O-Ton, Herbert Marcuse:
Ich komme
direkt aus Paris, und wer das gesehen, wie diese Jungs und Mädchen,
(anhaltender Beifall) wie diese Jungs und Mädchen, die in normalen Zeiten anscheinend
nichts anderes zu tun haben, als in den Cafés von St. Germain-des-Prés oder im
Quartier Latin zu sitzen, wie die auf einmal sich nächtelang und Abend für
Abend geschlagen haben, wie sie die Barrikaden gebaut haben, während sie die
Internationale sangen, wie sie mit roten Fahnen demonstriert haben, (anhaltender
Beifall) - der kann weiß Gott nicht mehr leugnen, daß in dieser
Studentenopposition mehr ist, als der gewöhnliche Konflikt der Jugend mit der
älteren Generation, daß es viel mehr ist, nicht nur eine akademische
Opposition. Ich glaube, daß die Universität nicht das primäre Objekt dieses
Kampfes ist und sein sollte, sondern eine Opposition gegen die Gesellschaft als
Ganzes, gegen die Moral dieser Gesellschaft, gegen den Reichtum dieser
Gesellschaft, gegen die Dummheit dieser Gesellschaft, gegen die Brutalität
dieser Gesellschaft. (anhaltender Beifall).
Sprecherin:
Herbert
Marcuse, der deutsch-amerikanische Philosoph, spricht am 13. Mai 1968 vor 4000
Studenten im überfüllten Auditorium Maximum der Berliner Freien Universität. Es
ist derselbe Tag, an dem in Paris eine Million Menschen in zwei riesigen
Marschsäulen durch die Straßen der Hauptstadt zum Place de la Republique
ziehen. Für eine kurze Zeit sind sich
Arbeiter und Studenten im Aufstand gegen Regierung und Establishment einig. Die
Revolte in Frankreich erreicht in diesen historischen Maiwochen ihren
Höhepunkt: Der Generalstreik ist ausgerufen; Gewerkschaften, Professoren, und
große Teile der Bevölkerung üben Solidarität. Staatspräsident De Gaulle war,
wie man heute weiß, bereits zum Rücktritt entschlossen.
Sprecher:
Die
deutschen Studenten in Berlin und in Frankfurt hingegen bleiben weitgehend auf
sich gestellt, ohne nennenswerte Unterstützung in der Gesellschaft. Und die
Verabschiedung der Notstandsgesetze durch die große Koalition aus CDU und SPD
steht unmittelbar bevor. Um so mehr erhofft man sich von jenem Philosophen, der
im Gegensatz zu anderen die Opposition der Studenten in ihrem Willen zur radikalen
Veränderung der Gesellschaft vorbehaltlos unterstützt. Denn in seiner Theorie
betrachtet Marcuse nicht mehr die Arbeiterklasse der fortgeschrittenen Industriegesellschaft
als revolutionäres Subjekt, vielmehr
gelten ihm das Proletariat der Dritten Welt, die Außenseiter und unterdrückten
Minderheiten in den Metropolen, und nicht zuletzt die kritischen Studenten als
Hoffnungsträger und Wegbereiter einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft.
O-Ton, Herbert Marcuse:
Wir haben in
den Metropolen, und ich wiederhole, in den Metropolen, noch keine revolutionäre
Periode, wir haben eine Periode der radikalen Aufklärung, eine Periode der
radikalen Erziehung, eine Periode der radikalen Vorbereitung, aber gerade in
dieser Periode müssen die neuen Menschen aufwachsen, die die neue Gesellschaft
bauen können. Und wenn die nicht da sind, wenn die nicht schon frei von dem
Alten sind vor ihrer Befreiung und frei für ihre Befreiung, dann fängt, wie
Marx gesagt hat - er hat wie Sie wissen einen stärkeren Ausdruck gebraucht -
dann fängt der ganze Mist wieder von vorne an. - (aus dem Publikum:) ‚Scheiß‘ -
Ja, ich weiß, er hat Scheiße gesagt, ich habe nicht einmal Allergie gegen das.
Sprecherin:
Bis in die
Wortwahl, bis in das emotionsgeladene Schimpfwort und die unflätige Bemerkung
hinein ist die Nähe und die Sympathie spürbar zwischen dem 70jährigen Denker
und der revoltierenden Jugend. Herbert Marcuse, den die Medien sogleich als
Vater der Revoluzzer schmähten, gehörte neben den Philosophen Max Horkheimer,
Theodor Adorno und dem um einiges jüngeren Jürgen Habermas zum Kreis der
Frankfurter Schule. Aus ihrem Denkansatz, der sogenannten Kritischen Theorie
empfing die Studentenbewegung ihre stärksten geistigen Impulse. Aber mehr noch
als die in Frankfurt lehrenden Horkheimer und Adorno beeinflußte Marcuse,
obgleich er in Kalifornien lebte und
arbeitete, mit seinen Ideen und Werken die deutsche Studentenbewegung.
Sprecher:
Was waren es
für Konzepte, die ihn so wichtig werden ließen? Und welche Lebenserfahrungen
haben Marcuse in seinem Denken geprägt? Hauke Brunkhorst, er lehrt heute
Philosophie in Frankfurt, schildert die frühe Biographie Herbert Marcuses, der
1898 in Berlin geboren wurde.
O-Ton, Hauke Brunkhorst:
Herbert
Marcuse stammt aus einem gutsituierten bürgerlichen Elternhaus, die Eltern
waren assimilierte Juden, und relativ reich, sie ... hatten eine 8-Zimmer-Wohnung
in der Berliner Bismarckstraße, und das war damals eine der Prachtalleen.
Marcuse ist wenig mit Religion und solchen Dingen noch in Berührung gekommen,
ein bißchen schon im Elternhaus, aber dann viel stärker geprägt worden durch
solche Phänomene wie die deutsche Jugendbewegung, es gibt Bilder aus dieser
Zeit, wo er mit seiner Schwester bei so einem Charlottenburger Verein aufmarschiert,
und dann war diese entscheidende Prägung seines Lebens - das sagt er auch
selber immer wieder in Interviews - die deutsche Revolution von 1918, er war damals
zu Kriegsende noch eingezogen worden zum Luftschifferersatzbataillon in Berlin,
er mußte nicht mehr an die Front, hat sich dann aber, als es mit den Arbeiter-
und Soldatenräten losging, sofort dafür begeistert und war sogar ein paar Tage
Mitglied eines solchen Arbeiter- und Soldatenrates.
Sprecherin:
Nach der
Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verließ Marcuse 1919
enttäuscht die SPD und hat sich in Zukunft nie wieder einer politischen Partei
oder Organisation angeschlossen. Er studierte Germanistik, Philosophie und Nationalökonomie,
promovierte schließlich über den deutschen Künstlerroman. Nach der
kaufmännischen Tätigkeit bei einem Verlag kehrte er 1927 an die Universität zurück,
hörte in Freiburg Edmund Husserl und Martin Heidegger. Heidegger bedeutete
damals eine Art Revolution in der Philosophie. Sein Hauptwerk ‚Sein und Zeit‘
rief den Menschen auf, sich aus der Verfallenheit an das Man zu befreien und
die Eigentlichkeit der Existenz auf sich zu nehmen – anders gesagt: den
Konformismus der Massengesellschaft abzuschütteln und sich zu einem
authentischen, bewußt geführten Leben zu entschließen. Bei Heidegger blieb
diese Forderung zunächst allgemein und politisch abstrakt, bevor er sich selbst
den Nationalsozialisten andiente. Marcuse und andere jedoch haben den
existentialistischen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung in ein
linksintellektuelles Denken hineingenommen.
Marcuse
wirkte an der wissenschaftlichen Edition der Jugendschriften von Karl Marx mit
und beförderte auf diese Weise die Wiederentdeckung eines kritischen,
humanistischen Marxismus. Er entschloß sich zur Mitarbeit in dem jungen, gerade
gegründeten Institut für Sozialforschung, der Keimzelle der Frankfurter Schule.
Doch dies fiel schon mit der Flucht vor den Nazis zusammen. Marcuse gelangte
über Genf und Paris nach New York, wo er 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft
erhielt. Im Gegensatz zu den anderen emigrierten Institutskollegen wie Max
Horkheimer und Theodor Adorno entschied sich Marcuse in Amerika zu bleiben. Und
er leistete nicht nur auf dem Feld der wissenschaftlichen Theorie eine Auseinandersetzung
mit dem Nationalsozialismus, sondern arbeitete ab 1942 in einem Büro der
Spionageabwehr im Kampf gegen Nazi-Deutschland mit, ein Engagement, das ihm in
den siebziger Jahren, vor allem von seiten der DDR den Vorwurf eintrug, ein
CIA-Agent gewesen zu sein.
Sprecher:
Angesichts
des Grauens vor dem Triumph der Barbarei in Europa, der allem Fortschritt Hohn
sprach, stellte sich Marcuse die Frage: „Was genau ist in der Entwicklung der
westlichen Zivilisation falsch gelaufen, so daß wir auf der Höhe des
technischen Fortschritts die Negation des humanen Fortschritts erleben...“ Eine
kritische Theorie, die diese Fehlentwicklung verstehen und den Menschen vor
weiteren Rückfällen bewahren wollte, konnte nicht wie der Marxismus bei der
Analyse der äußeren ökonomischen und politischen Verhältnisse stehenbleiben, eine
solche Analyse mußte sich ebenso mit dem Innenleben der Menschen, mit ihren
bewußten und unbewußten Wünschen und Bedürfnissen auseinandersetzen. Eine Reihe
von Denkern wie Ernst Fromm, Wilhelm Reich und andere versuchte deshalb, den
Marxismus als Theorie des Objektiven mit der Psychoanalyse als Theorie des
Subjektiven zu verbinden. Die philosophisch brillanteste Version eines solchen
Freudomarxismus gelang jedoch Herbert Marcuse 1955 in seinem Hauptwerk
‚Triebstruktur und Gesellschaft‘. Darin bürstete Marcuse die Psychoanalyse
gleichsam gegen den Strich. Er kritisierte ihren konservativen Zuschnitt und
ihre Blindheit gegenüber Gesellschaft und Geschichte.
Sprecherin:
Freuds
Grundaussage lautet: Kultur ist Triebverzicht. Das bedeutet, jede Art von
gesellschaftlicher Ordnung verlangt von ihren Individuen, daß sie ihre Triebwünsche
unterdrücken, deren Befriedigung aufschieben und libidinöse Energien in Arbeit
umwandeln. Der Einzelne muß seinen Lustanspruch dem Realitätsprinzip unterwerfen
- kurz: sich anpassen. Dagegen argumentiert Marcuse: Was Freud als ewiges
Realitätsprinzip darstelle, sei in Wahrheit nur eine historisch-vergängliche
Gestalt, es sei das Leistungsprinzip der modernen kapitalistischen
Gesellschaft. Aber der historische Fortschritt, der ungeheure Reichtum und die
technischen Möglichkeiten der Industriegesellschaft geböten nicht länger, daß
der Mensch all seine Kräfte und Fähigkeiten - Phantasie, Sinnlichkeit,
ästhetische Erfahrung – dem Überleben und der notwendigen Arbeit opfern müsse.
Das Leistungsprinzip sei eine zusätzliche Unterdrückung, die ihre historische
Berechtigung verloren habe.
Marcuse
sieht am historischen Horizont einen neuen Menschentypus heraufkommen, der sich
frei und selbstbestimmt entfaltet. Und eine neue ihm entsprechende Gesellschaft
sei keine ferne Utopie, sie schlummere vielmehr als unbefreite Alternative im
Innern der herrschenden Zerrgestalt.
Sprecher:
1955 hatte
das Buch ‚Triebstruktur und Gesellschaft‘ keinen Adressaten. Es trieb gleichsam
wie eine philosophische Flaschenpost über das Meer der Nachkriegsgeschichte, bis es von den 68ern gefunden und begierig
studiert wurde. Zum Beispiel von Bernd Rabehl, einem ehemaligen führenden
Mitglied im SDS, Freund und Weggefährte
Rudi Dutschkes. Rabehl, der heute an der Freien Universität Politikwissenschaft
lehrt, äußert sich rückblickend:
O-Ton, Bernd Rabehl:
‚Eros and
Civilisation‘ hieß das im Englischen, ‚Triebstruktur und Gesellschaft‘ im
Deutschen, ein furchtbarer Titel, Triebstruktur - ist ein Wort, das sozusagen
alles zuschüttet, was in diesem Buch steht. Dort haben wir uns sehr intensiv
mit auseinandergesetzt, weil für uns die Frage auftauchte: Was wollen wir
eigentlich? Was bedeutet Freiheit in der modernen kapitalistischen
Gesellschaft? Was heißt Entfremdung, und was heißt die Überwindung der
Entfremdung, der Verdinglichung? - Und hier hat Marcuse uns sehr viele Ideen
gegeben, vor allem für Experimente: Kommune, neues Leben, neuer Mensch, neue
Sensibilität, neue Bedürfnisse, neue Ziele, neue Interessen, all das - es war
ein sehr spekulatives Buch, aber auch ein sehr schönes Buch, was uns angeregt
hat, ... es immer wieder zu lesen und es immer wieder zu reflektieren.
Sprecherin:
Marcuses
erstes Hauptwerk war ein Aufbruchsbuch für die 68er: es ermunterte dazu, sich
aus einer repressiven Erziehung zu befreien, die eigenen Bedürfnisse und
verdrängten Wünsche wiederzuentdecken, neue Lebensformen auszuprobieren. Den
entfremdeten Menschen, wie ihn die bestehende Gesellschaft hervorbringt, stellt Marcuse in der mythologischen Figur
des Prometheus dar. Prometheus ist, so Marcuse wörtlich, „der Kulturheld der
Mühsal, der Produktivität und des Fortschritts durch Unterdrückung“, sein
Körper zählt nur als Arbeitsinstrument, sein Denken beschränkt sich auf
Zweckrationalität und Beherrschung der Natur. Diesem Promotheus hat Marcuse
Orpheus und Narziß als utopische Gegenbilder konfrontiert: Sie künden von
ungelebten und unterdrückten Seiten der
menschlichen Existenz. Orpheus verkörpert ein Dasein, das sich der Kunst und
dem Spiel zu öffnen vermag, dem eine Zwiesprache mit der Natur gelingt. Narziß
steht für befreite Sinnlichkeit, Kontemplation und Schönheit, für einen Eros,
der Sexualität nicht allein auf Fortpflanzung reduziert, sondern in ihrer ganzen
Fülle freigibt, d. h. konkret auch Homosexualität einschließt.
Sprecher:
Marcuses
Buch übt ebenso Kritik am zentralen Begriff der Philosophie, an der Idee der
Vernunft. Schon Horkheimer und Adorno und Horkheimer hatten in ihrer Dialektik
der Aufklärung behauptet, daß sich die Vernunft in einer verzerrten Gestalt als
instrumentelle Rationalität und als Herrschaftsdenken verwirklicht habe. Marcuse
teilt diese Kritik, aber wo die beiden anderen sich in der Bestimmung des Positiven
zurückhalten, formuliert Marcuse nochmals einen emphatischen Vernunftbegriff,
den er gegenüber der Tradition sogar noch erweitert. Wenn Vernunft nicht nur
ein Denken und Handeln nach Art des Prometheus meint, sondern durch die
Existenzweisen eines Orpheus und eines Narziß korrigiert und ergänzt wird, so bedeutet
dies letztlich: Verstand und Sinnlichkeit, Geist und Natur bilden keine unversöhnlichen
Gegensätze. Dem Menschen ist es möglich, Vernunft und Glück zu vereinen.
Mit diesem
spekulativen Entwurf, der selber noch einmal Aufklärung und Romantik zusammenbringt,
konstruiert Marcuse aber auch ein ungeheures Spannungsverhältnis zwischen der
schlechten Wirklichkeit und der ihr innewohnenden besseren Möglichkeit. Aufgabe
der Aufklärung zum einen und einer radikalen gesellschaftsverändernden Praxis
zum anderen wird es nun, die Kluft zwischen beiden zu überwinden. Marcuse warnt,
sich dabei von irgendeiner Revolutionsideologie mißbrauchen zu lassen.
O-Ton, Hauke Brunkhorst:
Eine
Botschaft von Marcuse, in vorsichtiger Form von Adorno ... ist immer gewesen,
und die ist 68 genau vernommen worden: Traut den Leuten nicht, die euch sagen:
‚Ihr sollt jetzt erst einmal 10 Jahre, 20 Jahre, hundert Jahre hungern, und
dann kriegt ihr die große Erfüllung.‘ Traut denen nicht, die euch sagen: ‚Ihr
müßt Opfer, Blut, Schweiß und Tränen liefern, damit dann später etwas aufgebaut
wird.‘ Die Versprechen vieler asketischer Revolutionäre, die wurden jetzt mit
großem Mißtrauen beobachtet. 68 war auch eine Art Aufstand gegen die immer noch
sehr starke protestantische Ethik und die Moral der Askese und des
Triebverzichts.
Sprecherin:
Während das
Buch Triebstruktur und Gesellschaft die Befreiungsmöglichkeiten begründete,
reflektierte das 1964 erschienene andere Hauptwerk Der Eindimensionale Mensch
die Hermetik des Gefängnisses. Das herrschende System - hierunter verstand
Marcuse im engeren Sinne immer die amerikanische Nachkriegsgesellschaft, im
weiteren den Spätkapitalisumus - ist ein Gefängnis mit doppelten Mauern. Den
äußeren Mauerring bilden die ökonomisch-politischen Verhältnisse der
spätkapitalistischen Gesellschaft. Aber ihr Geist ist in die Köpfe und Körper
eingedrungen und hat dort eine zweite innere Mauer errichtet. Die Menschen sind
vollkommen manipuliert: Die Gesetze des Konsums und der Güterwelt regieren ihre
Bedürfnisse, Werbung und Verwaltung haben mit ihren Jargons die Sprache okkupiert,
und das Denken wird eindimensional, es unterwirft sich der Logik eines technischen
Weltverhältnisses: Was kann man machen? Wie muß man es anstellen? Fragen der
Begründung und der moralischen Rechtfertigung jedoch werden zunehmend
ausgeblendet.
Sprecher:
Freiheit und
Individualität sind in der universellen Manipulation, in der – wie Adorno es
ausdrückte – verwalteten Welt
untergegangen. Der soziale Wandel ist blockiert. Ein totaler
Konformismus triumphiert und hat eine Welt ohne Alternativen entstehen lassen
und eine Gesellschaft ohne Opposition, sei sie politisch oder geistig gedacht.
Denn die Kritik von Künstlern und Intellektuellen wird von der Kulturindustrie
entweder ausgeschlossen oder aber vermarktet und auf diese Weise vom System
selbst wiederum vereinnahmt. Die Arbeiter, von Marx als systemüberwindende
Klasse gedacht, sind in Amerika durch Teilhabe an der Überflußproduktion längst
integriert. Deshalb, so Marcuses berühmte These, habe die Arbeiterklasse als
revolutionäres Subjekt abgedankt. Protest und Widerstand jedoch, die große
Weigerung, in diesem hermetischen System mitzuspielen, und ein Wille zur
radikalen Veränderung könne, wenn überhaupt, nur von den Menschen an den
Rändern des Systems erhofft werden, von Unterdrückten und Diskriminierten, von
sozialen Außenseitern aller Art, im Verein mit den ausgebeuteten Völkern der
Dritten Welt. Wolfgang Roth, Politikwissenschaftler in Marburg, erläutert
welche Hoffnungsträger von Protest und Widerstand Marcuse in den USA
identifiziert hat.
O-Ton, Roland Roth:
Die ersten
Schriften, in denen er sich explizit auf Protest bezieht, das ist vor allem
‚Der eindimensionale Mensch‘ in diesem berühmten Abschnitt, wo er, nachdem er
gezeigt hat, wie geschlossen das Universum weitgehend ist, der One Dimensional
Man, in all den Hinsichten die er beschrieben hat, dann zeigt, daß es gar nicht
sicher ist, daß es so geschlossen bleibt, daß es Risse hat, und daß sich schon
an den Rändern Gruppen auftun, ... und wenn ich mich richtig erinnere, erwähnt
er und deutet zumindest an, daß es die Gruppen der Schwarzen, Gruppen der
Frauen, Gruppen von Randständigen sind, die nicht so einbezogen sind in das
erfolgreiche Modell des Konsumierens-Arbeitens, die also nicht in jeder Form
integriert sind, und von denen noch am ehesten Widerständigkeit von ihm
erwartet wird. Und diese Gruppierungen geben ihm Hoffnung, daß seine Diagnose,
daß eben Protest und Widerspruch, gegen diese Art der Zurichtung, der Welt im
Prinzip möglich ist, daß es dafür subjektive Entsprechungen gibt, und daß diese
sich in diesen Bewegungen, Ansätzen zu Bewegungen bestärkt sehen.
Sprecherin:
Marcuse
stützte seine Theorie auf Erfahrungen im Amerika der fünfziger Jahre, hier
herrschte weit mehr soziale Unruhe, aber auch Aufsbruchsstimmung als im
muffig-restaurativen Klima der Adenauer-Ära in Deutschland. Es gab in den Vereinigten
Staaten zum einen die politische Bürgerrechtsbewegung, in der die Schwarzen
gegen ihre Diskriminierung kämpften, zum anderen die Jugendrevolte der
Beatgeneration. Jack Kerouac, William Burroughs und Allen Ginsberg hießen die
literarischen Stimmen einer aufbegehrenden Jugend, die nach neuen freieren
Lebensformen suchte.
Sprecher:
Marcuse
erhielt 1965 eine Professur für Philosophie an der Universität von Kalifornien,
wo die amerikanische Studentenrevolte ein Jahr zuvor ihren Ausgang nahm. Der
Rektor der Universität verweigerte dem Schwarzenführer Malcolm X das Rederecht.
Die Studenten in Berkeley waren empört. Genauso wie in Paris und in Berlin
handelte es sich zunächst um Konflikte im universitären Bereich, an denen sich
die Studentenrevolte entzündete. Aber die Kritik der Universität avancierte
sehr schnell zur Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse. Im Brennpunkt
aller Auseinandersetzungen stand der Krieg in Vietnam, er wurde für die rebellierende
Jugend zum Inbegriff der Gewalt eines kapitalistischen Systems, das hinter
seiner demokratischen Maske ein unmenschliches Gesicht verbirgt.
Sprecherin:
Mehr noch
als in anderen Ländern engagierten sich die revoltierenden Studenten in
Deutschland gegen den Krieg in Vietnam. Weite Teile der Bevölkerung haben dies
als revolutionsromantische Flucht aus der Wirklichkeit in ein weit entferntes
Land abgetan, mit dem weder sie selbst noch die Studenten etwas zu tun hätten.
Doch es gibt sehr starke moralische Motive, die mit der deutschen Geschichte
zusammenhingen, Motive, die freilich damals nicht ausreichend reflektiert
wurden, wie die Berliner Politikwissenschaftlerin Ines Lehmann, ehemalige
engagierte SDSlerin, rückblickend erläutert.
O-Ton, Ines Lehmann:
Warum die
deutsche Studentenschaft besonders auf Vietnam reagierte, neben der
amerikanischen am meisten. Das ist auch wiederum nicht sehr diskutiert worden,
alles ist ein bißchen auf der Ebene gehalten: Daß, wenn wir überhaupt etwas gelernt
haben konnten, in der Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Geschichte,
und in diesem Zusammenhang nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch im
Elternhaus, mit den Eltern, die sich zu dieser jüngsten Geschichte nicht
verhielten, so ... gab es nur eine einzige Chance, dieses Lernen auch zu
zeigen:
Wir
argumentierten gegen die Eltern: ‚warum habt ihr das getan?‘ - im Hinterkopf:
‚wir würden das nicht tun.‘ - Und das mußte man jetzt beweisen. - Warum? – Die
Amerikaner machten keinen Krieg gegen ein kleines Volk, sondern die Amerikaner
begingen einen Genozid, einen Völkermord an einem kleinen Volk, zwar weit weg,
aber an diesem Beispiel mußte man zeigen, was man den Eltern immer sagte: ‚Wenn
wir dabei gewesen wären, wären wir aber kritisch gewesen, wir hätten etwas
unternommen.' - Das war eine Chance zu zeigen, auch glaubwürdig zu zeigen, daß
man es ernst meinte. - Da liegt auch die Dimension der RAF-Gewalt darin: ‚es
ernst zu meinen‘, in den Untergrund zu gehen, zu kämpfen: ‚Jeder tote
Amerikaner ein guter Amerikaner.‘ - Das muß man schon in dem Kontext sehen, daß
die Befangenheit der deutschen Geschichte die theoretische Aneignung und die
politische Praxis sehr bestimmt hat.
Sprecher:
Vietnam
stellte gleichsam die moralische Prüfung für die deutsche Jugend dar. Hier
mußte sie sich und der Welt beweisen, daß sie im Gegensatz zu den Eltern bei einem
Völkermord nicht wiederum tatenlos zuschaute. Auch wenn man das Engagement
gegen den Vietnamkrieg nicht darauf reduzieren kann, so muß man es doch auf dem
Hintergrund der unbewältigten deutschen Vergangenheit sehen. Denn bis in die
sechziger Jahre hinein, im Grunde bis die 68er die Elterngeneration zur Rede
stellten, wurden die nationalsozialistischen Verbrechen in der Bundesrepublik
weitgehend totgeschwiegen und die Frage der Mitschuld verdrängt. Der moralische Rigorismus der 68er war
freilich selbst - wie man heute sieht - von jener Gewalt angesteckt, die er
aufdecken und bekämpfen wollte.
Sprecherin:
Bei den
ersten Demonstrationen und Aktionen gegen Einrichtungen der USA setzten die
Studenten recht harmlose Protestmittel ein -
Knallkörper, Rauchkerzen, Schweigemärsche, Sit-Ins - auf die ein ebenso
unsicherer wie autoritärer Staatsapparat oft nicht anders als mit brutalem
Polizeieinsatz zu reagieren wußte. Die Studenten waren in der Öffentlichkeit
isoliert. Selbst Denker der Linken hielten Distanz. Max Horkheimer kehrte
angesichts von Vietnamkriegs-Protesten immer den dankbaren Emigranten hervor
und beeilte sich seine Loyalität gegenüber Amerika zu beteuern. Adorno verschanzte
sich in der theoretischen Arbeit, wenn seine Studenten ihn zu eindeutigen
politischen Stellungnahmen zu drängen versuchten. Allein Herbert Marcuse solidarisierte sich bei seinen vereinzelten,
aber regelmäßigen Deutschland-Besuchen offen mit den rebellierenden Studenten.
Dazu Ines Lehmann:
O-Ton, Ines Lehmann:
Schon 1966
war Marcuse zum Vietnam-Kongreß nach Frankfurt geholt worden ... Marcuse
stellte sich immer sehr schnell auf unsere Seite, allerdings auch aus einem
sehr pragmatischen Grund: er kam ja aus Amerika, er kam mit den Erfahrungen der
Anti-Vietnam-Demonstrationen, den Civil-rights-movements, den
antirassistischen, den demokratischen, den Student-movements und ihren
Kampfformen wie Picketing-line, wie Sit-ins, wie Teach-ins, das kam alles aus
Amerika, das kam nicht nur über Marcuse, aber wesentlich über Marcuse, er
erzählte das öffentlich und er erzählte das auch privat, denn solche Kongresse
werden immer aus- und eingeleitet, man holt jemanden ab, man hat ein Abendessen
usw und so fort. Und Marcuse galt als jemand, auf den man sich verlassen
konnte, wenn es nicht nur um eine Analyse der Gesellschaft, sondern wo es um
Verständnis für unsere Kämpfe ging, er brachte neue Erfahrungen, er vertrat
insofern eine Form von Internationalismus, weil sein Ziel immer war, daß wir
zusammengehen, die internationale Studentenbewegung war sein Ziel, er war
früher auch in Paris, fuhr nach Italien, sprach dort, er war bei den
Philosophiekongressen in Korcula (Jugoslawien)
- das war ein Umfeld, was man sich heute nicht vorstellen kann, nicht
ein paar Berliner Studenten sind durchgedreht, sondern ab 1966 ... dann 68/69 sind überall Prozesse passiert.
Sprecher:
In
Deutschland eskalierte die Situation, als am Abend des 2. Juni 1967 in Berlin
nach Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei der 26jährige Germanistikstudent
Benno Ohnesorg auf einem Parkhof von dem Kriminaloberkommissar Kurras von
hinten erschossen wurde. Die Polizei versuchte den Todesfall zunächst zu
vertuschen, über Wochen blieb der Polizist unbehelligt in Freiheit, während andrerseits der
Kommunarde Fritz Teufel unter dem Vorwurf des Landfriedensbruchs in
Untersuchungshaft saß. Eine Welle der Empörung und Bestürzung ging durch die
deutschen Hochschulen. Aber die Studenten blieben in der Öffentlichkeit isoliert. Adorno eröffnete ein
Proseminar mit der Bemerkung: Die Studenten haben ein wenig die Rolle der Juden
übernommen.‘ .
Sprecherin:
Auf dem
Kongreß ‚Hochschule und Demokratie‘ eine Woche nach Ohnesorgs Tod kam es zu
einer scharfen Kontroverse zwischen den Studentenführern Rudi Dutschke und
Hans-Jürgen Krahl auf der einen, und dem damals jungen Hochschullehrer Jürgen
Habermas in der Frage, welche Widerstandsformen in der BRD angemessen und
legitim seien. Habermas warf den Studenten Aktionismus vor und schließlich
sogar – Gewalt befürchtend – sprach er von Linksfaschismus.
Sprecher:
Ratlos in
ihrer Isolation luden die Studenten im Juli 1967 Herbert Marcuse zu einem
großen viertägigen Kongreß nach Berlin ein. Der Kongreß trug den Titel ‚Das
Ende der Utopie‘ – allerdings in einem, dem landläufigen Verständnis genau entgegengesetzten
Sinn: Zuende sei die Utopie deshalb, weil die Stunde ihrer Einlösung längst
geschlagen habe, weil ihre Verwirklichung historisch überfällig sei. Marcuse beschloß
einen seiner Vorträge mit dem Aufruf zu einer Aufklärungsarbeit, die eine
radikale Kampfansage an das herrschende Gesellschaftssystem darstellte.
O-Ton, Herbert Marcuse:
Die
Befreiung des Bewußtseins, von der ich gesprochen habe, meint nun mehr als
Diskussion. Sie meint in der Tat und muß in der erreichten Situation meinen - Demonstration.
Das heißt im wörtlichen Sinne: zeigen, daß hier der ganze Mensch mitgeht und
seinen Willen zum Leben anmeldet. Seinen Willen zum Leben, das heißt seinen
Willen zum Leben in Frieden. Und wenn das alles doch nicht hilft, wenn es für
uns schädlich ist, Illusionen zu haben, so ist es ebenso schädlich, und
vielleicht schädlicher, Defaitismus und Quietismus zu predigen, die nur dem System
in die Hände spielen können. Tatsache ist, daß wir uns einem System gegenüber
befinden, das seit dem Beginn der faschistischen Periode und heute noch durch
seine Taten die Idee des geschichtlichen Fortschritts selbst desavouiert hat.
Ein System, dessen innere Widersprüche sich immer von neuem in unmenschlichen
und unnötigen Kriegen manifestieren und dessen wachsende Produktivität wachsende
Zerstörung und wachsende Verschwendung ist. Ein solches System, das glaube ich,
ist nicht immun. Es wehrt sich bereits gegen die Opposition, selbst gegen die
Opposition der Intelligenz, an allen Ecken der Welt. Und selbst wenn wir nicht
sehen, daß die Opposition hilft, müssen wir weitermachen, wenn wir noch als
Menschen arbeiten und glücklich sein wollen - und im Bündnis mit dem System
können wir das nicht mehr.'
Sprecherin:
Marcuse
forderte, daß die Studenten die Arbeit der Aufklärung und Bewußtmachung an sich
selber leisten und in die Gesellschaft hineintragen. Die Befreiung des
Bewußtseins soll nicht nur diskutiert, sondern demonstriert werden. Demonstrieren
meinte Marcuse dabei in einem emphatischen Wortsinn: d.h. eine Kritik nicht nur
verbal zu vertreten oder auf einer politischen Veranstaltung kundzutun, sondern
in seinem ganzen Verhalten dafür einzustehen, mit einem Wort: die Kritik zu
leben. Hier wurde der starke existentialistische Zug in seinem Denken manifest,
der ihn von den anderen Vertretern der Frankfurter Schule unterschied und ihn
nicht zufällig in die Nähe des existenzialistischen und marxistischen
Philosophen Jean Paul Sartre rückte, der ebenfalls die Studentenrevolte
unterstützte.
Sprecher:
Marcuse
schlug eine Brücke von der Theorie zur Praxis: Die Befreiung sei trotz der
übermächtigen Verhältnisse prinzipiell möglich, wenn Individuen sich entschließen,
die Geschichte, d.h. ihre Geschichte, selbst zu gestalten. Aber welche
Formen der Praxis waren richtig? Welche Widerstands- und Protestformen waren
akzeptabel und der politischen Situation angemessen? Darauf gab Marcuse keine
konkrete Antwort. Als die anschließende Diskussion diesen Punkt erreichte,
griff Rudi Dutschke ein, um die Leerstelle der Theorie mit den aktionistischen
Vorstellungen des SDS auszufüllen.
O-Ton, Rudi Dutschke:
Wenn wir
davon ausgehen, daß wir in dieser Stadt schon durchaus als eine ernst zu
nehmende Potenz der Veränderung gesehen werden von den Herrschenden, liegt es
an uns, die Organisierung der außerparlamentarischen Opposition jetzt so fortzusetzen,
daß das, was Prof. Marcuse die Vorbereitungsorganisation genannt hat, daß die
studentische Opposition den Hof der Universität - diese zwar historisch
richtige Isolation, aber jetzt, wenn sie, Isolation bleibt: selbstverschuldete
Isolation - zu durchbrechen und den Weg in die Stadt zu finden sucht. - Wir
haben es einmal ganz kurz begonnen. Die nächste wichtige Etappe in der
Überwindung unserer jetzigen Isolation wäre die Enteignung des
Springer-Konzerns.
Sprecherin:
Der
Axel-Springer-Konzern hatte mit seiner Meinungsmacht in üblen Diffamierungskampagnen
die politischen Ideen genauso wie die Persönlichkeiten der Außerparlamentarischen
Opposition attackiert. Als Rudi Dutschke am 11. April von einem durch die
Boulevardpresse aufgehetzten Arbeiter niedergeschossen wurde, kam es zu den
schwersten Unruhen. Studenten belagerten die Berliner und Hamburger
Verlagsgebäude von Springer und suchten
die Auslieferung der Zeitungen gewaltsam zu verhindern. In Straßenschlachten
wurden etwa 400 Demonstranten und 54 Polizisten verletzt. Das Thema der Gewalt
in der Opposition geriet zur entscheidenden Frage. Schon nach dem Attentat auf
Benno Ohnesorg hatte Habermas versucht, den Protestformen der Studenten eine
enge rechtstaatliche Grenze zu ziehen, und auf die linksfaschistische Gefahr in
ihrem Aktionismus hingewiesen.
Sprecher:
Herbert
Marcuse dagegen legitimierte auf dem Kongreß ‚Das Ende der Utopie‘ das
Widerstandsrecht als ein Naturrecht wie schon in seinem Aufsatz von 1966, wo er
schrieb: „Ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten
eine Naturrecht auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald
die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben.“ Ohne daß Marcuse
damit direkt der Gewalt das Wort geredet habe, hätte er es versäumt - so
kritisiert Ines Lehmann rückblickend - seine Position gegenüber möglichen oder
gewollten Mißverständnisssen zu vereindeutigen.
O-Ton, Ines Lehmann:
Ich meine,
da muß man Herbert Marcuse in seiner Lebenserfahrung das Recht haben, ihm
Konkretion abzuverlangen, wo er - das ist meine These - versagt hat: Jemand in
seinem Alter muß wissen, daß die Worte, wenn sie in der Allgemeinheit bleiben,
nicht auf demselben Niveau verstanden werden, wie sie ausgesprochen werden.
Ich bin,
wenn ich so auftrete wie Herbert Marcuse, verantwortlich, mir zu überlegen, wer
mir zuhört, unter welchem Druck mein Zuhörer steht, und wie man Zuhörer mich
verstehen kann. Das gilt für jeden öffentlichen Redner. Damit meine ich, als
Herbert Marcuse hierher kam und mit der theoretischen Spitze des SDS in kurzen
Gesprächen diskutierte, mußte er annehmen können, daß das nicht die Zuhörerschaft
insgesamt betraf. Er mußte wissen, daß wenn man in Fragen der Opposition, des
Widerstands, der totalen Opposition - Begriffe wie diese sind gängig auf diesem
Kongreß - mußte er wissen, daß ihm Menschen zuhören, die das sehr anders,
kurzfristig sehr anders sehen, als er das vielleicht meint, und da wo er
unsicher bleibt, wird er nicht in der Unsicherheit nachvollzogen, sondern er
wird in der vereinfachten Gewaltinterpretation aufgenommen. ... Das sehe ich
heute sehr kritisch, daß Herbert Marcuse den Konflikt, in dem sich die
Westberliner und bundesdeutsche Opposition damals befand, der Druck in den
Köpfen des Nazi-Regimes, der Versuch wiedergutzumachen, die maßlose Staatsreaktion auf die ersten
Oppositionsanfänge, die Reste des deutschen Charakters, der autoritäre, der zur
Gewalt tendierende, der emotional unausgeglichene, fanatisierte - das mußte ich
Herbert Marcuse als kritischem Theoretiker abverlangen, nachträglich sage ich
das. Das sage ich nicht nur von Herbert Marcuse, von jedem sage ich das, das
meine ich auch von Rudi Dutschke, von
Bernd Rabehl, und vor allen Dingen auch von mir selber.
Sprecherin:
Studentenbewegung
und APO entwickelten eine Fülle von neuen, in ihren Provokationen
überrraschenden Aktionsformen, viele waren der Hippie-Bewegung und den
Antirassismus-Kampagnen in den USA entlehnt. Das Spektrum reichte von
harmlosen antiautoritären Aktionen, der sogenannten Spaßguerilla, von Sit-Ins und Straßentheater über
Institutsbesetzungen und Massendemonstrationen bis hin zu gewalttätigen Straßenschlachten.
Je klarer sich allerdings herausstellte, daß die Solidarität in der
Öffentlichkeit ausblieb, desto blinder und unverantwortlicher entwickelte sich
der Aktionismus mancher Gruppen.
Um gegen die
Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber den Morden in Vietnam zu
protestieren, - wie sie selbst erklärten, legten Andreas Baader, Gudrun Ensslin
und Thorwald Proll in der Nacht zum 3. April 1968 Brandsätze in zwei
Frankfurter Kaufhäusern. Es war das Vorspiel der späteren RAF.
Sprecher:
In den eigenen
Reihen gerieten jene ins Hintertreffen, die sich dem Schwarz-Weiß-Denken
versagten und sich eine geistige Auseinandersetzung mit der bestehenden
Gesellschaft weiterhin abverlangten. Im März 1969 drangen Mitglieder der aktionistischen
Lederjackenfraktion des SDS in eine Wohngemeinschaft ein, demolierten das
Zimmer eines Philosophiestudenten aus dem Umkreis des SDS-Intellektuellen
Hans-Jürgen-Krahl und schmierten die Parole an die Wand: ‚Ins KZ mit dem Pack
der Intellektuellen‘. Unbewältigte deutsche Geschiche kommt in der Studentenbewegung
empor: Wiederkehr des Verdrängten. Trotzdem ist es kurzschlüssig anzunehmen,
daß ein gerader und notwendiger Weg von der Studentenbewegung zur RAF wies.
Marcuse ist
einer Flucht in den Terror eindeutig entgegengetreten, einem Terror, für den
ihn manche Medien kurzerhand verantwortlich machen wollten. Anders als Sartre
besuchte Marcuse die RAF-Häftlinge in Stammheim nicht, er diskutierte nicht mit
jenen, die aufgehört hatten zu diskutieren. Als ihn Ulrich Wickert 1975 in
einem Interview zur Bewertung der RAF aufforderte, antwortete er:
O-Ton, Herbert Marcuse:
Subjektiv
ist anzunehmen, daß sie ihre Aktion für eine politische Aktion halten und
gehalten haben, objektiv ist das nicht der Fall: Wenn politische Aktion willentlich
zum Opfer von Unschuldigen führt, dann ist das genau der Punkt, wo politische,
subjektiv politische Aktion in Verbrechen umschlägt.
Sprecherin:
Die RAF war
einer der Ausläufer von Studentenbewegung und Außerparlamentarischer
Opposition, die beide 1969 niedergingen und sehr schnell zerfielen. Die Außerparlamentarische
Opposition war im Grunde schon 1968 gescheitert, als es ihr nicht gelang, die
Bevölkerung gegen eine Verabschiedung der Notstandsgesetze zu mobilisieren. Die
APO hatte sich in der Annahme einer revolutionären Lage völlig verschätzt, eine
war Fehleinschätzung die dem Wunsch nach eigener historischer Mission
entsprang, nicht aber einer Analyse der Wirklichkeit. Die APO besaß sehr
unterschiedliche Nachfolger. Einen Teil der Bewegung konnte Willy Brandt 1969
für seinen Aufbruch ‚Mehr Demokratie wagen‘ zurückgewinnen, andere organisierten
sich in kommunistischen Kaderorganisationen und lieferten eine groteske
Neuauflage der 30er Jahre, die im Sektierertum endete. Die bedeutendste Nachfolge
jedoch bildete zweifellos die Frauenbewegung. die dann die 70er Jahre dominierte.
Sprecher:
Trotz ihres
politischen Scheiterns hat die Studentenbewegung das Gesicht der Bundesrepublik
Deutschland entscheidend verändert . Wie eine große Zäsur trennen die Ereignisse
der Jahre 1966 bis 69 eine autoritäre, noch obrigkeitsstaatlich geprägte Adenauer-Ära
von einer zweiten Phase, deren Klima deutlich liberaler geworden ist, nicht nur
in der politische Öffentlichkeit und in den Institutionen, sondern auch im
sozialen Alltag. Auch wenn die große Verweigerung, die Marcuse entwarf, nicht gelang,
so hat die Studentenbewegung doch zu sehr viele kleinen Verweigerungen angestiftet,
die eine Entkrampfung, Liberalisierung und Demokratisierung des Lebens in der
Bundesrepublik Deutschland bewirkt haben. Rabehl allerdings widerspricht dieser
These vom erfolgreichen Demokratisierungsschub durch die 68er.
O-Ton, Bernd Rabehl:
Das, was wir
uns anheften, bessere Schulerziehung, andere Universitäten, anderer Rundfunk,
anderes Fernsehen, das wage ich zu bezweifeln. Der moderne Kapitalismus braucht
einen anderen Menschen, der braucht eine andere Mentalität, im Grunde hat der
moderne Kapitalismus in Deutschland sich erst durchgesetzt als der Marketing-, nicht der Rüstungskapitalismus in den 50er und
60er Jahren in Deutschland. Wo sie sich auf dem Weltmarkt bewähren müssen, wo
sie ihre Volkswagen in alle Welt verkaufen müssen, aber Preise und Qualität
garantieren müssen und sie brauchen auch einen neuen Menschen, einen Arbeiter,
der ein jobmäßiges Verständnis hat, und vor allem einen neuen Konsumenten, den
es auch nicht gegeben hat. Denken wir einmal daran, wie unsere Großmütter die
Kühlschränke bewahrt haben, wem sie überhaupt einen hatten. - Das bricht alles
durch, wie gesagt, ich will unsere Rolle nicht in Abrede stellen, ich will
nicht sagen, daß wir vollkommen sinnlos waren, aber was man uns andichtet, vor
allem von konservativer Seite, wir sind schuld an dem Zerfall, oder unsere
Leute, ‚guckt doch mal, wie schön wir diese Republik gestaltet haben‘, - das ist illusionär, man muß es gebrochen
sehen, politisch jedenfalls haben wir eine Niederlage erlitten, wir haben an
keinem Punkt, unsere Ziele durchgesetzt: es gibt weder die neue Universität,
wie wir sie uns vorgestellt haben, noch die neue Schule, die neue Demokratie,
wie wir sie uns vorgestellt haben, damals Rätedemokratie, noch eine
Demokratisierung der Parteien, im Grunde ist die Kritik die wir damals an den
Parteien, am Staat, am Parlamentarismus, an den politischen Zuständen 67/68
geäußert haben, so aktuell wie noch nie - da hat sich nichts geändert, von
daher sind wir gescheitert, aber ansonsten sind wir natürlich Produkt der
Geschichte, und durch uns hat sich Geschichte verdeutlicht und erklärt.
Sprecherin:
Nach dem
Ende der Studentenbewegung, in den siebziger Jahren ging der Zeitgeist auf
Distanz zu Herbert Marcuse und seinem Werk. Wolfgang Kraushaar, der in diesem
Jahr eine umfassende dreibändige Dokumentation mit dem Titel ‚Frankfurter
Schule und Studentenbewegung‘ herausgegeben hat, bilanziert treffend: ‚So wie
Marcuse auf dem Höhepunkt der Revolte zur Vaterfigur stilisiert und in den Himmel
gehoben wurde, so ist er anschließend herabgesetzt worden. Weil er sich nicht
gescheut hat, sich öffentlich mit dem Aufbruch von 67/68 zu solidarisieren, ist
im Nachhinein sein ganzes Werk mit dem Niedergang der Bewegung identifiziert
worden.‘ Man hat ein umfassendes
theoretisches Werk einfach fallengelassen. – Heute stellt sich die Frage: Soll
es man es tatsächlich im historischen Abseits liegenlassen? Oder verdient
Marcuse eine neue Rezeption?
O-Ton, Roland Roth:
Ich hatte
eine interessante Debatte genau zu dieser Frage, mit den Studenten und
Studentinnen in Kalifornien, und wir stellten uns die Frage, was ist denn noch
aktuell an dieser Konsum- und Kulturkritik, und wir kamen fast übereinstimmend
zu dem Ergebnis, sie ist aktueller denn je, weil das, was sich etwa als
Shopping-More-Kultur in den USA entwickelt, und die moderne Art zu leben in den
USA heute repräsentiert, das, was Marcuse damals noch darstellen konnte, bei
weitem in den Schatten stellte. Es ist um drei Spiralen angezogen worden, so
daß man den Eindruck hat, daß der Alltag in den USA in der Tat darin besteht,
möglichst viel zu arbeiten, um möglichst viel Konsumchancen zu eröffnen und die
Zeit dann damit zu verbringen, diese Konsumchancen einzulösen, aber als
gesellschaftliche Musts, als Zwänge. Wir sehen jetzt, daß sogar jeder Feiertag
als Shopping-Holiday behandelt wird, und bis hin zu der Perversion, daß z. B.
an dem Tag, wo die drei berühmtesten Präsidenten der Vereinigten Staaten
gefeiert werden als Three-Presidents-Shopping-Holiday gefeiert wird, und jeder
dieser Shopping-Holidays, auch Weihnachten läuft in diesem Sinne als
Shopping-Holiday, ... daß die Menschen alle Zeit darauf ausrichten, ihre Tage,
ihr Leben mit Arbeit auszurichten, um Konsumchancen zu eröffnen, um umgekehrt,
also diesen Zirkel zu spielen, plus ein wenig Familie als letzte Instanz, die
das zusammenhält, was dort in Reinkultur gelebt wird. Und von daher gingen die
Studenten davon, daß es eigentlich eine Revitalisierung der Marcuse-Lektüre
geben müßte, daß eine Erneuerung der Marcuse-Rezeption kommen müßte auf Grund
dieser neueren kompakteren Art zu leben.
Sprecher:
Der Ökonomismus
des 20. Jahrhunderts, der die westlichen Demokratien beherrscht, ist nach dem
Bankrott der Alternative, nach Ende des Sozialismus, keineswegs unumstritten,
sondern gibt drängende Probleme auf. Hauke Brunkhorst wünscht Marcuse deshalb
ebenfalls eine neue Rezeption. Er differenziert allerdings in der Bewertung der
Theorie der eindimensionalen Gesellschaft. Auf der einen Seite habe Marcuse in
seinem Werk sehr genau die Probleme der modernen Gesellschaft und ihre subtilen
Manipulationsmechanismen aufgedeckt, auf der anderen Seite habe er jedoch die demokratische
Frage vernachlässigt.
O-Ton, Hauke Brunkhorst:
Marcuse ...
war zwar der Meinung, daß die Demokratie besser ist, als der Faschismus, aber
in der Theorie merkt man von dem Unterschied fast gar nichts, die Theorie der
eindimensionalen Gesellschaft die gilt für Hitler und Stalin genauso wie für
Roosevelt und Adenauer oder welches Regime auch immer, in der Praxis haben sie
große Unterschiede gemacht, aber die Theorie, die Horkheimer, Adorno und Marcuse
entwickelt haben, ist für diese Unterschiede relativ unsensibel. Und von daher
entsteht das Bild einer Gesellschaft, in der immer weniger Vernunft da ist, in
der die Vernunft immer irrationaler wird, in der die Glücks- und
Freiheitsmöglichkeiten immer mehr reduziert werden, und nur als bloße
Möglichkeit ist dann das ganz Andere noch vorhanden, aber nicht mehr als
Wirklichkeit, und an der Stelle sollte man vielleicht auch differenzieren und
versuchen eine Theorie zu bauen, die sensibler für die gewaltigen Unterschiede
ist zwischen repressiven demokratischen Regimes und repressiven totalitären und
faschistischen Regimes.
Sprecherin:
Herbert
Marcuse ist 1979 in Starnberg verstorben. In den siebziger Jahren hat er sich
wie in den dreißigern mit der Frage der Kunst auseinandergesetzt, Kunst nicht
nur als Palliativ, das eine schlechte Welt ertragen hilft, sondern als
Vorschein einer besseren Wirklichkeit, Kunst die davon kündet, was möglich ist.
Auf diese Möglichkeiten insistierte Marcuse. Ihm schwebte nicht das romantische
Bild der großen Revolution vor, auch wenn sein Vokabular manchmal diesen
falschen Eindruck nährt. Marcuse war ein Denker, der auf radikale Veränderung,
auf Befreiung sann: Freiheit für die Unterdrückten in der Gesellschaft: die
Frauen, die Homosexuellen, die rassischen Minderheiten, die Ausgebeuteten der
Dritten Welt. Freiheit auch für die unterdrückten Seiten im Menschen selbst:
die Phantasie, die Sinnlichkeit, die Erotik nach 2000 Jahren diffamierter
Leiblichkeit. Freiheit schließlich auch für ihn persönlich. Ohne den Revoltierenden seine Solidarität zu
versagen, hat er sich gleichwohl seine Eigenständigkeit als Denker niemals abhandeln
lassen.
O-Ton, Roland Roth:
Für mich ist
das Beispiel, um anzudeuten, wie er gegen Zeitgeist angeht, auch in den
Revolten selbst, wie er sie selbst kritisiert, wie er versucht, sie zu
beeinflussen in diesem Marcuseschen Sinne, etwa das Beispiel Vietnam-Kongreß,
seine große Rede, womit endet sie. Sie endet nicht mit der Begeisterung für den
Vietkong und den heldenhaften militärischen Widerstand, sondern sie endet mit
einem Beispiel, daß er gelesen habe, daß es in Hanoi Parkbänke gebe, die nur
für zwei gemacht seien. Und diese Vorstellung, daß es das in Hanoi gebe –
Parkbänke nur für zwei – diese Form von Intimität, Zweisamkeit und Glück – das
ist für ihn die Vision einer befreiten Gesellschaft.