1. Sprecher:

"Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört," - schreibt Nietzsche - "der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: 'Ich suche Gott! Ich suche Gott!' - Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? - so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. 'Wohin ist Gott?' rief er, 'ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?"

 

2. Sprecher:

Nietzsche veranschaulicht in dieser Szene eine meta­physische Katas­trophe, die totale Desorientierung des Menschen.

"Gott ist tot" - damit meint Nietzsche nicht allein den Verfall des christlichen Glaubens in einer aufgeklärten Welt, "Gott ist tot" bedeutet zugleich das Ende der Metaphysik. Denn in der Tradi­tion der abendländischen Philosophie waren die Ideen des Wahren und des Guten immer mit dem Begriff Gottes verbunden: Gott war der metaphysische Bürge dafür, daß es letzte Wahrheiten und absolute Werte gibt, und daß die Geschichte einen Sinn hat. Ohne Gott zer­bricht dieses traditionelle Fundament, und der Mensch stürzt in eine metyphysische Leere, in einen Kosmos, in welchem ihm der eis­kalte Hauch des Nichts entgegenschlägt: kein Gott, keine Wahrheit, kein Wert, - Horror vacui, ein Schauder, daß im letzten buchstäb­lich nichts sei, - dies ist die Erfahrung des Nihilismus. "Wenn ich hinsehe ins Leben, was ist das letzte von allem? Nichts. Wenn ich aufsteige im Geiste, was ist das Höchste von allem? Nichts" - schreibt Friedrich Hölderlin.

 

1. Sprecher:

Unserem ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert ist das Pathos abhan­den gekommen, mit dem Nietzsche und Hölderlin die nihilistische Erfahrung ausdrückten, das Problem aber ist geblieben. Heute voll­zieht sich die Krise eher als stille Auszehrung und schleichende Erosion. Die Gültigkeit tradierter Werte und Normen, die Verbind­lichkeit von überkommenen Lebenskonzepten und Institutionen schwin­det: Ob Ehe, Familie, Religion, ob politische Utopien oder humanistische Ideale - nichts scheint mehr überzeugend.

 

2. Sprecher:

Selbst der Status von Wirklichkeit gerät zunehmend in Zweifel. Denn die menschliche Erfahrung wird in der Gegenwart vor allem durch die Bilder der Medien geprägt, Bilder, denen die Menschen Tag für Tag ausgesetzt sind. Es sind Bilder des Schreckens, der Banalität und des schönen Scheins, die sich zu einem Strom vermi­schen, der die Menschen letztlich gleichgültig gegen die Inhalte macht. Der Mensch verliert den Bezug zur Wirklichkeit, die sich verflüchtigt in der Inflation der Bilder. Diese Auflösung der Realität in den Schein und die Ausbreitung von Gleichgültigkeit kennzeichnet am deutlichsten den Nihilismus unserer Zeit.

Die nihilistische Krise hat ihren Schatten nicht nur auf das pri­vate, sondern auch auf das öffentliche Leben und die Geschichte des 20. Jahrhunderts geworfen, erklärt Otto Pöggeler, der Philo­sophie in Bochum lehrt.

Wie kann man diesen Nihilismus verstehen?

 

O-Ton, Otto Pöggeler:

"Im allgemeinen stützt man sich ja auf Nietzsche, der gesagt hat, daß der Nihilismus die Bewegung sei, in welcher die Werte, die obersten Werte, die unserem Leben Sinn geben, hinfällig werden und ihre bindende Kraft verlieren. Und Nietzsche hat dann ja prophe­zeit, das wird im 20. und im 21. Jahrhundert so sein, und als Ge­genreaktion werden die Menschen dann versuchen, wieder etwas zu schaffen, zum Beispiel im Kampf um die Weltherrschaft, es wird rie­sige Kriege geben, und da hat Nietzsche zumindest für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts recht gehabt. Ob er weiter recht be­hält, ist eben eine andere Frage."

 

1. Sprecher:

Tatsächlich bedeuteten die beiden Weltkriege eine Katastrophe für das alte Europa. Es büßte nicht nur seine Rolle als politisches Machtzentrum der Welt ein, ebenso erlitt auch die geistige Tradi­tion und die philosophische Selbstorientierung einen schweren Ein­bruch.

Die Katastrophe war aber keineswegs plötzlich hereingebrochen. Schon das ausgehende 19. Jahrhundert, als Nietzsche den Nihilismus dia­gnostizierte, war eine Zeit der Décadence. Symptome des geisti­gen Niedergangs, der inneren Leere und Müdigkeit wurden allerorts spürbar, unübersehbar war auch die Unfähigkeit des Bürgertums zur geistigen Veränderung. Es war in seinen Konventionen und Denk­mu­stern erstarrt und nicht in der Lage, die gesellschaftlichen Ver­änderungen im Zuge der industriellen Revolution zu bewältigen und die drängenden sozialen Fragen anzugehen.

 

2. Sprecher:

Die Zeit der Décadence war das, was Nietzsche einen passiven Nihi­lismus genannt hat, ein resignatives Gefühl der Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit, eine Lebensmüdigkeit, die das Ende will. Im 20. Jahrhundert jedoch erfolgte ein Umschlag aus dem Leiden ins Tun, aus dem Gefühl der eigenen Nichtigkeit in die vollzogene Vernich­tung der anderen, ein Umschlag aus einem passiven in einen aktiven Nihilis­mus: Hitler und Stalin, Auschwitz und Hiroshima - diese Na­men er­innern an beispiellose Exzesse von Menschenverachtung und Völker­mord.

Beim Problem des Nihilismus greifen philosophische und politische Fragen aufs engste ineinander. Jüngst hat Hans-Jürgen Gawoll seine Dissertation zur Nihilismus-Thematik vorgelegt mit dem Titel "Nihilismus und Metaphysik".

 

O-Ton, Hans-Jürgen Gawoll:

"Also da glaube ich schon, daß das 20. Jahrhundert gerade durch einen Geist des Nihilismus beherrscht ist, und zwar wenn man ein­mal von dieser kulturkritischen Diagnose, von diesem kulturkriti­schen Begriff des Nihilismus einmal wegkommt, daß sich unsere obersten Werte entwertet haben: Nihilismus meint, wenn man einfach auch dann in die Philosophiegeschichte guckt, einen ganz anderen Zusammenhang, nämlich den Zusammenhang, wie man von einer Wirk­lichkeit, von einer transzendenten Wirklichkeit aus, die Welt in der wir faktisch leben, betrachtet; und die Konsequenz eines sol­chen Denkens ist, daß man diese Wirklichkeit verneint, daß man sie nicht wahrhaben will, daß sie relativiert wird. Und wenn wir uns dann die Geschichte gerade im 20. Jahrhundert und auch jetzt bis zu den Kriegen um die Moslems in Bosnien und Herzegowina ansehen, dann muß man sagen, die praktische Konsequenz eines Denkens, das Welt verneint, ist gerade der Krieg gegen Min­derheiten, ist die Zerstörung der Welt, wie wir es kennengelernt haben in Harrisburg, in Tschernobyl, das ist praktische Welt­verneinung. Und insofern ist dieses 20. Jahrhundert in einem kaum denkbaren Ausmaß eben die Verwirklichung des Nihilismus, Nihilis­mus - da wird die Welt ver­neint."

 

2. Sprecher:

Nihilismus ist Weltverneinung. Doch woher kommt ein solcher Geist der Weltverneinung? Wie ist ein solches Denken enstanden?

Friedrich Nietzsche ist dieser Frage nachgegangen und hat die  Wurzeln der nihilistischen Weltverneinung freigelegt: es sind die Ursprünge des abendländischen Denkens selber, insbesondere der Idealismus Platons und der Geist des Christentums.

Platon nämlich hat der empirischen Wirklichkeit jede Wahrheit im eigentlichen Sinne abgesprochen. Für wahr und gut habe nur dasje­nige zu gelten, was ewig und unwandelbar ist, was sich selbst im­mer gleichbleibt. Das ist Platons übersinnliches Reich der Ideen. Demgegenüber sei die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit aufgrund ihres steten Wandels ein minderwertiges Gebilde, eine Welt des trügerischen Scheins und der Unwahrheit.

In entsprechender Weise hat das Christentum, vor allem durch Paulus, die irdische Wirklichkeit diskriminiert: das Diesseits sei nur ein Jammertal, ohne Wert in sich selbst, nur Prüfung für das eigentliche Leben im Jenseits.

 

1. Sprecher:

Weil Platonismus und Christentum das irdische Leben für nichts er­achten - so Nietzsches radikale These -, sind sie selber zutiefst nihilistisch. D.h. der Nihilismus ist nicht erst äußerliche Folge einer zerfallenen abendländischen Tradition, vielmehr trug diese Tradition den Nihilismus immer schon in sich, er ist ihre Rück­sei­te, die nun nach vorne tritt: denn in dem Moment, wo der Glaube ans Jenseits und an ewige Wahrheit verfällt, bleibt allein das zu­vor entwertete Diesseits übrig. Die große Sinnlosigkeit war also programmiert.

Nietzsche überschreitet einen bloß zeitkritischen Begriff von Ni­hilismus. Nihilismus wird für Nietzsche zum philosophischen Schlüsselbegriff einer Kritik des abendländischen Denkens im gan­zen. Die abendländische Philoso­phie, so Nietzsche, war immer auf das unvergängliche Sein ausge­richtet, das kosmische Prinzip des Werdens hingegen, daß alles entsteht und vergeht, hat sie stets geringgeschätzt.

 

2. Sprecher:

Nietzsche enthüllt darin eine Angst vor dem Leben und ein Ressen­timent gegen eine Wirklichkeit, die man nicht aushält, weil sie ewig wechselnd, widerspruchsreich, abgründig und mit den Mitteln der Logik nicht zu beherrschen ist. Wir sind Enttäuschte, schreibt Nietzsche und kehrt dabei aber den produktiven Nebensinn hervor:

Ent-täuscht sind wir, weil nun eine Täuschung von uns abfällt. Da­mit betreibt Nietzsche eine Aufklärung, die sich freilich zuletzt auch gegen die Aufklärung selber wendet, gegen deren Glauben an den Wert der Wahrheit und den Primat der Vernunft. Nietzsche wirft der neuzeitlichen Vernunftphilosophie vor, daß in ihr die nihili­sti­sche Metyphysik nicht überwunden, sondern nur fortgesetzt wer­de: Das Subjekt beansprucht den Platz Gottes, der Mensch schneidet sich dabei von seinen vitalen Antrieben ab. Er tritt der Welt als abstraktes Vernunftwesen gegenüber und erklärt seine rationalen Prinzipien zur Maßgabe von Wirklichkeit.

 

1. Sprecher:

Denn nach dem Zerfall der mittelalterlichen Ordnung hat sich ein neues Weltverständnis ausgebildet. Die Geschichte ist nicht mehr die allmähliche Verwirklichung eines göttlichen Heilsplanes, und die vorgegebene Ordnung der Welt wird nicht mehr als unveränderbar empfunden. Die Welt und die Stellung des Menschen in ihr wird zum Problem. Die Neuzeit beginnt mit dem Mißtrauen gegen die Welt und gegen sich selbst. Den berühmten Satz des Descartes, "Cogito, ergo sum"; "ich denke, also bin ich", verbindet man in der Philosophie mit dem Beginn des neuzeitlichen Denkens. Er drückt aus, daß nicht einmal die eigene Existenz als selbstverständlich empfunden wird, denn Descartes fragt sich, ob er überhaupt leibhaftig existiere. Descartes verdächtigt die Erfahrung der Welt, daß sie ein umfas­sender Betrug sein könnte, eine bloße Täuschung. Und aus diesem Mißtrauen gegen die Erfahrung wird die Welt schließlich verneint und mit ihr zusammen auch die ganze Sinnlichkeit des Menschen. Descartes schreibt:

 

2. Sprecher:

"Ich werde also unterstellen, daß nicht ein allgütiger Gott, eine Quelle der Wahrheit, sondern irgendein bösartiger Dämon sei und daß ebendieser, höchst mächtig und verschlagen, seinen ganzen Fleiß darein gesetzt habe, mich zu täuschen; ich werde annehmen, daß Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und das Gesamt al­les Äußeren nichts anderes sei als ein Gaukelspiel der Träume, durch daß er meiner Leichtgläubigkeit hinterlistig Fallen stellt; ich will mich selbst so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, nicht irgendwelche Sinne, sondern meinte bloß fälschlich, dies alles zu haben."

 

1. Sprecher:

Das neuzeitliche Subjekt vergewissert sich seiner selbst aus dem Zweifel, statt 'cogito, ergo sum' könnte man auch formulieren: 'dubito, ergo sum', ich zweifle, ich mißtraue, also bin ich!'. Au­ßer dem zweifelnden Ich gibt es nichts, was gewiß wäre.

 

O-Ton, Hans-Jürgen Gawoll:

"Nihilismus heißt dann also, daß das Subjekt nur noch auf sich selber bezogen ist, und die Wirklichkeit außerhalb seiner selbst überhaupt nicht mehr wahrnehmen kann. Nihilismus ist Weltvernei­nung im theoretischen Sinne. Und in einem ähnlichen Sinne, obwohl Nietzsche das wahrscheinlich gar nicht gewußt hat, gebraucht er selber diesen Begriff: Nihilis­mus ist Weltverneinung; bloß daß er das nicht an der Philosophie des Deutschen Idealismus festmacht, sondern er geht dann schon auf Platon zurück, und er sagt, sofern Platon die Ideen denkt, die einen höheren Seinsstatus haben als unsere empirisch erfahrbare Wirklichkeit, ist er Nihilist. Das Gleiche gilt für das Christen­tum: Sofern das Christentum eine Welt jenseits der Welt annimmt, ein Leben nach dem Tod, das einen höhe­ren Seinsstatus hat, ist das Christentum nihilistisch. Sofern man einen kategorischen Imperativ annimmt, der sich gegen die Neigun­gen wendet, gegen meine körperliche, leibliche Erfah­rung, ist auch eine Kantische Philosophie nihilistisch. Sie verneint also damit auch meine eigene Existenz."

 

2. Sprecher:

Nach Kants praktischer Philosophie kann eine Handlung nur dann mo­ralisch gut sein, wenn sie frei von allen Neigungen ist. Diese sol­­len einem abstrakten Vernunftgesetz geopfert werden. Je schmerz­­licher der Verzicht auf die eigenen Wünsche, schreibt Kant, desto größer die Selbstachtung und das Bewußtsein eigener Frei­heit. Die beiden Philosophen Hartmut und Gernot Böhme schreiben, daß die Kantische Philosophie ein "Programm der Selbstzerstörung der Substanz des Lebens im Menschen" ist. Auch Kants theoretische Philosophie ist eine des Verzichts. Er fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Aber diese letzten Prinzipien sind für uns nicht erkennbar, nur er­schließbar, alle Erkenntnisse sind nur Ansprüche, die sich letzt­lich nicht bewahrheiten lassen, unse­re Urteile über die Welt sind nur hypothetisch. Die Wirklichkeit ist für Kant nicht an sich er­kennbar, sondern nur wie sie im Rah­men unserer Erfahrungs- und Denkmöglichkeiten erscheint. Für ei­nige Zeitgenossen war die Phi­losophie Kants Anlaß zur Verunsi­cherung und Bedrohung, sie empfanden Kants Behauptung, daß jede Wahrheit nur eine für uns ist, als Sturz in einen Abgrund des Nichts.

 

1. Sprecher:

Ein berühmtes Beispiel einer durch Kants Philosophie ausgelösten Verstörung ist die sogenannte 'Kant-Krise' Heinrich von Kleists. Der Dichter schreibt 1801 im Alter von 24 Jahren an seine Schwe­ster:

"Es scheint, als ob ich eines von den Opfern der Torheit werden würde, deren die Kantische Philosophie so viele auf dem Gewissen hat. Der Gedanke, daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt, und daß folglich das Bestreben, sich ein Eigentum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeb­lich und fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert."

 

2. Sprecher:

Kleist erschüttert die Einsicht, daß es keine ewigen Ideen und letzten Wahrheiten gibt, mit denen er sein Leben abstützen kann. Zehn Jahre später wählt er den Freitod.

 

O-Ton, Otto Pöggeler:

"Also sicherlich hat Kleist Kant mißverstanden. Aber er hat ein Motiv gehabt, was dann im 20. Jahrhundert doch sehr stark die Dich­ter auch bestimmt hat, so daß Leute wie Kafka usw. viel eher in der Tradition von Kleist stehen als in der Tradition der ande­ren Dichter der damaligen Zeit. Und hier, meine ich, muß man dem Kleist ein berechtigtes Motiv gegen Kant zugestehen. Wenn Kant sagt, es gibt bestimmte Kategorien, die müssen wir denken, wenn wir überhaupt etwas denken, dann kann man doch fragen, wie recht­fertigt er das. Er rechtfertigt das auf eine Weise, die nicht überzeugend ist, indem er von der logischen Urteilslehre weiter­geht zu den Kategorien usw., also das, wird man heute sagen, ist erschlichen, oder anders ausgedrückt: die Objektivität schwimmt auf einem Abgrund. Das ist die kleistische Erfahrung. Und er sagt, auch das Vertrauen der Menschen, das ja stabilisiert werden kann zu Formen der Sittlichkeit, selbst zu Rechtsformen, schwimmt letzt­lich auf einem Abgrund."

 

1. Sprecher:

Fatalerweise hat die Metaphysik diese Abgründe selber noch ver­tieft in dem Bestreben, sich ein zweifelsfreies unerschütterliches Fundament zu legen. Denn jeder Grund, den sie findet, zieht neuen Zweifel auf sich, jede Begründung muß selbst wiederum begründet werden und so fort. So erzeugt die aufklärerische Kritik einen ni­hilistischen Strudel, der ihre eigene Basis in die Tiefe reißt.

 

2. Sprecher:

Heidegger hat deshalb die Metaphysik als Begründungsdenken kriti­siert und aufgefordert, die Idee der Begründung aufzugeben. Sein, wie er im Hauptwerk Sein und Zeit ausführt, kann nicht be­grün­det, es kann immer nur aus der Zeit heraus, d.h. geschichtlich-konkret verstan­den werden. Es gibt somit keine wahre Erkennt­nis, sondern immer nur einen verstehenden Zugang zur Welt. Der Sinn von Sein er­schließt und entzieht sich in miteinander riva­lisierenden Inter­pretationen und Auslegungen ohne Letztbegründbarkeit.

 

1. Sprecher:

Im Anspruch auf eine unbedingte Wahrheit hingegen steckt auch ein Wille zur Durchsetzung, ein nihilistisches Projekt, über die Welt und sich selbst zu verfügen. Heidegger hat in seiner Reflexion den nihilistischen Zusammenhang zwischen Metaphysik und Gewalt aufge­deckt. Schon Nietzsche erkannte, daß im Willen zur Wahrheit ein Wille zur Macht am Werke sei, doch er bejaht diesen Machtwillen. Heidegger kritisiert, daß Nietzsche damit im Bann der neuzeit­li­chen Me­taphysik befangen bleibt, in einer Konzeption der unbe­dingten Subjektivi­tät, die nichts anderes anerkennen kann, als sich selber, weil sie ihr eigener Grund sein will und Souverän über die Welt. Nietzsches Wille zur Macht gehört damit selbst noch zum herkömmlichen abend­län­dischen Denken, er ist dessen Vollen­dung: Nietzsche überwindet den Nihilismus nicht, wie er glaubte, er überbietet ihn nur. - Die neuzeitliche Philosophie ist aller­dings nicht monolithisch, sondern es gibt auch Gegenbewe­gungen der Selbstzurücknahme und Be­scheidung.

 

O-Ton, Otto Pöggeler:

"Ja, das gibt es sogar im Deutschen Idealismus, wie man gestehen muß, so zum Beispiel Schelling, der ja mit 18, 19 Jahren angefan­gen hat, die Philosophie seiner Zeit zu bestimmen oder mitzube­stimmen, und der dann sehr früh, ich glaube mit 32 Jahren aufge­hört hat, überhaupt etwas zu schreiben, und das letzte, was er schriftlich vorgelegt hat, als größeres systematisches Werk, waren die Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, die um das Problem des Bösen kreisen, und hier haben wir aber im Deut­schen Idealismus selbst gleichsam die Selbstbeschränkung. (...) Schelling sagt, der Mensch als endlicher kann nicht die Verantwor­tung für das Ganze auf sich nehmen, er hat sich nicht selber ge­schaffen, er steht diesen beiden Polen gegenüber und er kann al­lenfalls daran mitwirken, so sagt Schelling in den Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit sich selber korrigierend, kann daran mitwirken, daß was in Gott er selbst ist, in Liebe sich dem Grund zuwendet und den zu etwas Sinnvollem macht. Es gibt, so sagt Schelling, einen Schleier der Schwermut, der über die Welt ausgebreitet ist, und zum Beispiel unakzeptabel ist es für uns doch, wenn wir jemanden haben, der mit uns durch das Leben gegan­gen ist, und der nun plötzlich wahnsinnig wird. Das also kommt aus einem dunklen Grund, sagt Schelling, den wir einfach nicht akzep­tieren können, und der trotzdem da ist."

 

2. Sprecher:

Gegen den Erlösungswillen, auch den der Philosophie, steht Schellings Einsicht, daß es keine letzte Versöhnung gibt und daß wir die Wahrheit nicht haben können. Doch die Relativierung von Werten und Wahrheiten bedeutet auch eine Stärke des demokratischen Bewußtseins. Demokratie und Plura­lismus basieren auf der Abweisung aller totalitären Ansprüche, auch demjenigen einer unbedingten Wahrheit. Ein Fundamentalismus hingegen enthebt das Individuum der Sinnfrage, indem er ihm ein festes Weltbild und verbindliche Re­geln der Lebensführung anbie­tet. Aber um den Preis der Freiheit.

 

1. Sprecher:

Hier wird das positive Moment des Nihilismus deutlich: Die nihili­stisch-skeptische Reflexion in der Neuzeit war auch ein Gegengift, ein wirksames Mittel gegen Dogmatismus, Intoleranz und unbedingte Geltungsansprüche der Tradition. Denn Regeln für ein wahres Leben kann die Philosophie nicht aufstellen, meint der Turiner Philosoph Gianni Vattimo, ein gegenwärtiger Verteidiger des Nihi­lismus, die Philosophie kann uns auch nicht sagen, wohin der Weg gehen soll, sie kann uns nur zeigen, was es heißt, "unter der Be­dingung zu le­ben, nirgendwohin unterwegs zu sein." Unseren Weg müssen wir selbstverantwortlich, ohne letzte Gewißheit und ohne Aussicht auf letzte Versöhnung auf uns nehmen. 

 

2. Sprecher:

Dafür entwirft Nietzsche mit seinem Begriff des Übermenschen die Vorstellung einer heroischen Subjektivität. Der Nihilismus ist für ihn eine Chance zur Vergöttlichung des Menschen. Er träumt von ei­nem Ideal des "übermütigsten, lebendigsten und weltbejahendsten Menschen". Dieser Mensch wäre ohne Angst und frei, seine schöpfe­ri­schen Kräfte zu entfalten. Er würde nicht mehr die Gewißheit und Sicherheit suchen, sondern in der Ungewißheit und Unsicherheit le­ben können. Er würde die Widersprüche seines Lebens nicht weg­schaf­­fen wollen, denn er hätte verstanden, daß die Unwahrheit, die Täuschung und die Illusion Voraussetzungen eines reichen und mäch­tigen Lebens sind.

 

1. Sprecher:

Allerdings ist Nietzsches Vorstellung vom Übermenschen noch von der alten Überforderung gezeichnet, allen Wert aus sich selber zu schöpfen. Trotzig beschwört er eine Souveränität, die Abhängigkeit und soziales Angewiesensein nicht wahrhaben will. Und eine Hingabe an den Anderen akzeptiert er nicht. Nietzsche selbst ist viel­leicht auch daran zerbrochen. Aber er entwirft ein kühnes Konzept: das Leben rückhaltlos zu bejahen, ohne Trauer, Hader oder Zynis­mus, und ohne bei irgend­einer göttlichen oder irdischen Instanz Sinn einzuklagen.

 

O-Ton, Hans-Jürgen Gawoll:

"Ich glaube, Nietzsche unternimmt verzweifelte Anstrengungen, aus dem Nihilismus herauszukommen, und ein für uns befremdliches Mit­tel ist seine Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Nietzsche versucht sie einerseits so zu denken, daß sie wirklich einen kosmologischen Sinn hat: die Dinge kommen wirklich wieder, alles wiederholt sich de facto; andrerseits versucht Nietzsche aber auch diese Lehre als eine Maxime für das eigene Leben zu den­ken: Stell dir einmal vor, Dein ganzes Leben, mit allem worüber Du Dich gefreut hast, mit allem woran Du gelitten hast, kommt noch einmal wieder! Kannst Du dazu Ja sagen oder mußt Du dazu Nein sa­gen? Wenn Du dazu Nein sagst, und Dein Leben überhaupt nicht mehr haben willst, dann läufst Du vor diesem Leben davon, dann läufst Du aus der Welt davon. Kannst Du aber Ja sagen, dann stehst Du mit mehr als zwei Beinen in der Wirklichkeit und bist mitten drin. Dann hast Du also den Nihilismus überwunden. Weil Du ganz in die Wirklichkeit hineingebunden bist."