O-Ton, Herbert Marcuse:

Ich komme direkt aus Paris, und wer das gesehen, wie diese Jungs und Mädchen, (anhaltender Beifall) wie diese Jungs und Mädchen, die in normalen Zeiten anscheinend nichts anderes zu tun haben, als in den Cafés von St. Germain-des-Prés oder im Quartier Latin zu sitzen, wie die auf einmal sich nächtelang und Abend für Abend geschlagen haben, wie sie die Barrikaden gebaut haben, während sie die Internationale sangen, wie sie mit roten Fahnen demonstriert haben, (anhaltender Beifall) - der kann weiß Gott nicht mehr leugnen, daß in dieser Studentenopposition mehr ist, als der gewöhnliche Konflikt der Jugend mit der älteren Generation, daß es viel mehr ist, nicht nur eine akademische Opposition. Ich glaube, daß die Universität nicht das primäre Objekt dieses Kampfes ist und sein sollte, sondern eine Opposition gegen die Gesellschaft als Ganzes, gegen die Moral dieser Gesellschaft, gegen den Reichtum dieser Gesellschaft, gegen die Dummheit dieser Gesellschaft, gegen die Brutalität dieser Gesellschaft. (anhaltender Beifall).

 

Sprecherin:

Herbert Marcuse, der deutsch-amerikanische Philosoph, spricht am 13. Mai 1968 vor 4000 Studenten im überfüllten Auditorium Maximum der Berliner Freien Universität. Es ist derselbe Tag, an dem in Paris eine Million Menschen in zwei riesigen Marschsäulen durch die Straßen der Hauptstadt zum Place de la Republique ziehen. Für eine kurze Zeit  sind sich Arbeiter und Studenten im Aufstand gegen Regierung und Establishment einig. Die Revolte in Frankreich erreicht in diesen historischen Maiwochen ihren Höhepunkt: Der Generalstreik ist ausgerufen; Gewerkschaften, Professoren, und große Teile der Bevölkerung üben Solidarität. Staatspräsident De Gaulle war, wie man heute weiß, bereits zum Rücktritt entschlossen.

 

Sprecher:

Die deutschen Studenten in Berlin und in Frankfurt hingegen bleiben weitgehend auf sich gestellt, ohne nennenswerte Unterstützung in der Gesellschaft. Und die Verabschiedung der Notstandsgesetze durch die große Koalition aus CDU und SPD steht unmittelbar bevor. Um so mehr erhofft man sich von jenem Philosophen, der im Gegensatz zu anderen die Opposition der Studenten in ihrem Willen zur radikalen Veränderung der Gesellschaft vorbehaltlos unterstützt. Denn in seiner Theorie betrachtet Marcuse nicht mehr die Arbeiterklasse  der fortgeschrittenen Industriegesellschaft als revolutionäres Subjekt,  vielmehr gelten ihm das Proletariat der Dritten Welt, die Außenseiter und unterdrückten Minderheiten in den Metropolen, und nicht zuletzt die kritischen Studenten als Hoffnungsträger und Wegbereiter einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft.

 

 

 

O-Ton, Herbert Marcuse:

Wir haben in den Metropolen, und ich wiederhole, in den Metropolen, noch keine revolutionäre Periode, wir haben eine Periode der radikalen Aufklärung, eine Periode der radikalen Erziehung, eine Periode der radikalen Vorbereitung, aber gerade in dieser Periode müssen die neuen Menschen aufwachsen, die die neue Gesellschaft bauen können. Und wenn die nicht da sind, wenn die nicht schon frei von dem Alten sind vor ihrer Befreiung und frei für ihre Befreiung, dann fängt, wie Marx gesagt hat - er hat wie Sie wissen einen stärkeren Ausdruck gebraucht - dann fängt der ganze Mist wieder von vorne an. - (aus dem Publikum:) ‚Scheiß‘ - Ja, ich weiß, er hat Scheiße gesagt, ich habe nicht einmal Allergie gegen das.

 

Sprecherin:

Bis in die Wortwahl, bis in das emotionsgeladene Schimpfwort und die unflätige Bemerkung hinein ist die Nähe und die Sympathie spürbar zwischen dem 70jährigen Denker und der revoltierenden Jugend. Herbert Marcuse, den die Medien sogleich als Vater der Revoluzzer schmähten, gehörte neben den Philosophen Max Horkheimer, Theodor Adorno und dem um einiges jüngeren Jürgen Habermas zum Kreis der Frankfurter Schule. Aus ihrem Denkansatz, der sogenannten Kritischen Theorie empfing die Studentenbewegung ihre stärksten geistigen Impulse. Aber mehr noch als die in Frankfurt lehrenden Horkheimer und Adorno beeinflußte Marcuse, obgleich er  in Kalifornien lebte und arbeitete, mit seinen Ideen und Werken die deutsche Studentenbewegung.

 

Sprecher:

Was waren es für Konzepte, die ihn so wichtig werden ließen? Und welche Lebenserfahrungen haben Marcuse in seinem Denken geprägt? Hauke Brunkhorst, er lehrt heute Philosophie in Frankfurt, schildert die frühe Biographie Herbert Marcuses, der 1898 in Berlin geboren wurde.

 

O-Ton, Hauke Brunkhorst:

Herbert Marcuse stammt aus einem gutsituierten bürgerlichen Elternhaus, die Eltern waren assimilierte Juden, und relativ reich, sie ... hatten eine 8-Zimmer-Wohnung in der Berliner Bismarckstraße, und das war damals eine der Prachtalleen. Marcuse ist wenig mit Religion und solchen Dingen noch in Berührung gekommen, ein bißchen schon im Elternhaus, aber dann viel stärker geprägt worden durch solche Phänomene wie die deutsche Jugendbewegung, es gibt Bilder aus dieser Zeit, wo er mit seiner Schwester bei so einem Charlottenburger Verein aufmarschiert, und dann war diese entscheidende Prägung seines Lebens - das sagt er auch selber immer wieder in Interviews - die deutsche Revolution von 1918, er war damals zu Kriegsende noch eingezogen worden zum Luftschifferersatzbataillon in Berlin, er mußte nicht mehr an die Front, hat sich dann aber, als es mit den Arbeiter- und Soldatenräten losging, sofort dafür begeistert und war sogar ein paar Tage Mitglied eines solchen Arbeiter- und Soldatenrates.

 

Sprecherin:

Nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verließ Marcuse 1919 enttäuscht die SPD und hat sich in Zukunft nie wieder einer politischen Partei oder Organisation angeschlossen. Er studierte Germanistik, Philosophie und Nationalökonomie, promovierte schließlich über den deutschen Künstlerroman. Nach der kaufmännischen Tätigkeit bei einem Verlag kehrte er 1927 an die Universität zurück, hörte in Freiburg Edmund Husserl und Martin Heidegger. Heidegger bedeutete damals eine Art Revolution in der Philosophie. Sein Hauptwerk ‚Sein und Zeit‘ rief den Menschen auf, sich aus der Verfallenheit an das Man zu befreien und die Eigentlichkeit der Existenz auf sich zu nehmen – anders gesagt: den Konformismus der Massengesellschaft abzuschütteln und sich zu einem authentischen, bewußt geführten Leben zu entschließen. Bei Heidegger blieb diese Forderung zunächst allgemein und politisch abstrakt, bevor er sich selbst den Nationalsozialisten andiente. Marcuse und andere jedoch haben den existentialistischen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung in ein linksintellektuelles Denken hineingenommen.

Marcuse wirkte an der wissenschaftlichen Edition der Jugendschriften von Karl Marx mit und beförderte auf diese Weise die Wiederentdeckung eines kritischen, humanistischen Marxismus. Er entschloß sich zur Mitarbeit in dem jungen, gerade gegründeten Institut für Sozialforschung, der Keimzelle der Frankfurter Schule. Doch dies fiel schon mit der Flucht vor den Nazis zusammen. Marcuse gelangte über Genf und Paris nach New York, wo er 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Im Gegensatz zu den anderen emigrierten Institutskollegen wie Max Horkheimer und Theodor Adorno entschied sich Marcuse in Amerika zu bleiben. Und er leistete nicht nur auf dem Feld der wissenschaftlichen Theorie eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, sondern arbeitete ab 1942 in einem Büro der Spionageabwehr im Kampf gegen Nazi-Deutschland mit, ein Engagement, das ihm in den siebziger Jahren, vor allem von seiten der DDR den Vorwurf eintrug, ein CIA-Agent gewesen zu sein.

 

Sprecher:

Angesichts des Grauens vor dem Triumph der Barbarei in Europa, der allem Fortschritt Hohn sprach, stellte sich Marcuse die Frage: „Was genau ist in der Entwicklung der westlichen Zivilisation falsch gelaufen, so daß wir auf der Höhe des technischen Fortschritts die Negation des humanen Fortschritts erleben...“ Eine kritische Theorie, die diese Fehlentwicklung verstehen und den Menschen vor weiteren Rückfällen bewahren wollte, konnte nicht wie der Marxismus bei der Analyse der äußeren ökonomischen und politischen Verhältnisse stehenbleiben, eine solche Analyse mußte sich ebenso mit dem Innenleben der Menschen, mit ihren bewußten und unbewußten Wünschen und Bedürfnissen auseinandersetzen. Eine Reihe von Denkern wie Ernst Fromm, Wilhelm Reich und andere versuchte deshalb, den Marxismus als Theorie des Objektiven mit der Psychoanalyse als Theorie des Subjektiven zu verbinden. Die philosophisch brillanteste Version eines solchen Freudomarxismus gelang jedoch Herbert Marcuse 1955 in seinem Hauptwerk ‚Triebstruktur und Gesellschaft‘. Darin bürstete Marcuse die Psychoanalyse gleichsam gegen den Strich. Er kritisierte ihren konservativen Zuschnitt und ihre Blindheit gegenüber Gesellschaft und Geschichte.

 

Sprecherin:

Freuds Grundaussage lautet: Kultur ist Triebverzicht. Das bedeutet, jede Art von gesellschaftlicher Ordnung verlangt von ihren Individuen, daß sie ihre Triebwünsche unterdrücken, deren Befriedigung aufschieben und libidinöse Energien in Arbeit umwandeln. Der Einzelne muß seinen Lustanspruch dem Realitätsprinzip unterwerfen - kurz: sich anpassen. Dagegen argumentiert Marcuse: Was Freud als ewiges Realitätsprinzip darstelle, sei in Wahrheit nur eine historisch-vergängliche Gestalt, es sei das Leistungsprinzip der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Aber der historische Fortschritt, der ungeheure Reichtum und die technischen Möglichkeiten der Industriegesellschaft geböten nicht länger, daß der Mensch all seine Kräfte und Fähigkeiten - Phantasie, Sinnlichkeit, ästhetische Erfahrung – dem Überleben und der notwendigen Arbeit opfern müsse. Das Leistungsprinzip sei eine zusätzliche Unterdrückung, die ihre historische Berechtigung verloren habe.

Marcuse sieht am historischen Horizont einen neuen Menschentypus heraufkommen, der sich frei und selbstbestimmt entfaltet. Und eine neue ihm entsprechende Gesellschaft sei keine ferne Utopie, sie schlummere vielmehr als unbefreite Alternative im Innern der herrschenden Zerrgestalt.

 

Sprecher:

1955 hatte das Buch ‚Triebstruktur und Gesellschaft‘ keinen Adressaten. Es trieb gleichsam wie eine philosophische Flaschenpost über das Meer der Nachkriegsgeschichte,  bis es von den 68ern gefunden und begierig studiert wurde. Zum Beispiel von Bernd Rabehl, einem ehemaligen führenden Mitglied  im SDS, Freund und Weggefährte Rudi Dutschkes. Rabehl, der heute an der Freien Universität Politikwissenschaft lehrt, äußert sich rückblickend:

 

O-Ton, Bernd Rabehl:

‚Eros and Civilisation‘ hieß das im Englischen, ‚Triebstruktur und Gesellschaft‘ im Deutschen, ein furchtbarer Titel, Triebstruktur - ist ein Wort, das sozusagen alles zuschüttet, was in diesem Buch steht. Dort haben wir uns sehr intensiv mit auseinandergesetzt, weil für uns die Frage auftauchte: Was wollen wir eigentlich? Was bedeutet Freiheit in der modernen kapitalistischen Gesellschaft? Was heißt Entfremdung, und was heißt die Überwindung der Entfremdung, der Verdinglichung? - Und hier hat Marcuse uns sehr viele Ideen gegeben, vor allem für Experimente: Kommune, neues Leben, neuer Mensch, neue Sensibilität, neue Bedürfnisse, neue Ziele, neue Interessen, all das - es war ein sehr spekulatives Buch, aber auch ein sehr schönes Buch, was uns angeregt hat, ... es immer wieder zu lesen und es immer wieder zu reflektieren.

 

Sprecherin:

Marcuses erstes Hauptwerk war ein Aufbruchsbuch für die 68er: es ermunterte dazu, sich aus einer repressiven Erziehung zu befreien, die eigenen Bedürfnisse und verdrängten Wünsche wiederzuentdecken, neue Lebensformen auszuprobieren. Den entfremdeten Menschen, wie ihn die bestehende Gesellschaft hervorbringt,  stellt Marcuse in der mythologischen Figur des Prometheus dar. Prometheus ist, so Marcuse wörtlich, „der Kulturheld der Mühsal, der Produktivität und des Fortschritts durch Unterdrückung“, sein Körper zählt nur als Arbeitsinstrument, sein Denken beschränkt sich auf Zweckrationalität und Beherrschung der Natur. Diesem Promotheus hat Marcuse Orpheus und Narziß als utopische Gegenbilder konfrontiert: Sie künden von ungelebten  und unterdrückten Seiten der menschlichen Existenz. Orpheus verkörpert ein Dasein, das sich der Kunst und dem Spiel zu öffnen vermag, dem eine Zwiesprache mit der Natur gelingt. Narziß steht für befreite Sinnlichkeit, Kontemplation und Schönheit, für einen Eros, der Sexualität nicht allein auf Fortpflanzung reduziert, sondern in ihrer ganzen Fülle freigibt, d. h. konkret auch Homosexualität einschließt.

 

Sprecher:

Marcuses Buch übt ebenso Kritik am zentralen Begriff der Philosophie, an der Idee der Vernunft. Schon Horkheimer und Adorno und Horkheimer hatten in ihrer Dialektik der Aufklärung behauptet, daß sich die Vernunft in einer verzerrten Gestalt als instrumentelle Rationalität und als Herrschaftsdenken verwirklicht habe. Marcuse teilt diese Kritik, aber wo die beiden anderen sich in der Bestimmung des Positiven zurückhalten, formuliert Marcuse nochmals einen emphatischen Vernunftbegriff, den er gegenüber der Tradition sogar noch erweitert. Wenn Vernunft nicht nur ein Denken und Handeln nach Art des Prometheus meint, sondern durch die Existenzweisen eines Orpheus und eines Narziß korrigiert und ergänzt wird, so bedeutet dies letztlich: Verstand und Sinnlichkeit, Geist und Natur bilden keine unversöhnlichen Gegensätze. Dem Menschen ist es möglich, Vernunft und Glück zu vereinen.

Mit diesem spekulativen Entwurf, der selber noch einmal Aufklärung und Romantik zusammenbringt, konstruiert Marcuse aber auch ein ungeheures Spannungsverhältnis zwischen der schlechten Wirklichkeit und der ihr innewohnenden besseren Möglichkeit. Aufgabe der Aufklärung zum einen und einer radikalen gesellschaftsverändernden Praxis zum anderen wird es nun, die Kluft zwischen beiden zu überwinden. Marcuse warnt, sich dabei von irgendeiner Revolutionsideologie mißbrauchen zu lassen.

 

O-Ton,  Hauke Brunkhorst:

Eine Botschaft von Marcuse, in vorsichtiger Form von Adorno ... ist immer gewesen, und die ist 68 genau vernommen worden: Traut den Leuten nicht, die euch sagen: ‚Ihr sollt jetzt erst einmal 10 Jahre, 20 Jahre, hundert Jahre hungern, und dann kriegt ihr die große Erfüllung.‘ Traut denen nicht, die euch sagen: ‚Ihr müßt Opfer, Blut, Schweiß und Tränen liefern, damit dann später etwas aufgebaut wird.‘ Die Versprechen vieler asketischer Revolutionäre, die wurden jetzt mit großem Mißtrauen beobachtet. 68 war auch eine Art Aufstand gegen die immer noch sehr starke protestantische Ethik und die Moral der Askese und des Triebverzichts.

 

Sprecherin:

Während das Buch Triebstruktur und Gesellschaft die Befreiungsmöglichkeiten begründete, reflektierte das 1964 erschienene andere Hauptwerk Der Eindimensionale Mensch die Hermetik des Gefängnisses. Das herrschende System - hierunter verstand Marcuse im engeren Sinne immer die amerikanische Nachkriegsgesellschaft, im weiteren den Spätkapitalisumus - ist ein Gefängnis mit doppelten Mauern. Den äußeren Mauerring bilden die ökonomisch-politischen Verhältnisse der spätkapitalistischen Gesellschaft. Aber ihr Geist ist in die Köpfe und Körper eingedrungen und hat dort eine zweite innere Mauer errichtet. Die Menschen sind vollkommen manipuliert: Die Gesetze des Konsums und der Güterwelt regieren ihre Bedürfnisse, Werbung und Verwaltung haben mit ihren Jargons die Sprache okkupiert, und das Denken wird eindimensional, es unterwirft sich der Logik eines technischen Weltverhältnisses: Was kann man machen? Wie muß man es anstellen? Fragen der Begründung und der moralischen Rechtfertigung jedoch werden zunehmend ausgeblendet.

 

Sprecher:

Freiheit und Individualität sind in der universellen Manipulation, in der – wie Adorno es ausdrückte – verwalteten Welt  untergegangen. Der soziale Wandel ist blockiert. Ein totaler Konformismus triumphiert und hat eine Welt ohne Alternativen entstehen lassen und eine Gesellschaft ohne Opposition, sei sie politisch oder geistig gedacht. Denn die Kritik von Künstlern und Intellektuellen wird von der Kulturindustrie entweder ausgeschlossen oder aber vermarktet und auf diese Weise vom System selbst wiederum vereinnahmt. Die Arbeiter, von Marx als systemüberwindende Klasse gedacht, sind in Amerika durch Teilhabe an der Überflußproduktion längst integriert. Deshalb, so Marcuses berühmte These, habe die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt abgedankt. Protest und Widerstand jedoch, die große Weigerung, in diesem hermetischen System mitzuspielen, und ein Wille zur radikalen Veränderung könne, wenn überhaupt, nur von den Menschen an den Rändern des Systems erhofft werden, von Unterdrückten und Diskriminierten, von sozialen Außenseitern aller Art, im Verein mit den ausgebeuteten Völkern der Dritten Welt. Wolfgang Roth, Politikwissenschaftler in Marburg, erläutert welche Hoffnungsträger von Protest und Widerstand Marcuse in den USA identifiziert hat.

 

O-Ton,  Roland Roth:

Die ersten Schriften, in denen er sich explizit auf Protest bezieht, das ist vor allem ‚Der eindimensionale Mensch‘ in diesem berühmten Abschnitt, wo er, nachdem er gezeigt hat, wie geschlossen das Universum weitgehend ist, der One Dimensional Man, in all den Hinsichten die er beschrieben hat, dann zeigt, daß es gar nicht sicher ist, daß es so geschlossen bleibt, daß es Risse hat, und daß sich schon an den Rändern Gruppen auftun, ... und wenn ich mich richtig erinnere, erwähnt er und deutet zumindest an, daß es die Gruppen der Schwarzen, Gruppen der Frauen, Gruppen von Randständigen sind, die nicht so einbezogen sind in das erfolgreiche Modell des Konsumierens-Arbeitens, die also nicht in jeder Form integriert sind, und von denen noch am ehesten Widerständigkeit von ihm erwartet wird. Und diese Gruppierungen geben ihm Hoffnung, daß seine Diagnose, daß eben Protest und Widerspruch, gegen diese Art der Zurichtung, der Welt im Prinzip möglich ist, daß es dafür subjektive Entsprechungen gibt, und daß diese sich in diesen Bewegungen, Ansätzen zu Bewegungen bestärkt sehen.

 

 

 

Sprecherin:

Marcuse stützte seine Theorie auf Erfahrungen im Amerika der fünfziger Jahre, hier herrschte weit mehr soziale Unruhe, aber auch Aufsbruchsstimmung als im muffig-restaurativen Klima der Adenauer-Ära in Deutschland. Es gab in den Vereinigten Staaten zum einen die politische Bürgerrechtsbewegung, in der die Schwarzen gegen ihre Diskriminierung kämpften, zum anderen die Jugendrevolte der Beatgeneration. Jack Kerouac, William Burroughs und Allen Ginsberg hießen die literarischen Stimmen einer aufbegehrenden Jugend, die nach neuen freieren Lebensformen suchte.

 

Sprecher:

Marcuse erhielt 1965 eine Professur für Philosophie an der Universität von Kalifornien, wo die amerikanische Studentenrevolte ein Jahr zuvor ihren Ausgang nahm. Der Rektor der Universität verweigerte dem Schwarzenführer Malcolm X das Rederecht. Die Studenten in Berkeley waren empört. Genauso wie in Paris und in Berlin handelte es sich zunächst um Konflikte im universitären Bereich, an denen sich die Studentenrevolte entzündete. Aber die Kritik der Universität avancierte sehr schnell zur Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse. Im Brennpunkt aller Auseinandersetzungen stand der Krieg in Vietnam, er wurde für die rebellierende Jugend zum Inbegriff der Gewalt eines kapitalistischen Systems, das hinter seiner demokratischen Maske ein unmenschliches Gesicht verbirgt.

 

Sprecherin:

Mehr noch als in anderen Ländern engagierten sich die revoltierenden Studenten in Deutschland gegen den Krieg in Vietnam. Weite Teile der Bevölkerung haben dies als revolutionsromantische Flucht aus der Wirklichkeit in ein weit entferntes Land abgetan, mit dem weder sie selbst noch die Studenten etwas zu tun hätten. Doch es gibt sehr starke moralische Motive, die mit der deutschen Geschichte zusammenhingen, Motive, die freilich damals nicht ausreichend reflektiert wurden, wie die Berliner Politikwissenschaftlerin Ines Lehmann, ehemalige engagierte SDSlerin, rückblickend erläutert.

 

O-Ton,  Ines Lehmann:

Warum die deutsche Studentenschaft besonders auf Vietnam reagierte, neben der amerikanischen am meisten. Das ist auch wiederum nicht sehr diskutiert worden, alles ist ein bißchen auf der Ebene gehalten: Daß, wenn wir überhaupt etwas gelernt haben konnten, in der Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Geschichte, und in diesem Zusammenhang nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch im Elternhaus, mit den Eltern, die sich zu dieser jüngsten Geschichte nicht verhielten, so ... gab es nur eine einzige Chance, dieses Lernen auch zu zeigen:

Wir argumentierten gegen die Eltern: ‚warum habt ihr das getan?‘ - im Hinterkopf: ‚wir würden das nicht tun.‘ - Und das mußte man jetzt beweisen. - Warum? – Die Amerikaner machten keinen Krieg gegen ein kleines Volk, sondern die Amerikaner begingen einen Genozid, einen Völkermord an einem kleinen Volk, zwar weit weg, aber an diesem Beispiel mußte man zeigen, was man den Eltern immer sagte: ‚Wenn wir dabei gewesen wären, wären wir aber kritisch gewesen, wir hätten etwas unternommen.' - Das war eine Chance zu zeigen, auch glaubwürdig zu zeigen, daß man es ernst meinte. - Da liegt auch die Dimension der RAF-Gewalt darin: ‚es ernst zu meinen‘, in den Untergrund zu gehen, zu kämpfen: ‚Jeder tote Amerikaner ein guter Amerikaner.‘ - Das muß man schon in dem Kontext sehen, daß die Befangenheit der deutschen Geschichte die theoretische Aneignung und die politische Praxis sehr bestimmt hat.

 

Sprecher:

Vietnam stellte gleichsam die moralische Prüfung für die deutsche Jugend dar. Hier mußte sie sich und der Welt beweisen, daß sie im Gegensatz zu den Eltern bei einem Völkermord nicht wiederum tatenlos zuschaute. Auch wenn man das Engagement gegen den Vietnamkrieg nicht darauf reduzieren kann, so muß man es doch auf dem Hintergrund der unbewältigten deutschen Vergangenheit sehen. Denn bis in die sechziger Jahre hinein, im Grunde bis die 68er die Elterngeneration zur Rede stellten, wurden die nationalsozialistischen Verbrechen in der Bundesrepublik weitgehend totgeschwiegen und die Frage der Mitschuld verdrängt.  Der moralische Rigorismus der 68er war freilich selbst - wie man heute sieht - von jener Gewalt angesteckt, die er aufdecken und bekämpfen wollte.

 

Sprecherin:

Bei den ersten Demonstrationen und Aktionen gegen Einrichtungen der USA setzten die Studenten recht harmlose Protestmittel ein -  Knallkörper, Rauchkerzen, Schweigemärsche, Sit-Ins - auf die ein ebenso unsicherer wie autoritärer Staatsapparat oft nicht anders als mit brutalem Polizeieinsatz zu reagieren wußte. Die Studenten waren in der Öffentlichkeit isoliert. Selbst Denker der Linken hielten Distanz. Max Horkheimer kehrte angesichts von Vietnamkriegs-Protesten immer den dankbaren Emigranten hervor und beeilte sich seine Loyalität gegenüber Amerika zu beteuern. Adorno verschanzte sich in der theoretischen Arbeit, wenn seine Studenten ihn zu eindeutigen politischen Stellungnahmen zu drängen versuchten. Allein Herbert Marcuse  solidarisierte sich bei seinen vereinzelten, aber regelmäßigen Deutschland-Besuchen offen mit den rebellierenden Studenten. Dazu Ines Lehmann:

 

O-Ton,  Ines Lehmann:

Schon 1966 war Marcuse zum Vietnam-Kongreß nach Frankfurt geholt worden ... Marcuse stellte sich immer sehr schnell auf unsere Seite, allerdings auch aus einem sehr pragmatischen Grund: er kam ja aus Amerika, er kam mit den Erfahrungen der Anti-Vietnam-Demonstrationen, den Civil-rights-movements, den antirassistischen, den demokratischen, den Student-movements und ihren Kampfformen wie Picketing-line, wie Sit-ins, wie Teach-ins, das kam alles aus Amerika, das kam nicht nur über Marcuse, aber wesentlich über Marcuse, er erzählte das öffentlich und er erzählte das auch privat, denn solche Kongresse werden immer aus- und eingeleitet, man holt jemanden ab, man hat ein Abendessen usw und so fort. Und Marcuse galt als jemand, auf den man sich verlassen konnte, wenn es nicht nur um eine Analyse der Gesellschaft, sondern wo es um Verständnis für unsere Kämpfe ging, er brachte neue Erfahrungen, er vertrat insofern eine Form von Internationalismus, weil sein Ziel immer war, daß wir zusammengehen, die internationale Studentenbewegung war sein Ziel, er war früher auch in Paris, fuhr nach Italien, sprach dort, er war bei den Philosophiekongressen in Korcula (Jugoslawien)  - das war ein Umfeld, was man sich heute nicht vorstellen kann, nicht ein paar Berliner Studenten sind durchgedreht, sondern ab 1966 ...  dann 68/69 sind überall Prozesse passiert.

 

Sprecher:

In Deutschland eskalierte die Situation, als am Abend des 2. Juni 1967 in Berlin nach Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei der 26jährige Germanistikstudent Benno Ohnesorg auf einem Parkhof von dem Kriminaloberkommissar Kurras von hinten erschossen wurde. Die Polizei versuchte den Todesfall zunächst zu vertuschen, über Wochen blieb der Polizist unbehelligt  in Freiheit, während andrerseits der Kommunarde Fritz Teufel unter dem Vorwurf des Landfriedensbruchs in Untersuchungshaft saß. Eine Welle der Empörung und Bestürzung ging durch die deutschen Hochschulen. Aber die Studenten blieben in der  Öffentlichkeit isoliert. Adorno eröffnete ein Proseminar mit der Bemerkung: Die Studenten haben ein wenig die Rolle der Juden übernommen.‘ .

 

Sprecherin:

Auf dem Kongreß ‚Hochschule und Demokratie‘ eine Woche nach Ohnesorgs Tod kam es zu einer scharfen Kontroverse zwischen den Studentenführern Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl auf der einen, und dem damals jungen Hochschullehrer Jürgen Habermas in der Frage, welche Widerstandsformen in der BRD angemessen und legitim seien. Habermas warf den Studenten Aktionismus vor und schließlich sogar – Gewalt befürchtend – sprach er von Linksfaschismus.

 

Sprecher:

Ratlos in ihrer Isolation luden die Studenten im Juli 1967 Herbert Marcuse zu einem großen viertägigen Kongreß nach Berlin ein. Der Kongreß trug den Titel ‚Das Ende der Utopie‘ – allerdings in einem, dem landläufigen Verständnis genau entgegengesetzten Sinn: Zuende sei die Utopie deshalb, weil die Stunde ihrer Einlösung längst geschlagen habe, weil ihre Verwirklichung historisch überfällig sei. Marcuse beschloß einen seiner Vorträge mit dem Aufruf zu einer Aufklärungsarbeit, die eine radikale Kampfansage an das herrschende Gesellschaftssystem darstellte.

 

O-Ton,  Herbert Marcuse:

Die Befreiung des Bewußtseins, von der ich gesprochen habe, meint nun mehr als Diskussion. Sie meint in der Tat und muß in der erreichten Situation meinen - Demonstration. Das heißt im wörtlichen Sinne: zeigen, daß hier der ganze Mensch mitgeht und seinen Willen zum Leben anmeldet. Seinen Willen zum Leben, das heißt seinen Willen zum Leben in Frieden. Und wenn das alles doch nicht hilft, wenn es für uns schädlich ist, Illusionen zu haben, so ist es ebenso schädlich, und vielleicht schädlicher, Defaitismus und Quietismus zu predigen, die nur dem System in die Hände spielen können. Tatsache ist, daß wir uns einem System gegenüber befinden, das seit dem Beginn der faschistischen Periode und heute noch durch seine Taten die Idee des geschichtlichen Fortschritts selbst desavouiert hat. Ein System, dessen innere Widersprüche sich immer von neuem in unmenschlichen und unnötigen Kriegen manifestieren und dessen wachsende Produktivität wachsende Zerstörung und wachsende Verschwendung ist. Ein solches System, das glaube ich, ist nicht immun. Es wehrt sich bereits gegen die Opposition, selbst gegen die Opposition der Intelligenz, an allen Ecken der Welt. Und selbst wenn wir nicht sehen, daß die Opposition hilft, müssen wir weitermachen, wenn wir noch als Menschen arbeiten und glücklich sein wollen - und im Bündnis mit dem System können wir das nicht mehr.'

 

Sprecherin:

Marcuse forderte, daß die Studenten die Arbeit der Aufklärung und Bewußtmachung an sich selber leisten und in die Gesellschaft hineintragen. Die Befreiung des Bewußtseins soll nicht nur diskutiert, sondern demonstriert werden. Demonstrieren meinte Marcuse dabei in einem emphatischen Wortsinn: d.h. eine Kritik nicht nur verbal zu vertreten oder auf einer politischen Veranstaltung kundzutun, sondern in seinem ganzen Verhalten dafür einzustehen, mit einem Wort: die Kritik zu leben. Hier wurde der starke existentialistische Zug in seinem Denken manifest, der ihn von den anderen Vertretern der Frankfurter Schule unterschied und ihn nicht zufällig in die Nähe des existenzialistischen und marxistischen Philosophen Jean Paul Sartre rückte, der ebenfalls die Studentenrevolte unterstützte.

 

Sprecher:

Marcuse schlug eine Brücke von der Theorie zur Praxis: Die Befreiung sei trotz der übermächtigen Verhältnisse prinzipiell möglich, wenn Individuen sich entschließen, die Geschichte, d.h. ihre Geschichte, selbst zu gestalten. Aber welche Formen der Praxis waren richtig? Welche Widerstands- und Protestformen waren akzeptabel und der politischen Situation angemessen? Darauf gab Marcuse keine konkrete Antwort. Als die anschließende Diskussion diesen Punkt erreichte, griff Rudi Dutschke ein, um die Leerstelle der Theorie mit den aktionistischen Vorstellungen des SDS auszufüllen.

 

O-Ton,  Rudi Dutschke:

Wenn wir davon ausgehen, daß wir in dieser Stadt schon durchaus als eine ernst zu nehmende Potenz der Veränderung gesehen werden von den Herrschenden, liegt es an uns, die Organisierung der außerparlamentarischen Opposition jetzt so fortzusetzen, daß das, was Prof. Marcuse die Vorbereitungsorganisation genannt hat, daß die studentische Opposition den Hof der Universität - diese zwar historisch richtige Isolation, aber jetzt, wenn sie, Isolation bleibt: selbstverschuldete Isolation - zu durchbrechen und den Weg in die Stadt zu finden sucht. - Wir haben es einmal ganz kurz begonnen. Die nächste wichtige Etappe in der Überwindung unserer jetzigen Isolation wäre die Enteignung des Springer-Konzerns.

 

Sprecherin:

Der Axel-Springer-Konzern hatte mit seiner Meinungsmacht in üblen Diffamierungskampagnen die politischen Ideen genauso wie die Persönlichkeiten der Außerparlamentarischen Opposition attackiert. Als Rudi Dutschke am 11. April von einem durch die Boulevardpresse aufgehetzten Arbeiter niedergeschossen wurde, kam es zu den schwersten Unruhen. Studenten belagerten die Berliner und Hamburger Verlagsgebäude von Springer und  suchten die Auslieferung der Zeitungen gewaltsam zu verhindern. In Straßenschlachten wurden etwa 400 Demonstranten und 54 Polizisten verletzt. Das Thema der Gewalt in der Opposition geriet zur entscheidenden Frage. Schon nach dem Attentat auf Benno Ohnesorg hatte Habermas versucht, den Protestformen der Studenten eine enge rechtstaatliche Grenze zu ziehen, und auf die linksfaschistische Gefahr in ihrem Aktionismus hingewiesen.

 

Sprecher:

Herbert Marcuse dagegen legitimierte auf dem Kongreß ‚Das Ende der Utopie‘ das Widerstandsrecht als ein Naturrecht wie schon in seinem Aufsatz von 1966, wo er schrieb: „Ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten eine Naturrecht auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben.“ Ohne daß Marcuse damit direkt der Gewalt das Wort geredet habe, hätte er es versäumt - so kritisiert Ines Lehmann rückblickend - seine Position gegenüber möglichen oder gewollten Mißverständnisssen zu vereindeutigen.

 

O-Ton,  Ines Lehmann:

Ich meine, da muß man Herbert Marcuse in seiner Lebenserfahrung das Recht haben, ihm Konkretion abzuverlangen, wo er - das ist meine These - versagt hat: Jemand in seinem Alter muß wissen, daß die Worte, wenn sie in der Allgemeinheit bleiben, nicht auf demselben Niveau verstanden werden, wie sie ausgesprochen werden.

Ich bin, wenn ich so auftrete wie Herbert Marcuse, verantwortlich, mir zu überlegen, wer mir zuhört, unter welchem Druck mein Zuhörer steht, und wie man Zuhörer mich verstehen kann. Das gilt für jeden öffentlichen Redner. Damit meine ich, als Herbert Marcuse hierher kam und mit der theoretischen Spitze des SDS in kurzen Gesprächen diskutierte, mußte er annehmen können, daß das nicht die Zuhörerschaft insgesamt betraf. Er mußte wissen, daß wenn man in Fragen der Opposition, des Widerstands, der totalen Opposition - Begriffe wie diese sind gängig auf diesem Kongreß - mußte er wissen, daß ihm Menschen zuhören, die das sehr anders, kurzfristig sehr anders sehen, als er das vielleicht meint, und da wo er unsicher bleibt, wird er nicht in der Unsicherheit nachvollzogen, sondern er wird in der vereinfachten Gewaltinterpretation aufgenommen. ... Das sehe ich heute sehr kritisch, daß Herbert Marcuse den Konflikt, in dem sich die Westberliner und bundesdeutsche Opposition damals befand, der Druck in den Köpfen des Nazi-Regimes, der Versuch wiedergutzumachen,  die maßlose Staatsreaktion auf die ersten Oppositionsanfänge, die Reste des deutschen Charakters, der autoritäre, der zur Gewalt tendierende, der emotional unausgeglichene, fanatisierte - das mußte ich Herbert Marcuse als kritischem Theoretiker abverlangen, nachträglich sage ich das. Das sage ich nicht nur von Herbert Marcuse, von jedem sage ich das, das meine ich auch von  Rudi Dutschke, von Bernd Rabehl, und vor allen Dingen auch von mir selber.

 

Sprecherin:

Studentenbewegung und APO entwickelten eine Fülle von neuen, in ihren Provokationen überrraschenden Aktionsformen, viele waren der Hippie-Bewegung und den Antirassismus-Kam­pagnen in den USA entlehnt. Das Spektrum reichte von harmlosen antiautoritären Aktionen, der sogenannten Spaßguerilla,  von Sit-Ins und Straßentheater über Institutsbesetzungen und Massendemonstrationen bis hin zu gewalttätigen Straßenschlachten. Je klarer sich allerdings herausstellte, daß die Solidarität in der Öffentlichkeit ausblieb, desto blinder und unverantwortlicher entwickelte sich der Aktionismus mancher Gruppen.

Um gegen die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber den Morden in Vietnam zu protestieren, - wie sie selbst erklärten, legten Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Thorwald Proll in der Nacht zum 3. April 1968 Brandsätze in zwei Frankfurter Kaufhäusern. Es war das Vorspiel der späteren RAF.

 

Sprecher:

In den eigenen Reihen gerieten jene ins Hintertreffen, die sich dem Schwarz-Weiß-Denken versagten und sich eine geistige Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaft weiterhin abverlangten. Im März 1969 drangen Mitglieder der aktionistischen Lederjackenfraktion des SDS in eine Wohngemeinschaft ein, demolierten das Zimmer eines Philosophiestudenten aus dem Umkreis des SDS-Intellektuellen Hans-Jürgen-Krahl und schmierten die Parole an die Wand: ‚Ins KZ mit dem Pack der Intellektuellen‘. Unbewältigte deutsche Geschiche kommt in der Studentenbewegung empor: Wiederkehr des Verdrängten. Trotzdem ist es kurzschlüssig anzunehmen, daß ein gerader und notwendiger Weg von der Studentenbewegung zur RAF wies.

Marcuse ist einer Flucht in den Terror eindeutig entgegengetreten, einem Terror, für den ihn manche Medien kurzerhand verantwortlich machen wollten. Anders als Sartre besuchte Marcuse die RAF-Häftlinge in Stammheim nicht, er diskutierte nicht mit jenen, die aufgehört hatten zu diskutieren. Als ihn Ulrich Wickert 1975 in einem Interview zur Bewertung der RAF aufforderte, antwortete er:

 

O-Ton,  Herbert Marcuse:

Subjektiv ist anzunehmen, daß sie ihre Aktion für eine politische Aktion halten und gehalten haben, objektiv ist das nicht der Fall: Wenn politische Aktion willentlich zum Opfer von Unschuldigen führt, dann ist das genau der Punkt, wo politische, subjektiv politische Aktion in Verbrechen umschlägt.

 

Sprecherin:

Die RAF war einer der Ausläufer von Studentenbewegung und Außerparlamentarischer Opposition, die beide 1969 niedergingen und sehr schnell zerfielen. Die Außerparlamentarische Opposition war im Grunde schon 1968 gescheitert, als es ihr nicht gelang, die Bevölkerung gegen eine Verabschiedung der Notstandsgesetze zu mobilisieren. Die APO hatte sich in der Annahme einer revolutionären Lage völlig verschätzt, eine war Fehleinschätzung die dem Wunsch nach eigener historischer Mission entsprang, nicht aber einer Analyse der Wirklichkeit. Die APO besaß sehr unterschiedliche Nachfolger. Einen Teil der Bewegung konnte Willy Brandt 1969 für seinen Aufbruch ‚Mehr Demokratie wagen‘ zurückgewinnen, andere organisierten sich in kommunistischen Kaderorganisationen und lieferten eine groteske Neuauflage der 30er Jahre, die im Sektierertum endete. Die bedeutendste Nachfolge jedoch bildete zweifellos die Frauenbewegung. die dann die 70er Jahre dominierte.

 

Sprecher:

Trotz ihres politischen Scheiterns hat die Studentenbewegung das Gesicht der Bundesrepublik Deutschland entscheidend verändert . Wie eine große Zäsur trennen die Ereignisse der Jahre 1966 bis 69 eine autoritäre, noch obrigkeitsstaatlich geprägte Adenauer-Ära von einer zweiten Phase, deren Klima deutlich liberaler geworden ist, nicht nur in der politische Öffentlichkeit und in den Institutionen, sondern auch im sozialen Alltag. Auch wenn die große Verweigerung, die Marcuse entwarf, nicht gelang, so hat die Studentenbewegung doch zu sehr viele kleinen Verweigerungen angestiftet, die eine Entkrampfung, Liberalisierung und Demokratisierung des Lebens in der Bundesrepublik Deutschland bewirkt haben. Rabehl allerdings widerspricht dieser These vom erfolgreichen Demokratisierungsschub durch die 68er.

 

O-Ton,  Bernd Rabehl:

Das, was wir uns anheften, bessere Schulerziehung, andere Universitäten, anderer Rundfunk, anderes Fernsehen, das wage ich zu bezweifeln. Der moderne Kapitalismus braucht einen anderen Menschen, der braucht eine andere Mentalität, im Grunde hat der moderne Kapitalismus in Deutschland sich erst durchgesetzt als der Marketing-,  nicht der Rüstungskapitalismus in den 50er und 60er Jahren in Deutschland. Wo sie sich auf dem Weltmarkt bewähren müssen, wo sie ihre Volkswagen in alle Welt verkaufen müssen, aber Preise und Qualität garantieren müssen und sie brauchen auch einen neuen Menschen, einen Arbeiter, der ein jobmäßiges Verständnis hat, und vor allem einen neuen Konsumenten, den es auch nicht gegeben hat. Denken wir einmal daran, wie unsere Großmütter die Kühlschränke bewahrt haben, wem sie überhaupt einen hatten. - Das bricht alles durch, wie gesagt, ich will unsere Rolle nicht in Abrede stellen, ich will nicht sagen, daß wir vollkommen sinnlos waren, aber was man uns andichtet, vor allem von konservativer Seite, wir sind schuld an dem Zerfall, oder unsere Leute, ‚guckt doch mal, wie schön wir diese Republik gestaltet haben‘, -  das ist illusionär, man muß es gebrochen sehen, politisch jedenfalls haben wir eine Niederlage erlitten, wir haben an keinem Punkt, unsere Ziele durchgesetzt: es gibt weder die neue Universität, wie wir sie uns vorgestellt haben, noch die neue Schule, die neue Demokratie, wie wir sie uns vorgestellt haben, damals Rätedemokratie, noch eine Demokratisierung der Parteien, im Grunde ist die Kritik die wir damals an den Parteien, am Staat, am Parlamentarismus, an den politischen Zuständen 67/68 geäußert haben, so aktuell wie noch nie - da hat sich nichts geändert, von daher sind wir gescheitert, aber ansonsten sind wir natürlich Produkt der Geschichte, und durch uns hat sich Geschichte verdeutlicht und erklärt.

 

Sprecherin:

Nach dem Ende der Studentenbewegung, in den siebziger Jahren ging der Zeitgeist auf Distanz zu Herbert Marcuse und seinem Werk. Wolfgang Kraushaar, der in diesem Jahr eine umfassende dreibändige Dokumentation mit dem Titel ‚Frankfurter Schule und Studentenbewegung‘ herausgegeben hat, bilanziert treffend: ‚So wie Marcuse auf dem Höhepunkt der Revolte zur Vaterfigur stilisiert und in den Himmel gehoben wurde, so ist er anschließend herabgesetzt worden. Weil er sich nicht gescheut hat, sich öffentlich mit dem Aufbruch von 67/68 zu solidarisieren, ist im Nachhinein sein ganzes Werk mit dem Niedergang der Bewegung identifiziert worden.‘  Man hat ein umfassendes theoretisches Werk einfach fallengelassen. – Heute stellt sich die Frage: Soll es man es tatsächlich im historischen Abseits liegenlassen? Oder verdient Marcuse eine neue Rezeption?

 

O-Ton, Roland Roth:

Ich hatte eine interessante Debatte genau zu dieser Frage, mit den Studenten und Studentinnen in Kalifornien, und wir stellten uns die Frage, was ist denn noch aktuell an dieser Konsum- und Kulturkritik, und wir kamen fast übereinstimmend zu dem Ergebnis, sie ist aktueller denn je, weil das, was sich etwa als Shopping-More-Kultur in den USA entwickelt, und die moderne Art zu leben in den USA heute repräsentiert, das, was Marcuse damals noch darstellen konnte, bei weitem in den Schatten stellte. Es ist um drei Spiralen angezogen worden, so daß man den Eindruck hat, daß der Alltag in den USA in der Tat darin besteht, möglichst viel zu arbeiten, um möglichst viel Konsumchancen zu eröffnen und die Zeit dann damit zu verbringen, diese Konsumchancen einzulösen, aber als gesellschaftliche Musts, als Zwänge. Wir sehen jetzt, daß sogar jeder Feiertag als Shopping-Holiday behandelt wird, und bis hin zu der Perversion, daß z. B. an dem Tag, wo die drei berühmtesten Präsidenten der Vereinigten Staaten gefeiert werden als Three-Presidents-Shopping-Holiday gefeiert wird, und jeder dieser Shopping-Holidays, auch Weihnachten läuft in diesem Sinne als Shopping-Holiday, ... daß die Menschen alle Zeit darauf ausrichten, ihre Tage, ihr Leben mit Arbeit auszurichten, um Konsumchancen zu eröffnen, um umgekehrt, also diesen Zirkel zu spielen, plus ein wenig Familie als letzte Instanz, die das zusammenhält, was dort in Reinkultur gelebt wird. Und von daher gingen die Studenten davon, daß es eigentlich eine Revitalisierung der Marcuse-Lektüre geben müßte, daß eine Erneuerung der Marcuse-Rezeption kommen müßte auf Grund dieser neueren kompakteren Art zu leben.

 

Sprecher:

Der Ökonomismus des 20. Jahrhunderts, der die westlichen Demokratien beherrscht, ist nach dem Bankrott der Alternative, nach Ende des Sozialismus, keineswegs unumstritten, sondern gibt drängende Probleme auf. Hauke Brunkhorst wünscht Marcuse deshalb ebenfalls eine neue Rezeption. Er differenziert allerdings in der Bewertung der Theorie der eindimensionalen Gesellschaft. Auf der einen Seite habe Marcuse in seinem Werk sehr genau die Probleme der modernen Gesellschaft und ihre subtilen Manipulationsmechanismen aufgedeckt, auf der anderen Seite habe er jedoch die demokratische Frage vernachlässigt.

 

O-Ton,  Hauke Brunkhorst:

Marcuse ... war zwar der Meinung, daß die Demokratie besser ist, als der Faschismus, aber in der Theorie merkt man von dem Unterschied fast gar nichts, die Theorie der eindimensionalen Gesellschaft die gilt für Hitler und Stalin genauso wie für Roosevelt und Adenauer oder welches Regime auch immer, in der Praxis haben sie große Unterschiede gemacht, aber die Theorie, die Horkheimer, Adorno und Marcuse entwickelt haben, ist für diese Unterschiede relativ unsensibel. Und von daher entsteht das Bild einer Gesellschaft, in der immer weniger Vernunft da ist, in der die Vernunft immer irrationaler wird, in der die Glücks- und Freiheitsmöglichkeiten immer mehr reduziert werden, und nur als bloße Möglichkeit ist dann das ganz Andere noch vorhanden, aber nicht mehr als Wirklichkeit, und an der Stelle sollte man vielleicht auch differenzieren und versuchen eine Theorie zu bauen, die sensibler für die gewaltigen Unterschiede ist zwischen repressiven demokratischen Regimes und repressiven totalitären und faschistischen Regimes.

 

Sprecherin:

Herbert Marcuse ist 1979 in Starnberg verstorben. In den siebziger Jahren hat er sich wie in den dreißigern mit der Frage der Kunst auseinandergesetzt, Kunst nicht nur als Palliativ, das eine schlechte Welt ertragen hilft, sondern als Vorschein einer besseren Wirklichkeit, Kunst die davon kündet, was möglich ist. Auf diese Möglichkeiten insistierte Marcuse. Ihm schwebte nicht das romantische Bild der großen Revolution vor, auch wenn sein Vokabular manchmal diesen falschen Eindruck nährt. Marcuse war ein Denker, der auf radikale Veränderung, auf Befreiung sann: Freiheit für die Unterdrückten in der Gesellschaft: die Frauen, die Homosexuellen, die rassischen Minderheiten, die Ausgebeuteten der Dritten Welt. Freiheit auch für die unterdrückten Seiten im Menschen selbst: die Phantasie, die Sinnlichkeit, die Erotik nach 2000 Jahren diffamierter Leiblichkeit. Freiheit schließlich auch für ihn persönlich.  Ohne den Revoltierenden seine Solidarität zu versagen, hat er sich gleichwohl seine Eigenständigkeit als Denker niemals abhandeln lassen.

 

O-Ton, Roland Roth:

Für mich ist das Beispiel, um anzudeuten, wie er gegen Zeitgeist angeht, auch in den Revolten selbst, wie er sie selbst kritisiert, wie er versucht, sie zu beeinflussen in diesem Marcuseschen Sinne, etwa das Beispiel Vietnam-Kongreß, seine große Rede, womit endet sie. Sie endet nicht mit der Begeisterung für den Vietkong und den heldenhaften militärischen Widerstand, sondern sie endet mit einem Beispiel, daß er gelesen habe, daß es in Hanoi Parkbänke gebe, die nur für zwei gemacht seien. Und diese Vorstellung, daß es das in Hanoi gebe – Parkbänke nur für zwei – diese Form von Intimität, Zweisamkeit und Glück – das ist für ihn die Vision einer befreiten Gesellschaft.