Sprecher:
„Zwei
Passagiere in einem Eisenbahnabteil. Wir wissen nichts über ihre Vorgeschichte,
ihre Herkunft oder ihr Ziel. Sie haben sich häuslich eingerichtet, Tischchen,
Kleiderhaken, Gepäckablagen in Beschlag genommen. Auf den freien Sitzen liegen
Zeitungen, Mäntel, Handtaschen herum. Die Tür öffnet sich, und zwei neue
Reisende treten ein. Ihre Ankunft wird nicht begrüßt. Ein deutlicher Widerwille
macht sich bemerkbar, zusammenzurücken, die freien Plätze zu räumen, den
Stauraum über den Sitzen zu teilen. Dabei verhalten sich die ursprünglichen
Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch.
.... Es ist ihr Territorium, das zu Disposition steht. Jeden, der neu
zusteigt, betrachten sie als Eindringling.“
Sprecherin:
Hans Magnus
Enzensberger schildert in seinem Essay mit dem Titel ‚Die große Wanderung’ eine
Szene, die jeder aus seiner Erfahrung kennt. Und jeder kann an sich selbst
jenes Verhalten beobachten, das Enzensberger reflektiert: Den Gruppenegoismus
derjenigen, die früher eingestiegen sind, ihr abweisendes„Wir sind hier“, das
den anderen, den neu Hinzukommenden stumm entgegenschlägt.
Im Fall der
Bahnreise kommt es selten zur aggressiven Auseinandersetzung. Die Institution
Eisenbahn zwingt alle Reisenden sich an bestimmte Regeln zu halten, auch die
Höflichkeit nötigt sie, Platz zu machen. Die neuen Fahrgäste werden geduldet,
langsam gewöhnt man sich an sie. Doch unterschwellig bleiben sie stigmatisiert,
bis zu jenem Augenblick, so Enzensberger, wo die Rolle des Eindringlings
weitergegeben wird.
Sprecher:
„Nun öffnen
zwei weitere Passagiere die Tür des Abteils. Von diesem Augenblick an verändert
sich der Status der zuvor Eingetretenen. Eben noch waren sie Eindringlinge,
Außenseiter, jetzt haben sie sich mit einem Mal in Eingeborene verwandelt. Sie
gehören zum Clan der Sesshaften, der Abteilbesitzer, und nehmen alle
Privilegien für sich in Anspruch, von denen jene glauben, dass sie ihnen zustünden.
Paradox wirkt dabei die Verteidigung eines ‚angestammten’ Territoriums, das
soeben erst besetzt wurde; bemerkenswert das Fehlen jeder Empathie mit den
Neuankömmlingen, die mit denselben Widerständen zu kämpfen, dieselbe schwierige
Initiation vor sich haben, der sich ihre Vorgänger unterziehen mussten;
eigentümlich die rasche Vergesslichkeit, mit der das eigene Herkommen verdeckt
und verleugnet wird.“
Sprecherin:
Menschen
möchten zum Clan, zum Stammesverband hinzugehören. Dieser archaische Wunsch
scheint tiefverwurzelt. Und das entsprechende Denkschema, welches starr
zwischen Einheimischen und Fremden, zwischen den unsrigen und den anderen
trennt, wird allenthalben eingesetzt, auch dort wo es an der Realität vorbei
geht. Im Zugbeispiel sind offensichtlich alle unterwegs, jeder ist ein Migrant.
Und es scheint absurd, wenn diejenigen, die früher eingestiegen sind gegenüber
den Späteren Territorialansprüche anmelden, als ob sie in diesem Zugabteil zur
Welt gekommen wären.
Sprecher:
Wie
alteingesessen sind eigentlich die Einheimischen?
Wie fremd
die Hinzukommenden?
Das sind
Fragen, die man auch in die aktuelle bundesrepublikanische Debatte über die
Zuwanderung von Ausländern hineintragen möchte. Denn dieser Diskussion fehlt
die historische Tiefenschärfe ebenso wie ein Zukunftshorizont. Über dem Streit
um Einwanderungsgesetz, Staatsangehörigkeit und Asylrecht, über der Frage, wie
viele Ausländer die Bundesrepublik aufnehmen und integrieren kann, wird
vergessen, dass in der Vergangenheit auch Deutsche massenhaft ausgewandert
sind, vor allem in die Neue Welt, ins verheißungsvolle Amerika.
Sprecherin:
Die
Geschichte Europas ist von großen Migrationswellen durchzogen. Menschen,
Gruppen, Völker wanderten ein oder aus, manchmal von Sehnsüchten und Utopien
geleitet, öfter noch von Not und politischem Terror getrieben. Jenes Bild, das
ein von Sesshaftigkeit geprägtes Europa zeigt, trifft nicht einmal für das
Mittelalter zu, erklärt der Historiker und Migrationsforscher Klaus Bade. Er
lehrt an der Universität Osnabrück:
O-Ton,
Klaus Bade:
Was
Alteuropa angeht, so wird man sagen müssen, dass die Mobilität außerordentlich
hoch gewesen ist. Es gibt umlaufende Vorstellungen, im Mittelalter habe jeder
irgendwo auf seiner Scholle gesessen und dumpf vor sich hingebrütet, und dann
irgendwann sei die Völkerwanderung über ihn gekommen. Das ist natürlich Unsinn.
Wenn man die technologischen Innovationen, also Flugzeug, Auto, Eisenbahn
abzieht, und dann nur nach der Wanderungsintensität fragt, d. h. also
Wanderungsfälle auf Lebenszeit, dann kommt man ungefähr zu dem Ergebnis, dass
die Mobilität im Mittelalter nur wenig geringer, möglicherweise sogar höher
gewesen ist als in der Gegenwart. Denn fast alle Menschen mussten irgendwann,
manchmal sehr lange, manchmal auch sehr weit, in ihrem Leben zu Erwerbszwecken
unterwegs sein, selbst der Pfarrer musste wandern bis er seinen Sprengel
gefunden hatte.
Sprecherin:
Inzwischen
liegt zahlreiche Studien zur Migrationsgeschichte vor. Sie zeigen, dass der
Mensch nicht nur in den Anfängen – als Jäger, Sammler und Hirte - sondern bis
in die Gegenwart hinein, ein homo migrans ist. Der Kalte Krieg mit
seinen verhärteten Fronten täuschte in Bezug auf die Geschichte. Er blockierte
Wanderungsbewegungen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder eingesetzt
haben.
Sprecher:
Klaus Bade,
der an der Osnabrücker Universität das Institut für Migrationsforschung und
interkulturelle Studien leitet, hat versucht, das Wanderungsgeschehen in
Europa seit dem späten 18. Jahrhundert in einem großen Überblickswerk
darzustellen. Das jüngst erschienene Buch trägt den bezeichnenden Titel:
‚Europa in Bewegung’.
Die Lektüre
offenbart überraschende Parallelen und erhellende Kontraste zur Gegenwart, zum
Beispiel wenn man das Wanderarbeitssystem der so genannten Hollandgängerei
betrachtet.
Sprecherin:
Im 18. und
frühen 19. Jahrhundert gingen Menschen aus Nordwestdeutschland und Belgien in
den niederländischen Küstenraum, um sich dort als Torfstecher, Grasmäher oder
in den holländischen Seehäfen zu verdingen. Dort heuerten viele auf
Handelsschiffen an oder gingen an Bord der Herings- und Walfänger. Oft kehrten
die Menschen nur für die Erntezeit in ihre verarmten kleinbäuerlichen
Heimatorte zurück. In den Niedermooren jedoch, wo zwei Drittel der Torfstecher
arbeiteten, herrschten Ausbeutung und Elend, wie Klaus Bade in seinem Buch
schildert:
Sprecher:
„In den
fernab von Siedlungen, nur auf dem Wasserweg zu erreichenden Niedermooren
standen die Hollandgänger täglich bis zu 16 Stunden und zeitweise in brütender Hitze
bei äußerster Kraftanstrengung in ihren Booten, um den Torf aus dem Wasser zu
heben. Gesundheitsgefährdend war ferner die Unterbringung in den zugigen
Torfhütten am Arbeitsplatz, in denen oft in durchnässter Kleidung geschlafen
wurde. Hinzu kam die Mangelernährung bei der in der Regel quantitativ und
qualitativ minderwertigen Eigenversorgung mit teils mitgebrachten, teils zu
überhöhten Preisen im Einsatzgebiet gekauften Lebensmitteln. Zu den Risiken
solcher Arbeits- und Lebensbedingungen gehörten gefährliche, nicht selten
tödliche und oft lebenslange Krankheiten ... unter ihnen auch das berüchtigte
... als Emsland-Malaria umschriebene ... Sumpffieber.“
Sprecherin:
Wer die
Beschreibung solch elender Lebens- und Arbeitsbedingungen hört, die damals
Ausländer in den Niederlanden hinnehmen mussten, assoziiert unwillkürlich, wie
heute polnische Arbeiter, legale oder illegale, auf deutschen Baustellen
ausgebeutet werden.
Sprecher:
Damals, in
der Mitte des 18. Jahrhunderts zwang ein zunehmender Bevölkerungsüberschuss
immer mehr Menschen zur Wanderschaft, um anderswo Arbeit und Brot zu finden.
Viele suchten ihr Glück in den Vereinigten Staaten von Amerika. Doch die
Auswanderung glich nicht jenem pathetischen Aufbruch ins Land der unbegrenzten
Möglichkeiten, wie man heute rückblickend verklärt; es hieß vielmehr, sich den
Entbehrungen und Schrecken der Seereise auszusetzen. Klaus Bade:
2. O-Ton,
Klaus Bade:
Die
Bedingungen der Seereise waren für unsere heutigen Vorstellungen eigentlich
kaum noch vorstellbar. Im Zwischendeck in dem man nicht aufrecht stehen konnte,
in dem man zusammengepfercht war, in dem es übel roch, in dem es insbesondere
dann, wenn hoher Seegang war, zu unerträglichen Zuständen kam, wo zum Teil die
Passagiere auch noch ausgeplündert wurden durch die Mannschaften, weil man dann
für Essen und Trinken auch noch Geld bezahlen musste, während man Bettwäsche
und was man brauchte ohnehin selbst mitbringen musste, die Überfahrt war auch
noch relativ teuer und dauerte im 18. Jahrhundert, ein, zwei oder zweieinhalb
Monate, schreckliche Unfälle in diesem Zusammenhang waren auch nicht selten,
immerhin das hat sich im Laufe der Zeit deutlich gebessert, im frühen 19.
Jahrhundert sind diese Umstände schon sehr viel besser.
Musik:
Anton
Dvorak, Symphonie Nr. 9 (Aus der Neuen Welt) 1. Satz
Sprecherin:
Ein
gewaltiger Menschenstrom floss von Europa nach Amerika. Die ältere
Migrationsforschung spricht von 36 Millionen, neuere Schätzungen sogar von 50
Millionen Auswanderern, die zwischen 1820 und 1978 also in einem Zeitraum von
anderthalb Jahrhunderten aus der alten hinüber in die Neue Welt zogen. Die
Deutschen stellten dabei mit 7 Millionen Auswanderern noch vor Italienern,
Engländern und Iren das größte nationale Kontingent.
Sprecher:
„Lieber
Bruder, lass dir Dein Herz nicht an der Wickelsäge verzehren, es ist eine
traurige Reise, aber ein fröhliches Ankommen. Wir singen: Vivat vereinigte
Staaten in Amerika.“
Sprecherin:
Schrieb ein
gewisser Hermes aus Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin an seinen Bruder in Dedendorf
im Landkreis Monschau. Und Ferdinand Kümmel, geboren im hessischen Teufelstein
schilderte 1887 seinem Freund Kilian Flügel das bequeme Leben in der Neuen
Welt. Dabei betont er auch, wie er im fernen Übersee an der heimisch-biederen
Lebensart festhält.
Sprecher:
„Ich brauch
bloß 10 Stunden zu schaffen. Abends 6 Uhr komme ich heim, dann tue ich
nachtessen, dann tue ich mein Pfeifchen schmukken nach deutscher Art. Ich
schaffe in einer Clay- und Brikfabrik, nämlich Backsteine und Röhren all die
Sorten, alles mit Maschine ....“
Sprecherin:
Und einem
anderen Brief desselben Jahres heißt es:
Sprecher:
„Was deinen
Bruder Aquilin betrifft, ist befriedigend: er macht Geld mit seinem
Milchgeschäft und braucht nicht hart zu schaffen. Er ist gesund und munter,
dick und fett.“
Sprecherin:
Doch gabe es
auch andere Stimmen, die von Misserfolg und Elend in Amerika berichteten und
die von einer Auswanderung dringend abrieten. Ein gewisser Simon Dietzler
schrieb am 1. Januar 1853 aus New Orleans an seine Familie in der Nähe von
Koblenz.
Sprecher:
„Amerika ist
ein freies Land, wo keine Religion und Freundschaft ist, und auch kein
baldigster Verdienst. Drum bleibe ein jeder, wo er ist und ziehe nicht nach
Amerika ...Alle die gut schreiben nach Deutschland sind Lügner und versetzten
ganze Familien in großes Elend.“
Musik:
Anton
Dvorak, Symphonie Nr. 9 (Aus der Neuen Welt) 2. Satz
Sprecherin:
Die
Auswandererbriefe, von denen Tausende überliefert sind, knüpften ein
Kommunikationsband zwischen Weggegangenen und
Zurückgebliebenen. Sie halfen dem Auswanderer über einen existentiellen
Abgrund hinweg, über die Kluft zwischen der alten Heimat, die er schon
verloren, und einer neuen, die er in der Fremde noch lange nicht gefunden hat.
Sprecher:
Die
Auswandererbriefe stifteten in der Heimat zur Nachfolge an. Sie schufen
regelrechte Migrationsketten. Aber es waren weniger die Verheißungen Amerikas
als das Elend in der Heimat, das in mehren Wellen Deutsche zur Auswanderung
trieb. Schon 1822 hatte die vom Brockhaus herausgegebene "Allgemeine
Deutsche Real-Encyclopädie" die Gründe für die
"Auswanderungssucht" in der Bevölkerung zusammengefaßt:
Sprecherin:
“Nicht Überbevölkerung allein - auch nicht der Trieb, ein ungewisses Glück zu
suchen - sei die Veranlassung zur Auswanderung, sondern die Hoffnungslosigkeit,
dass es je besser werde, die Furcht, dass noch Schlimmeres bevorstehe, und der
gänzliche Mangel an Vertrauen in die Fürsorge der Regierungen. Ein Gefühl der
Verzweiflung habe die Völker ergriffen, dass es keine Freiheit mehr für die
Armen gebe, dass die arbeitende Klasse, der zahlreichste Teil des Volkes, nicht
für sich arbeite, sondern nur für Hof, Heer und Staat.’
Sprecher:
Parallel zu
der überseeischen Migration vollzog sich eine gewaltige Binnenmigration im Mitteleuropa
des 19. Jahrhunderts. Im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft
zogen viele Menschen aus dem Osten in die westlicher gelegenen jungen
Industriegebiete, wo bessere Löhne gezahlt wurden. Klaus Bade:
O-Ton,
Klaus Bade:
Es rücken
aus dem preußischen Osten auch die so genannten Ruhrpolen nach Westen vor, ins
Ruhrgebiet nämlich. Das sind in Wirklichkeit also staatsanghörigkeitsrechtlich
keine Polen, sondern das sind preußisch deutsche Staatsbürger, aber polnischer
Herkunft, polnischer Muttersprache, katholischer Religion und
nationalpolnischer Vorstellungen, die man im Ruhrgebiet gar nicht gern gesehen
hat - Wenn man das hätte verbieten können in Preußen, dann hätte man das sicher
getan! - Sie sammeln sich im Ruhrgebiet und gehen in die so genannten
Polenzechen hinein.
Sprecherin:
Das Wort
‚Polenzechen’ wurde im Ruhrgebiet pauschal und diskriminierend gebraucht. Man
subsumierte darunter nicht nur Angehörige der polnischen Minderheit, sondern
auch Masuren und manchmal alle Zuwanderer aus dem preußischen Osten. Das
schnell wachsende und sich verstädternde Ruhrgebiet war der stärkste
Zuwanderungsmagnet einer großen Ost-West-Migration in Deutschland, bot es doch
im Bergbau und in der Eisen- und Stahlindustrie reichlich Arbeitsmöglichkeiten.
Das Ruhrgebiet wirkte als Schmelztiegel auch in sozioökonomischer und
kultureller Hinsicht, hier wandelte sich eine traditionsorientierte
Landarbeiterschaft in ein modernes Industrieproletariat.
Sprecher:
Am Vorabend
des Ersten Weltkrieges betrug die polnischsprachige Minderheit im Ruhrgebiet
immerhin eine halbe Million, von denen etwa zwei Drittel nach Kriegsende ins
wieder geschaffene unabhängige Polen zurückwanderten, ein Drittel jedoch in der
neuen Heimat verblieb und sich vollkommen assimilierte.
Sprecherin:
„In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts“
– schreibt Bade – „erinnerten nur noch die vielen Namensänderungen auf –sky,
die insbesondere bei siegreichen Fußballmannschaften auffällig waren, an die
Herkunft der ehemaligen Ruhrpolen und an die Bedeutung des Vereinswesens bei
ihrer Eingliederung.“
Sprecher:
Der heutige
Streit um das politische Asyl, die Frage, wer wird als Verfolgter anerkannt,
welches Land gewährt ihm Schutz und Zuflucht, hat seine Vorgeschichte im 19.
Jahrhundert. Verfolgung und Flucht aus politischen Gründen sind zwar viel
älter. Aber seit der Französischen Revolution trat die Gestalt des politischen
Flüchtlings ins Bewusstsein der Zeit. Es war nicht so sehr ihre Anzahl, wohl
aber ihre ideologische Entschiedenheit, deretwegen sie auffielen.
Sprecherin:
Auf dem
Wiener Kongress 1815 wurden die Hoffnungen der Völker in Europa, ihr Ruf nach
Recht und Freiheit, nach bürgerlicher Verfassung und nationaler Einheit
zunichte gemacht. Stattdessen restaurierten die Fürsten ihre alte Herrschaft.
Wer sich nicht ducken und mundtot machen lassen wollte, dem blieb nur der Weg
ins Exil. Aufnahme fand er in Frankreich bis 1831, in Belgien, in der Schweiz
und vor allem in England, wo von 1823
bis 1903 kein einziger Flüchtling ausgewiesen wurde. England gewährte jedoch
nicht Asyl, weil es für die Flüchtlinge eintreten oder gar ihre Ziele billigen
wollte, sondern weil es konsequent am liberalen Grundsatz der Rechtsgleichheit
für alle – auch für Ausländer – festhielt. Auf dieser Linie lag es auch, den
Flüchtling - bar jeder staatlichen Fürsorge - in seinen sozialen und
ökonomischen Nöten sich selbst zu überlassen.
Sprecher:
Nach der
gescheiterten Revolution 1848/49 stammten die meisten Flüchtlinge im Londoner
Exil aus Deutschland, gefolgt von Franzosen, Ungarn und Italienern. Unter den
deutschen Flüchtlingen bildeten Handwerksgesellen und Arbeiter die größte
Gruppe, eine kleinere umfasste Professoren, Schriftsteller, Journalisten,
Lehrer und Künstler sowie ehemalige Offiziere. Zur zweiten Gruppe zählten Karl
Marx und Friedrich Engels, Wilhelm Liebknecht, Carl Schurz und die badischen
Revolutionäre.
Sprecherin:
Doch das
Jahrhundert der Flüchtlinge sollte erst noch folgen. Der Erste und noch mehr
der Zweite Weltkrieg schufen Flüchtlingselend in unvorstellbarer Zahl. Menschen
wurden massenhaft verfolgt, aus ihrer Heimat vertrieben, gegen ihren Willen
umgesiedelt oder zur Zwangsarbeit verschleppt. Viele haben die Not nicht
überlebt.
Der Erste
Weltkrieg brachte drei Vielvölkerreiche zum Einsturz: die Donaumonarchie, das
Osmanische Reich und das zaristische Russland in der Folge der
Oktoberrevolution. Die Bürgerkrieg in Russland und die Hungersnot 1921 trieben
über zwei Millionen Menschen aus dem Lande und verstreuten eine russische
Diaspora über die ganze Welt.
Sprecher:
Die
Vorstellung, man könne homogene Nationalstaaten schaffen und man müsse die
Völker entmischen, um Konflikte zu entschärfen, - diese Ideologie gewann auch
im Völkerbund, dem Vorläufer der UN, an politischem Einfluß. So beschloss man
nach dem griechisch-türkischen Krieg 1920 bis 1922 einen Zwangsaustausch der
Bevölkerung auf beiden Seiten. Fast anderthalb Millionen Griechen, deren
Vorfahren seit über zwei Jahrtausenden in Kleinasien lebten, mussten das
türkische Festland verlassen und nach Griechenland übersiedeln, wo im Gegenzug
fast eine halbe Million türkische Muslime gezwungen wurden ihre Heimat
aufzugeben und in die Türkei zu gehen. Die Entmischung der Völker führte jedoch
zu neuem Leid, zu Entwurzelung und Bitterkeit in der Fremde.
Musik:
Rozo Eskenazi, Rembetissa (historische Rembetiko-Musik)
Rast Gazél
Sprecherin:
Mit der
Bildung neuer Nationalstaaten entstanden zugleich neue Minderheiten. Menschen
fanden sich in einem anderen Land wieder, ohne dass sie sich selbst bewegt hatten,
weil Grenzen über sie hinweg gegangen oder zwischen ihnen aufgerichtet worden
waren. Wer beispielsweise als Sudetendeutscher vor dem Ersten Weltkrieg in
einem multiethnischen Böhmen lebte, das von Kaiser Franz-Josef in Wien regiert
wurde, der gehörte nach 1918 zur diskriminierten deutschen Minderheit in der
neu entstandenen Tschechoslowakei. 1938 wurde er durch das Münchener Abkommen
dem Deutschen Reich einverleibt, um nach 1945 für immer aus seiner Heimat
vertrieben zu werden.
Sprecher:
Während des
Russischen Bürgerkriegs kam es zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung.
Allein in der Ukraine wurden 60.000 Juden umgebracht, 300.000 flohen aus
Russland nach Polen und ins Baltikum. Viele Ostjuden kamen nach Deutschland.
Hier glaubten sie sich trotz antisemitischer Strömungen sicher. Denn in der
Weimarer Republik hatten die Juden nach einem Emanzipationsprozess, der sich
über ein Jahrhundert hinzog, endlich die volle Gleichstellung erreicht.
Wolfgang
Benz, der das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen
Universität in Berlin leitet, skizziert die katastrophale Wende, als Hitler an
die Macht kam.
O-Ton,
Wolfgang Benz:
1933 wendet
sich das Blatt: Juden werden in Deutschland diskriminiert, beginnen
auszuwandern. ... Das waren nicht allzu viele, weil den meisten deutschen Juden
die Phantasie fehlte sich vorzustellen, was kommen könnte, und weil sie auch
nicht wussten, wo sie hätten hingehen sollen. Niemand in der Welt war an
deutschen Juden interessiert, wenn sie nicht reich und berühmt waren, und das
waren natürlich nur die allerwenigsten. Und erst ab 1937/38 begann der
nationalsozialistische Staat, ganz energisch Druck auf die Auswanderung
auszuüben, am stärksten mit dem Judenpogrom, der so genannten
Reichskristallnacht 1938, und nun begannen die deutschen Juden in der Flucht
ihr Heil aus Deutschland zu suchen. Aber sie hatten nicht mehr viel Zeit. Mit
dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 gingen die Grenzen zu,
wurden Konsulate von Einwanderungsländern und diplomatische Vertretungen
geschlossen, gab es keine Schiffspassagen mehr. Und 1941 schließlich wurde die
Auswanderung von Juden aus Deutschland verboten, weil man sie jetzt ermorden
wollte.
Sprecherin:
Die
entkommen konnten, suchten vor allem in Frankreich Zuflucht, zusammen mit all
den anderen Deutschen, die Hitlers Diktatur aus dem Land getrieben hatte:
Politikern, Gewerkschaftern,
Wissenschaftlern und Künstlern. Die Emigranten verharrten in Paris,
gleichsam mit dem Gesicht nach Deutschland, wie es einer von ihnen, der
SPD-Politiker Otto Wels formulierte. Aus dieser Haltung sprach die Hoffnung,
bald zurückkehren zu können.
Erich Maria
Remarque, selbst Emigrant, schildert in seinem Roman „Die Nacht von Lissabon“,
wie sich die Hoffnung zerschlug.
Sprecher:
„Nach dem
Einbruch der deutschen Truppen in Belgien hatte die große Flucht eingesetzt,
zuerst mit Automobilen, beladen mit Hausrat und Betten, dann mit jeder Art von
Vehikeln, mit Fahrrädern, mit Pferdekarren, mit Karren, die von Menschen
gezogen wurden, mit Kinderwagen, und schließlich in endlosen Reihen zu Fuß, dem
Süden zu, verfolgt von Stuka-Bombern, durch den Hochsommer Frankreichs ...
damals entstanden die Straßenzeitungen. An den Mauern der Straßen, an Häusern
in Dörfern, an den Ecken der Kreuzungen wurden die Namen und Hilferufe von
Menschen, die sie suchten, von ihnen angeschrieben mit Kohle, mit Kreide, mit
Farbe.“
Sprecherin:
Einer von
vielen, die flohen, war der jüdische Schriftsteller und Philosoph Walter
Benjamin. Bereits im Besitz eines Visums für die USA und eines Durchreisevisums
für Spanien nach Portugal, Papiere, die ihm das Institut für Sozialforschung
mit Max Horkheimer an der Spitze zukommen ließ, machte er sich im
südfranzösischen Port Bou zu einem beschwerlichen Fluchtweg über die Berge auf.
An der spanischen Grenze wurden der herzkranke Benjamin und seine Fluchtgruppe
zurückgewiesen, erstmals an diesem Tag hatten die Spanier die Grenzen gesperrt
und drohten mit Auslieferung an die Gestapo. In der Nacht zum 27. September
1940 nahm sich Walter Benjamin das Leben.
Der
Selbstmord veränderte die Haltung der spanischen Grenzbeamten, sie ließen die
übrigen Flüchtlinge passieren,- in ein
Exil, das weitere Prüfungen bereithielt. Wolfgang Benz:
O-Ton,
Wolfgang Benz:
Das Leben
im Exil war für fast alle deutschen Juden ein Sturz ins Bodenlose. Es war der
Verlust der bürgerlichen Existenz, es war der Verlust des Status, vom gehobenen
Bankbeamten, vom Manager zum Liftboy, das war eine in Amerika ganz übliche
Karriere, oder vom Rechtsanwalt zum Ackerbauer, es war eine dramatische
Umstellung aller Lebensumstände, wer nach Palästina ging, und das war nur
wenigen möglich, da gab es bestimmte Quoten, und starke Restriktionen, musste
eigentlich eine zionistische Überzeugung mit sich bringen, und musste bereit sein,
alle nur erdenklichen Entbehrungen, was Unterkunft, Ernährung, Klima, schwerste
Arbeit, elende Lebensumstände anbelangt, das alles auf sich zu nehmen. ... Und
nur ganz wenigen ist es gelungen, Vermögenswerte ins Ausland zu transferieren,
die meisten hatte keine. Wenn man an
jüdische Emigration aus Deutschland denkt, sieht man immer die Prominenz vor
Augen, den Schriftsteller Lion Feuchtwanger oder Albert Einstein, berühmte
Leute, die mit offenen Armen in den USA, in Frankreich, in Großbritannien aufgenommen
wurden, aber man sieht nicht die mehr als 99% anderen Juden, die keinen Fuß
fassen konnten, die sich mühselig mit Gelegenheitsarbeiten, mit elenden
Beschäftigungen, enttäuscht, verbittert, bekümmert, verelendet durchs Leben
bringen mussten.
Musik:
John
Williams, Itzhak Perlman: Auschwitz-Birkenau (aus: Schindlers Liste)
Sprecher:
Der Dichter
Paul Zech, glühender Sozialist, der 1919 für seine Arbeiterliteratur den
Kleist-Preis erhalten hatte, war nach Buenos Aires emigriert. Dort verdingte er
sich als Hauslehrer, Nachwächter und Klavierspieler in einer Hafenkneipe. Die
Heimat hatte er verloren, die Fremde blieb ihm fremd. Er war doppelt isoliert,
weil die deutsche Kolonie in Argentinien mit dem Faschismus sympathisierte. Ein
Gedicht Zechs spricht von einem Ausgestoßensein, das an der Selbstachtung
zehrt.
Sprecherin:
Wer auf
der Flucht ist, so wir, belastet
Mit
schrecklichen Gesichten, einem Schrei im Ohr,
Der nie
verhallt, wer so von Haus zu Haus sich tastet
Nach
einem Loch, wo man sich endlich bergen kann,
Der kommt
zuletzt sich schon so vor,
Als sähe
man von weitem ihm den Aussatz an.
Sprecher:
Deutsche
Emigranten wurden in mehr als achtzig Länder verstreut, weltweit bis hin nach
Shanghai, wo in den fünfziger Jahren noch Flüchtlinge anzutreffen waren.
Sprecherin:
Im Krieg
beugte das nationalsozialistische Deutschland immer mehr Menschen unter das
Joch der Zwangsarbeit, um Militärmaschinerie und Kriegswirtschaft in Gang zu
halten. Bis in diese Tage hinein wird immer noch über die Form der Entschädigung
durch die deutsche Industrie gestritten, aber über die Zwangarbeit und darüber
wie viel Leid sie über die Menschen gebracht hat, wird kaum gesprochen.
Sprecher:
Wer das
Sklavenarbeitssystem überlebte, gehörte zu jener in Millionen zählenden
Menschenmenge, die von den Alliierten displaced persons genannt wurden:
Personen, die aus ihrer Heimat verschleppt oder vertrieben worden waren, und
nun entwurzelt, buchstäblich ortlos in einem kriegszerstörten Deutschland sich
vorfanden. Klaus Bade erläutert die Dimensionen:
O-Ton,
Klaus Bade:
Die Dimensionen sind kolossal. Man muss daran
denken, dass die etwa 12 Millionen so genannten displaced persons, also
dilozierten Personen, die nach 1945 im Gebiet des Reiches sind und dann in ihre
Herkunftsländer zurückgehen oder auch nicht zurückgehen, weil sie sich diese
Herkunftsländer total gewandelt haben, dass die meisten Menschen ursprünglich
so genannte Fremdarbeiter gewesen sind, innerhalb derer es die verschiedensten
Gruppen gibt. Es gibt diejenigen, die so genannte Westarbeiter sind, denen es
noch vergleichsweise gut ging, es gibt die so genannten Ostarbeiter, denen es
am schlechtesten ging, und es gibt darunter noch die Gruppe der KZ-Arbeiter,
die die reinen Sklavenarbeiter gewesen sind, die sozusagen wie Verbrauchsgüter
benutzt und abgenutzt wurden, um dann durch andere ersetzt zu werden, hier gibt
es also die grauenhaftesten Zusammenhänge bis hin zur Zwangsbeschäftigung von
Kriegsgefangenen.
Sprecherin:
Neben den
displaced persons strömten zu Kriegsende immer mehr Deutsche ins zerstörte
Land, die im Osten vor der Roten Armee geflüchtet oder aus ihrer Heimat
vertrieben worden waren. Zum Beispiel Susi Rudolph, eine Sudetendeutsche, die aus Schedoweitz in
Nordböhmen stammt, heute in Monheim am Rhein lebt. Sie schildert, wie sie im
Sommer 1945 mit ihrer Mutter und ihren Schwestern aus Haus und Heimat verjagt
wurde.
O-Ton, Susi Rudolph:
Wir haben
sehr viel arbeiten müssen bis halb elf, dann durften wir in unser Zimmer gehen
und meine 15jährige Schwester, die war in so einem Bottich um sich zu waschen,
da trampelten vier Männer die Holztreppe herauf, mit Maschinengewehren, obwohl
wir vier Frauen waren, Kinder, und haben uns gesagt, innerhalb einer
Viertelstunde müssen wir das Haus verlassen. Meine kleine Schwester, die war
fünf, hat ohne dass jemand etwas gesagt hat, vier Kleider übereinander
angezogen, das bisschen das wir hatten, haben wir zusammengerafft, dann sind
wir aber nicht etwa ausgewiesen, sondern gegenüber vom Tanzsaal in eine Scheune
eingesperrt worden, damit wir es mitbekommen, wie sie gefeiert haben.
Allerdings muss ich dazusagen, als dann drei Männer wieder weggingen, hat der
vierte Tscheche sein Maschinengewehr weggelegt und hat uns geholfen. ... Dann
haben wir acht Tage da noch zugebracht, die paar Vorräte die wir noch hatten,
aufgegessen, dann kamen Wagen mit Pferden, und die alten Leute und die kleinen
Kinder durften da drauf, und wir mussten laufen, fast hundert Kilometer. ...
Wir sind über die Grenze am Elbesandsteingebirge bei Bad Schandau, dann haben
sie uns Streichhölzer abgenommen und mit den Worten ‚Ab! Heim ins Reich!’ haben
sie uns über die Grenze gejagt.
Sprecher:
Im Sommer
1945 kam es zu den so genannten „wilden Vertreibungen“. Tschechen vertrieben
willkürlich Sudetendeutsche. Ostdeutsche wurde aus ihren Städten und Dörfern
jenseits der Oder vertrieben, und zwar von Ostpolen, die man ihrerseits gen
Westen gejagt hatte, da die Sowjetunion ihre Heimatregion annektierte. So
hetzte man Menschen gegeneinander, und Vertriebene wurden zu Vertreibern.
Sprecherin:
Doch die
organisierten Bevölkerungstransfers, die die Alliierten auf ihren Konferenzen,
zuletzt in Potsdam 1945 beschlossen hatten, und die in so genannten
‚geordneten’ und ‚humanen’ Bahnen ablaufen sollten, waren nicht minder
unmenschlich und genauso wenig zu rechtfertigen. Die organisierten Vertreibungen geschahen
unter katastrophalen Versorgungsbedingungen, brutaler Bewachung und
wiederholten Ausplünderungen. Menschen wurden zu endlosen Trecks gezwungen, in
Lager gepfercht, gedemütigt und misshandelt - ein furchtbares Fluchtschicksal,
das viele nicht überlebten. Susi Rudolph schildert, wie sie davon gekommen ist.
O-Ton, Susi Rudolph:
In Leipzig
lagen wir auch ein paar Tage, und dann hörten wir, dass da ein Zug mit Soldaten
angekommen war, und meine Schwestern und ich gingen los, ob wir vielleicht
unsern Vater finden. Vergeblich. Und als wir wieder kamen, da hatten sie einen
Viehwaggon vollgepackt mit dem Gepäck und obendrauf kunterbunt saßen die Leute,
meine Mutter saß schon drin mit meiner kleinen Schwester, meine ältere
Schwester kam auch noch hinein und für mich war kein Platz mehr. So, und dann
habe ich mich bei der offenen Tür, beim Gepäck hingequetscht, so dass ich
gerade noch sitzen konnte, geschwächt, nichts zu essen, kalt, und wir sind die
ganze Nacht gefahren. - Was heißt die ganze Nacht, ich weiß es nicht, er fuhr
auch ganz langsam. Und ich war müde und hungrig und elend und habe gedacht:
‚Jetzt lass ich mich fallen.’ – Da habe ich gedacht: ‚Geht nicht! Meine Mutter
dreht durch, wenn ich nicht mehr da bin.’ Da hab ich versucht, den Schlaf und
die Müdigkeit und alles zu überwinden, und bin also nicht heruntergefallen.
Sprecher:
Flucht und
Vertreibung der Deutschen waren eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes. Die Volkszählung
in Ost- und Westdeutschland im Jahre 1950 erfasste 12 ½ Millionen deutsche
Vertriebene und Flüchtlinge, die nun in der Bundesrepublik und der DDR lebten,
eine weitere halbe Million in Österreich und in anderen Ländern.
In der DDR
wurden die Vertriebenen mit Rücksicht
auf die sozialistischen Bruderstaaten euphemistisch als Umsiedler bezeichnet, in der Bundesrepublik gelangten
sie über die Organisation in Vertriebenenverbänden zu politischem Einfluss,
manchmal auch mit revanchistischen Tönen. Man benannte Strassen und Plätze nach
ihrer verlorenen Heimat, hofierte sie politisch, aber im Alltag mussten sie
lange Zeit mit dem Stigma des Flüchtlings kämpfen. Dennoch sieht Wolfgang Benz
hier einen Erfolg bundesdeutscher Nachkriegspolitik:
O-Ton,
Wolfgang Benz:
Ich halte
die Integration der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in den Nachkriegsjahren
also 1945 bis 1955 für eine der bedeutendsten Leistungen, die deutsche
Gesellschaft und deutsche Politik zustande gebracht haben. ... dass es sich
innerhalb von 10 Jahren arrangiert und nivelliert hat, dass keine Irredenta
entstanden ist, dass Heimatvertriebene und Flüchtlinge aus den deutschen
Ostgebieten und aus den Ländern Ostmitteleuropas, aus denen sie vertrieben
wurden, nicht das Schicksal der Palästinenser, in der dritten Generation immer
noch im Flüchtlingslager leben zu müssen, nicht geteilt haben. Das sehe ich als
einen großen Erfolg an, dass diese Gruppe Land und Boden erwerben konnte, dass
sie Geschäfte eröffneten, in die Gesellschaft voll integriert wurde, so dass in
der zweiten Generation kein Stigma mehr übrig geblieben ist, sondern dass man
in der zweiten Generation auch nicht erkannt hat, ob die Vorfahren in Schlesien
oder in Württemberg gehaust haben, das sehe ich als die große Integrationsleistung
bei dieser Zwangsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg.
Sprecherin:
Doch bald
stellte sich eine andere Integrationsaufgabe, auf die deutsche Gesellschaft
sich weder eingestellt hatte, noch von der Politik vorbereitet worden war. Das
Wirtschaftswunder veranlasste schon Ende der fünfziger Jahre, im Ausland
Arbeitskräfte anzuwerben. Der ersten Welle aus Süditalien, Spanien, Portugal,
Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien folgte eine zweite Welle aus der
Türkei. Faruk Sen, Direktor des Instituts für Türkeistudien in Essen, resümiert
die Entwicklung der türkischen Migration nach Deutschland:
O-Ton,
Faruk Sen:
Zunächst
sind die Türken hierher natürlich für einen vorübergehenden Aufenthalt
gekommen, sie wollten zwischen vier und sieben Jahren hier bleiben, aber im
Rahmen der Familienzusammenführung nach 1974, nachdem man die Ehegattin und die
Kinder hierher geholt hat, ist diese Intention zurückgegangen, und man muss
davon ausgehen: Sie haben die Normen der Industriegesellschaft vollständig
übernommen, sie haben sich hier verwurzelt. 58.000 Türken haben sich hier
selbständig gemacht, über 60.000 Türken haben ihre Häuser hier gekauft, und die
Rückkehrerzahlen sind enorm zurückgegangen. Pro Jahr kehren nur 20.000 bis
25.000 zurück, und im Rahmen der Heiratsmigration kommen pro Jahr über 60.000.
... wir haben kürzlich auch eine
Untersuchung in NRW über all die Migranten durchgeführt, und es ist
festzustellen heute: moslemische Migranten beschweren sich nicht über....
Kindergärten oder Sonderschulen oder im Bereich Übergangsschule, Beruf. Die Probleme haben sich insofern verlagert,
dass man heute nichtkonfessionsgebundene Altersheime verlangt oder islamische
Friedhöfe. Das zeigt ganz eindeutig, dass die Türken auch nach dem Sterben hier
bleiben möchten.
Sprecherin:
Bedarf es
eines stärkeren Beweises? Wo man über seinen Tod hinaus bleiben, wo man
begraben werden möchte, dort hat man Wurzeln geschlagen. Aber in der deutschen
Gesellschaft hält sich immer noch hartnäckig das Missverständnis, man habe Gastarbeiter und ihre Familien, also
nur zeitweilig Anwesende, vor sich. Aber nach 40 Jahren Migration befinden sich
viele Türken, auch wenn sie nie beabsichtigten, nach Deutschland auszuwandern,
faktisch in der Rolle von Einwanderern. Aus den ehemaligen Gastarbeitern ist
eine kulturelle Minderheit geworden, die unsere Bereitschaft zu Achtung,
Toleranz und friedlichem Zusammenleben - mit einem Wort: unsere Demokratie auf
die Probe stellt.
Sprecher:
Die
fremdenfeindlichen Anschläge der letzten Jahre haben die Bemühungen um
Integration zurückgeworfen und bei den Türken Tendenzen der Selbstisolation
verstärkt. Vor allem in der zweiten und dritten Generation macht sich eine
tiefe Verunsicherung breit. Die jungen Türken fühlen sich von der deutschen
Gesellschaft nur geduldet und nicht wirklich anerkannt. Sie stecken in einem
existentiellen Dilemma: Die Türkei ist ihnen fern und unvertraut, aber kann
ihnen Deutschland zu einer wirklichen Heimat werden?
Musik:
Sezen
Aksu (türk. Sängerin): O Sensin (aus: The Wedding and the Funeral)
Sprecherin:
Der
Schriftsteller Kemal Kurt, Autor von Kinderbüchern und phantastischen
Erzählungen, der in der Türkei geboren ist, aber seit einem Vierteljahrhundert
in Berlin lebt, hat ein Buch geschrieben mit dem vielsagenden Titel: ‘Was ist
die Mehrzahl von Heimat?’ Eine existentielle Frage, die sich jeder Migrant
stellt: Kann der Mensch mehr als eine Heimat haben?
O-Ton,
Faruk Sen:
In jedem
Fall kann man mehrere Heimatländer haben, und in der Geschichte haben wir
solche Vorfälle sehr oft gehabt. Besonders bei den Türken haben wir
festgestellt, dass sie mit den Zelten von Pontius bis Pilatus ausgewandert
sind, ... und sehr viele Migranten, die jetzt hier leben, haben in ihrem Herz
zwei Heimaten. ... Die Strecken sind heute so kurz. Von Düsseldorf nach
Istanbul fliege ich 2 ½ Stunden und nach
München auch über eine Stunde. Und meistens ist für die Türken eine
Reise mit Turkish Airlines wesentlich günstiger als mit Lufthansa nach München
zu fliegen, d.h. ich kenne sehr viele türkischstämmige Migranten, die ihr
Wochenende in Istanbul verbringen oder jede zweite Woche zwei, drei Tage dort
bleiben.
Sprecher:
Mobilität
und Flexibilität, im Beruf wie in der Freizeit bedeuten, dass viele Menschen
für längere Zeit oder auf immer ins Ausland gehen: Das Rentnerehepaar, das sich
ein Haus auf den Kanarischen Inseln gekauft hat, wo es die meiste Zeit des
Jahres verbringt; der Manager mit seinem Job bei einem multinationalen
Unternehmen; der Wissenschaftler, der den Ruf an die entfernte Universität annimmt.
Und natürlich die Diplomaten und ihre Familien. Zum Beispiel Gaby von der
Heyden. Sie ist Vizepräsidentin der deutsch-brasilianischen Gesellschaft, Lehrerin, ihr Mann Kulturreferent im
Auswärtigen Dienst. Nach Stationen in Moskau und Peking in den achtziger Jahren
folgte ein mehrjähriger Aufenthalt in Indonesien, ein Leben in Komfort, das sie
allerdings vor das Problem stellte, wie man die unsichtbaren Mauern eines
Luxusghettos durchbrechen kann.
O-Ton,
Gaby von der Heyden:
Djakarta,
Indonesien, das war nun eine völlig andere Welt, nachdem wir vorher, wenn auch
in sehr unterschiedlicher Form im Sozialismus gelebt hatten ... Erst einmal
Haus, Garten, Hausangestellte, das war alles eine ganz andere Situation als
diese anderen Posten. Am Anfang fand ich es schwieriger, dort Fuß zu fassen als
in den Posten vorher. ... Ich wusste nicht, wie ich diesen Kreis durchbrechen
konnte, weil ich doch eigentlich nicht in dieser Welt bleiben wollte, ich
wollte etwas erfahren, ich wollte fühlen, wie die Leute leben, und denken und
was sie denken. Und da habe ich wieder den Weg über die Musik gefunden, indem
wir ein indonesisches Kammerorchester – da durfte ich mithelfen – gegründet
haben, und ich bin mit denen auch auf Konzertreisen gegangen, wir haben ganz
von vorne angefangen, später nach meiner Rückkehr nach Deutschland habe ich
dann auch weiter Kulturarbeit für dieses Orchester gemacht. Und ich bin
eigentlich nur kurz – jedes Jahr einmal nach Indonesien zurückgekehrt, um das
Kulturprojekt weiter zu betreiben, aber auch für mich selber, das Gefühl zu
haben,.... dass ich noch ein Stück weit zu dieser Welt dazugehöre, und das
läuft sehr gut weiter.
Sprecherin:
Gaby von der
Heyden ist Hobbygeigerin. Immer wieder hat sie die Erfahrung gemacht, dass die
Musik eine Sprache sein kann, die Kultur- und Mentalitätsgrenzen überbrückt. In
naher Zukunft wird ihre Familie wieder auf einen Auslandsposten berufen. Wohin
genau, erfahren sie erst kurz vorher. Es ist wie eine Wundertüte, schildert
Gaby von der Heyden ihr Empfinden. Aber natürlich ist die Situation eines
Wohlstandsmigranten nicht mit der Not eines Flüchtlings vergleichbar. Der
diplomatische Posten garantiert - wo auch immer - ein gesichertes Einkommen und
hohen gesellschaftlichen Status. Aber Probleme wie der Abschied von Freunden,
die Ungewissheit neuer Kontakte, die Frage der Eingewöhnung stellten sich
massiv, vor allem in Bezug auf die Kinder.
O-Ton,
Gaby von der Heyden:
Ich glaube,
was die Kinder angeht, ist das allerwichtigste, dass man sehen muss, dass die
Kinder gut integriert werden, das ist am Anfang nicht leicht, es kommt immer
darauf an, wie jedes Kind reagiert, ganz wichtig ist eine intakte Familie, dass
die Kinder hier einen Punkt der Verlässlichkeit haben.
Der zweite
Punkt ist, dass man am Anfang sich sehr auf sie einstellt, dass man sie auch
gut vorbereitet, dass kann man natürlich nicht machen, wenn die Kinder ganz
klein sind, und da muss ich sagen, war das am Anfang auch nicht ganz einfach,
wenn man sieht, dass die Kinder unglücklich sind, weil sie aus ihrem Umfeld
herausgerissen werden, sie bekommen eine neue Atmosphäre, haben noch keine
neuen Freunde, ist das zum Teil schwer, aber heutzutage, wenn ich mir unsere
Kinder anschaue, unser Sohn ist jetzt 21, und unsere Tochter ist jetzt 17 - die
wird jetzt noch einmal mitgehen und das Abitur in einer Auslandsschule machen -
im Nachhinein war es sehr gut für die Kinder. Sie sind offener, gehen
unbefangener auf Leute zu. Und das Leben
hat ihnen auch gefallen, gefällt ihnen auch.
Sprecher:
Weltoffenheit,
Toleranz und die Bereitschaft sich mit anderen, mit Fremden zu verständigen
werden immer wichtiger in einer globalisierten Welt. Doch in Deutschland warten
die neuesten Umfragen zur Einstellung der jungen Generation mit bedenklichen
Ergebnissen auf.
Die Kette
fremdenfeindlicher Attacken reißt nicht ab. Und unter Jugendlichen, haben
Ausländerhass und Gewaltbereitschaft gegenüber Fremden wieder zugenommen, so
lautet das Ergebnis einer Studie in Nordrhein-Westfalen. Je schlechter ihre
Ausbildung und also auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, desto anfälliger
erweisen sich Jugendliche für rechtsextreme und fremdenfeindliche Demagogie.
Sprecherin:
Lange,
vielleicht zu lange haben Politik und Wirtschaft gezögert, die Integration von
Ausländern offensiv zu gestalten. Auch wenn sich das Bild inzwischen gewandelt
hat. Es begann mit der Diskussion um die Green Card für dringend benötigte
ausländische Fachkräfte in der Informationstechnologie. Dann folgte die
Rentendiskussion mit der Einsicht, dass aufgrund von Bevölkerungsabnahme und
Überalterung eine Zuwanderung wünschenswert,
ja erforderlich sei, um das Rentensystem zu stabilisieren.
Immer noch
sträubt sich die Politik jedoch, ein Einwanderungsgesetz zu erlassen, das
Wolfgang Benz für längst überfällig erachtet.
O-Ton,
Wolfgang Benz:
Deutschland
ist ein Einwanderungsland, auch wenn uns manche Politiker seit Jahrzehnten
klarzumachen verursachen, Deutschland sei keines, wir sind de facto ein
Einwanderungsland, wir brauchen Einwanderer, also brauchen wir eine Gesetzgebung,
die das regelt, die das aus dem Ermessen oder der Willkür herausnimmt und in
der von Experten geplant wird, wie viele brauchen wir, wie viele Ausländer, wie
viele Zuwanderer verkraften wir, was muss sein, und was soll nicht sein. Wie
andere Länder, wie die Vereinigten Staaten, wie Australien brauchen wir ein
Einwanderungsrecht, das Quoten festlegt, dass die Bedingungen festlegt, unter
denen Ausländer in Deutschland Wohnrecht und Bleiberecht und zweitens auch
unter Umständen Bürgerrecht bekommen können. Das ist ganz selbstverständlich,
dass das geregelt werden muss, und es ist unverantwortlich, dass weiter vor
sich her zu schieben mit dem Blick auf Wähler oder mit dem Blick auf Radikale.
Sprecherin:
Zur Misere
gehört auch, dass viele ein verschwommenes Bild von den verschiedenen Gruppen
der Ausländer in Deutschland haben.
Es gibt
Bürgerkriegsflüchtlinge, die ein Recht auf humanitäre Hilfe haben, gemäß der
Genfer Flüchtlingskonvention, die die Bundesrepublik ebenso wie 122 andere
Staaten unterzeichnet hat. Sie erwerben jedoch kein Rechte auf einen dauernden
Aufenthalt.
Sprecher:
Weiterhin
gibt es die Gruppe der Asylbewerber, von denen zwar sehr viele auf ein
Anerkennungsverfahren warten, aber nur sehr wenige anerkannt werden. Auch die
Zahlen der Spätaussiedler sinken kontinuierlich. Daneben gibt es den
Familiennachzug hier lebender Ausländer.
Klaus Bade, der seit langem für eine offensive Einwanderungspolitik
kämpft, macht allerdings darauf aufmerksam, dass ein Einwanderungsgesetz kein
bloßes Spiel mit Zuwanderungszahlen sein kann:
17.
O-Ton, Klaus Bade:
Es gibt in
Deutschland jetzt erfreulicherweise eine ansatzweise positive
Migrationsdiskussion, die ein Weg zur Normalisierung ist, darum kämpfe ich seit
den frühen 80er Jahren, endlich ist es so weit, dass man darüber sprechen
kann, ohne dass man sich Steine an den
Kopf wirft. Nun darf man aber nicht ins Gegenteil verfallen und zu der
Vorstellung kommen, ‚da machen wir jetzt einmal ein Gesetz und dann ist das
Problem geklärt, da legen wir Zahlen fest, dann kommen eben die, die wir
brauchen, und dann ist das Problem vom Tisch.’ ... Man kann nicht
Bevölkerungspolitik als solche betreiben, sondern man muss sehen, dass das
buchstäblich mit allem anderen zusammenhängt, das hängt mit dem Arbeitsmarkt, mit
der Rentenpolitik, der Sozial-, der Kulturpolitik, der Kommunalpolilitik und
mit allen möglichen Dingen zusammen. Wir brauchen also eine Art Generaldebatte
zum Thema Zukunft, innerhalb derer das Thema Migration eine wichtige Rolle
spielt, aber nicht die ausschließliche.
Sprecherin:
Die
Geschwindigkeit der Verkehrsmittel, ebenso wie der Kommunikationsmedien, die
globale Vernetzung auf allen Ebenen lassen die Welt buchstäblich schrumpfen.
Fremde und eigene Kultur, Inland und Ausland durchdringen sich immer
intensiver. Diese Welt, in der alle enger zusammenrücken, verlangt Offenheit,
Toleranz und die Bereitschaft sich mit anderen friedlich zu verständigen.
Migration und Mobilität sind Grundkonstanten unseres Lebens im frühen 21.
Jahrhundert. Auch vor dem Kalten Krieg war die Migration in Europa schon sehr
hoch. Und dem historischen Blick erschließ
t sich, das Mittel- und Westeuropa zu jener Rolle zurückkehren. die sie
schon immer gespielt haben als Durchgangskontinent und als Drehscheibe im
internationalen Wanderungsgeschehen. Es ist ein Europa in Bewegung.
Musik:
Bratsch: Zarbi
(mischt
Zigeuner- mit klassischer Musik, aus: Correspondances)