich bewusst zu tun. Ich versuche es, indem ich zum Beispiel Yoga mache oder ins Fitness-Center gehe, dann entsteht auch eine andere Körperkultur, die nicht nur vom Anblick ausgeht, also man soll schön sein, sondern es könnte auch eine echte Zuwendung zur körperlichen Ebene herauskommen.
Musikalisches Intermezzo

Sprecherin:
Der vernachlässigte Körper ist nicht nur ein gesundheitliches Problem. Denn es geht nicht allein darum, den Körper fit zu halten, weil wir trotz Internet ein organisches Vehikel brauchen. Wir haben einen Körper, aber wir sind auch Leib. Körperhaben bedeutet, dass unser Wille die Glieder in Regie nimmt, in mancher Hinsicht über sie verfügen kann wie über äußere Dinge. Leibsein, bedeutet dass wir unmittelbar körperlich existieren, indem wir sehen und hören, fühlen und uns bewegen – mit einem Wort: Leibsein bedeutet Leben.
Die Absage der Cyberianer an den Körper kommt deshalb einer Distanzierung vom Menschsein gleich. Und umgekehrt bedeutet, sich dem Körper zuzuwenden eben auch unsere conditio humana zu bejahen.
Sprecher:
Freilich ist der Mensch ein äußerst plastisches Wesen. Er ist in der Lage, sich immer neuen Bedingungen, zunehmend auch solchen, die er selber geschaffen hat, erfolgreich anzupassen. Das zeigte auch die Krise in der Folge der Industrialisierung. Motorisierung und sitzende Tätigkeiten hatten dazu geführt, dass es dem modernen Menschen an Bewegung mangelt. Bewegung musste eigens gesucht und bewusst gelebt werden. Dies geschah vor allem im Phänomen des Breitensportes, der sich im 20. Jahrhundert rasch ausbreitete.
Die Kultur entwickelt immer wieder Formen des Ausgleichs und der Kompensation, sie versucht unter veränderten Bedingungen ein neues Gleichgewicht zu schaffen.
Sprecherin:
Vielleicht müsste man die Idee der Kompensation auch für die Probleme des Menschen im Netz fruchtbar machen. Das Netz wäre dann nicht per se als gut oder schlecht zu beurteilen, als heilsbringend oder verhängnisvoll, vielmehr stellt sich die Frage eines klugen, ausgewogenen Umgangs. Ein solcher Umgang muss gelernt und kultiviert werden. Die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia beschäftigt sich aus diesem Grund auch nicht nur mit Restriktionen und der Verhütung von Negativem, sondern arbeitet konstruktiv in medienpädagogischer Hinsicht:
Sabine Frank, O-Ton:
Für mich sehr wichtig ist eine Aufklärungsarbeit, das ist dasjenige, wo die FSM sich sehr stark engagiert. Ich finde es sehr wichtig, dass Eltern als auch Kinder mit dem Medium umgehen können. Man braucht eine hohe Auswahlkompetenz, viel mehr noch als in den klassischen Medien, man muss wissen, wo finde ich die Inhalte, die mich interessieren und wie gehe ich mit vielleicht schädigenden Inhalten um. Aus diesen Gründen haben wir Leitfäden entwickelt, die sich an Kinder, an Eltern richten, haben zusammen mit zum Beispiel dem Deutschen Kinderhilfswerk eine Broschüre erstellt, die gute Kinderseiten aufzeigen: Das ist der richtige Weg für Kinder ins Netz.
Und das ist für mich ein Weg in die Zukunft: Medienkompetenz zu stärken.
Sprecherin:
Während auf der nationalen Ebene medienethische und medienpädagogische Fragen besonders relevant sind, prägt auf internationaler Ebene das Problem des so genannten digital divide – der digitalen Spaltung - die Diskussion. Länder und Regionen, die mit der informationstechnologischen Aufrüstung nicht Schritt halten, fallen in ihrer Gesamtentwicklung noch weiter zurück. Vernetzt – Gespalten wird ein Buch heißen, an dem Capurro und Hausmanninger derzeit arbeiten. Es thematisiert den Widerspruch, dass ausgerechnet eine Technologie, die eigentlich die Länder und Menschen zusammenführt, bestehende Unterschiede noch verschärfen kann.
Sprecher:
Und im Oktober diesen Jahres findet am Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien ein internationaler Kongress statt unter dem Thema Localizing the Internet. – Wie wirkt sich die Vernetzung auf einzelne Kulturen und Regionen aus? Was bringt sie den Menschen vor Ort?
Rafael Capurro, der aus Uruguay stammt, verfolgt die Entwicklungen der verschiedenen Kontinente, mit besonderem Augenmerk auf die Situation in Lateinamerika.
Rafael Capurro, O-Ton:
Es ist sehr unterschiedlich. Wenn ich mich erinnere, sind im Augenblick 5 – 10 Prozent der Bevölkerung in Südamerika angeschlossen gegenüber 80, 90 % in Europa oder in USA oder Japan. In Afrika ist es noch viel schlimmer. Ich glaube der ganze afrikanische Kontinent hat so viele Telefonanschlüsse wie Manhattan. … In Südamerika ist es sehr unterschiedlich. Sie haben Länder mit sehr breiten Entfernungen, … Ich bin vor kurzem in Peru gewesen, in Macchu Picchu und in Cuzco. Und in Cuzco habe ich an jeder Ecke ein Internet-Cafe gesehen, aber gleichzeitig saßen die Bettler, Frauen abends mit kleinen Kindern, 2, 3 Jahre alt, und haben um ein bisschen Geld gebettelt. Und sie sahen trotzdem an jeder Ecke ein Internet-Cafe. So dass es eigentlich deutlicher wird, dass die Vernetzung die Spaltung noch vertieft, die Kinder gehen ins Internet-Cafe und schicken Mails aber gleichzeitig haben sie nichts zu essen. .. Es kann auf viel basaleren Ebenen den Leuten geholfen werden, gerade in den entfernten Gebieten. Was sie brauchen, ist nicht das Internet, sondern sie brauchen Wasser. Ob das Internet denen hilft, schneller an das Wasser zu kommen, das ist die Frage.
Sonst stellen wir die Sache auf den Kopf, dann fragen wir: "Sie haben Internetanschluss?" – "Ja schon, aber wofür?" (Lachen)
Musik zum Ausklang: