1.Sprecher:
"Melancholie - Momente eines Zeitgefühls", diesen Titel gab die Schweizer Kulturzeitschrift "Du" ihrem letzten Novem­berheft. Und "Psychologie heute" behauptet in ihrer dies­jährigen Mainummer, daß die jetzt in der Mitte ihres Lebens stehende Gene­ra­tion eine melan­cholische sei. In den beiden letzten Jahren ist eine ganze Reihe von Büchern erschienen zum Thema Melancholie. Auf den ersten Blick verwundert die neue Attraktivität des schwer­müti­gen Weltgefühls. Gab sich die Postmoderne doch bisher be­tont unbe­küm­mert und hei­ter, - als ein unernst gestimmter Zeit­geist, der leicht­füßig ge­wor­den ist, weil er die Bürde der Erinnerung und den Ballast ge­dankenschweren Tiefsinns abge­worfen hat. Aber neben der post­moder­nen Lust und Leichtigkeit, neben diesem Spielbein so­zu­sa­gen, gibt es wohl auch ein Stand­bein, das in der Melancholie sei­nen Schwer­punkt sucht.
Natürlich ist ein aktuelles Zeitgefühl im Entstehen zumeist dif­fus, es sucht Anknüpfungspunkte in der Geschichte, an denen es ein eigenes Selbstverständnis ausbilden kann. Anfang diesen Jahres ist von Hartmut Böhme eine Neuin­terpretation erschienen von Albrecht Dürers "Melencolia I". Dürers Kupferstich ist die berühmteste künstlerische Dar­stel­lung, die sich mit der Melan­cholie ausei­nan­dersetzt. 1514, an der Schwel­­­le zur Neuzeit ent­standen, ent­faltet das Bild zu­gleich we­sent­­liche Aspekte neuzeitlicher Subjektivität.
2.Sprecher:
Im Bildvordergrund sitzt ein weiblicher Engel, er verkörpert die Melancholie: den Kopf nachdenklich in die Hand gestützt, den wa­chen Blick sinnend in eine gegenstandlose Ferne gerich­tet. Daneben hockt ein Putto auf einem Mühlstein und kritzelt etwas auf eine Tafel, was er gleichzeitig mit der anderen Hand verdeckt. Zu Füßen der Melancholie liegt zusammengerollt ein dösender Hund. Der schlä­­­f­rige Hund symbolisiert eine bewußt­lose Animalität, der Putto steht für rastlose Tätigkeit und blinden Wissensdrang, der melan­cholische Engel dagegen scheint innezuhalten - allerlei Bau- und Meßwerkzeug liegt um ihn he­rum - und nachzudenken über die Gren­zen und Möglichkeiten menschlichen Wissens und Könnens, nach­zudenken über den Kosmos und die Stellung des Menschen darin. Im Hintergrund links sieht man eine ferne Stadt am Meer, auf die vom Himmel herab gera­de­­­wegs ein Komet zurast. Der Komet ist ein Vorzeichen der Apoka­lyp­se, er demon­striert aber auch die Unbegreiflichkeit der Natur, die ungeheure Fremdheit der Welt, der der Mensch ausgesetzt ist. Das Bild ent­hält darüberhinaus eine Fülle wei­terer Details mit geradezu endlos scheinenden philoso­phi­schen, religiösen, naturwissenschaft­ichen, medizinischen und zeitge­schichtlichen Be­zü­gen.
Der Interpret, so die frappierende These Böhmes, durchlebt in sei­nen immer neuen, nie abschließbaren Deutungsanstren­gungen ge­nau je­­­­ne melancholische Erfahrung, die im Bild selbst dar­gestellt ist: Die Bedeutung der Zeichen ist problematisch ge­worden, ein Sinn­gan­zes scheint nicht mehr möglich. Das ist kennzeichnend für das Le­bens­gefühl der anbrechenden Neuzeit, das ist ein Grund für Melan­cho­lie auch heute.
1.Sprecher:
Das Wort "Melancholie" bedeutet "Schwarzgalligkeit": Die im Körper zurückgehaltene grüne Galle dickt ein, wird schwarz und behindert die Verdauung. Schon in der Antike brachte man die­sen Körpervor­gang in eine Verbindung mit einer seelischen Haltung. Denn Melan­cholie ist ein Rückzug nach innen, ein Vorbehalt gegen die Welt, etwas kommt nicht heraus, macht einen schwer, - schwermütig.
Der psychotherapeutische Blick der Moderne macht einen Un­ter­schied zwi­schen Melancholie, Depression und Trauer. Während die Trauer in der Verarbeitung eines Verlustes zu einem Ende kommt und deshalb als normal gilt, breitet sich in der Depres­sion Niedergeschlagenheit im Subjekt unüberwindbar aus. Die Me­lan­cholie hingegen verhilft der Depression zum Selbstaus­druck. Sie verhindert ein Versinken in Krankeit, indem sie der Ver­lusterfahrung Erkenntnis und Kreati­vi­tät abgewinnt.
Rudolf Heinz, Philosoph und Psychoanalytiker, ist seit län­gerem mit der Entwicklung einer Konzeption beschäftigt, die den Erkennt­nis­wert von Krankheit zum Thema hat.
O-Ton (Heinz):
"Depression, das wäre eindeutig (...) Pathologie, Krankheit; wo­hin­gegen Melancholie so etwas wie ein Zwischenwert zwischen der normalen Trauer und der Depression wäre, ein Zwischenwert derge­stalt, daß vielleicht von der Melancholie die stärksten Zu­mutungen ausgehen, was an diesem Zwischenwert liegen mag. (...) Der Welt­bezug des Melancholikers ist ein solcher der radikalen Inkorpora­tion, des radikalen Narzißmus (...), ein Weltbezug der restlosen Inkorporation dergestalt, (...) daß auf der gründlichen Beseitigung alles Anderen, jedes Anderen, die Strafe auf dem Fuße folgt, daß dann derjenige, der so mit Stumpf und Stiel alles Andere, alle Anderen aufgefressen hat, zu diesem Anderen selber wird."
2.Sprecher:
Die Melancholie reagiert auf eine Verlusterfahrung, doch weiß das Individuum nicht genau, was es verloren hat. Es erlebt einen Ob­jekt­verlust als Ichverlust, als Ichverarmung, sagt Sigmund Freud, weil sein Bezug zum Anderen zu nah war, nämlich ihn ein­ver­leibend, inkorporierend. Damit wird das Ich in sich selbst das Verlorene, weil es sich mit dem verlorenen Anderen vorweg schon ineinsgesetzt hat. "Der Schatten des Objekts fällt auf das Ich", schreibt Freud, das Ich wird vom Objekt aufgezehrt. Wenn dies nicht in Depression führt, sondern gleichsam aufgehalten wird als Melancholie, ent­wickeln sich Symptome, die wohl keiner so weit­schweifig und trotzdem kurz­weilig beschrieben hat wie Robert Burton 1621 in seiner "Anatomie der Melancholie":  
1.Sprecher:
"Taedium vitae, Lebensüberdruß also, ist folglich ein gene­relles Symptom, denn die Tage verstreichen [den Melan­cho­li­kern] lang­sam und freudlos, und sie verlieren bald das In­te­resse an allen Din­gen. Jetzt säumen sie, dann sputen sie sich, kaum im Bett, er­heben sie sich wieder, kaum auf den Beinen, be­geben sie sich zur Ruhe, jetzt sind sie wohlgemut, schon schlägt ihre Stimmung um, erst gefällt ihnen alles, dann er­regt es allmählich immer mehr ihr Miß­fallen, bis sie des Gan­zen überdrüssig sind; einmal möchten sie leben, dann wieder tot sein, (...) aber meistenteils scheint ihnen das Leben nicht lebenswert. (...) Sie wollen nicht weiterexistie­ren und können doch nicht sterben, deshalb beklagen sie sich, (...) ein elendes Dasein zu fristen. (...) Kaum haben sie nach schrecklichen und bedrückenden Träumen die Augen aufge­schla­gen, schon steigen ihnen die Seufzer aus dem schweren Herzen, ständig ärgern und härmen sie sich, seufzen, klagen, finden an allem etwas auszusetzen, murren, grollen, weinen, quälen sich selbst, hängen ihren ruhelosen Gedanken nach, die mißmu­tig um ihr eigenes oder um fremdes Geschick oder um vergangene, ge­gen­wärtige und zukünftige Dinge kreisen, die sie nichts an­gehen..." 
2.Sprecher:
Robert Burton, ein melancholischer Bücherwurm, hat eine unü­ber­seh­bare Fülle von Literatur über die Melancholie verarbei­tet und mit seinem Buch ein beeindruckendes Kompendium seiner Gelehrsamkeit geschaffen. In manischer Besessenheit immer wie­der überarbeitet, wuchs es allmählich auf über 1300 Seiten an.
"Ich habe über die Melancholie geschrieben, um sie mir mit die­ser Unternehmung vom Leibe zu halten", bekennt er in seiner Vorrede.
Nun ist dieses Werk wiederentdeckt worden. Es liegt seit letz­tem Jahr in zwei Teilübersetzungen vor, die ohne Kenntnis vonei­nander fast gleichzeitig in Angriff genommen wurden: die eine von Werner von Koppenfels, die andere von Ulrich Horstmann. Ein zeitliches Zusam­mentreffen, das mehr als nur Zufall zu sein scheint.
1985 erschien von Ulrich Horstmann ein engagierter Essay:  "Der lange Schatten der Melancholie. Versuch über ein ange­schwärztes Lebensgefühl", - womit er sich selbst als Melan­choliker auswies.
O-Ton (Horstmann):
"... ich meine,  (...), daß Melancholie eine Grenzer­fah­rung ist, nämlich die Erfahrung, daß nicht alles machbar ist, daß sehr vieles von dem, was wir in Angriff nehmen, sehr viel an­ders endet, als wir wollten. Und daß diese Ohnmachts­erfahrung, wenn man sie sich eingesteht, eigentlich das Substrat von Me­lan­cholie ist.
Auch der Protest gegen den Glauben, daß wir als Individuen oder als Gattung zum Beispiel geschichtsmächtig sind. Unsere eigene Le­bensgeschichte ist etwas,- und da würde ich Odo Marquard recht­ge­ben - was uns eher zustößt, als wir es machen können, und Welt­ge­schichte oder Geschichte einer bestimmten Gruppe funktioniert so ähnlich. Und wenn man sich nicht mehr einredet, daß man nur die Är­­mel aufkrempeln muß, um die Dinge gerade zu biegen und über kurz oder lang im Paradies zu lan­den, wenn man sich das eingesteht, dann ist man schon sehr nah an Melancholie denk ich."
1.Sprecher:
All die Verluste, Trennungen, enttäuschten Hoffnungen -, wer­den sie nicht durch blindes Weitermachen ignoriert, können sie zu pro­duktiven Herausforderungen werden. Die Versprechungen, die das Le­ben tragen, erweisen sich letztlich als unhaltbar. Dies läßt die Selbstbehauptung des Subjekts brüchig werden. Die Sehnsucht nach Freiheit scheitert an der Unverfügbarkeit des Lebens. Für das melan­cholische Bewußtsein verweist jedes Scheitern auf die Macht des Todes, der alle menschlichen An­strengungen endgültig zu Fall bringt. Diese Erfahrung muß aber nicht zur Flucht nach innen und zur Selbstzerrüttung führen. Aus eingestandener Haltlosigkeit kann vielmehr ein rückhalt­loses und unbedingtes Denken erwachsen.
2.Sprecher:
"Die Solidität unter den Füßen ist auf immer dahin, der Sturz un­aufhaltsam, und kaum daß der Schwindel weicht und der Kopf klar wird, ist die Lust nicht mehr zu bändigen, die Lust der Schwermut am Denken - am Denken im freien Fall", so Horstmanns leidenschaft­liches Bekenntnis zur Melancholie. Er knüpft da­mit an Traditionen an, die die Melancholie mit kompromißloser Be­wußtheit verbanden. Eine Haltung, die sehr schnell zum Außen­seiter machen kann. Entsprechend hat die Melancholie in der Ge­­schichte des euro­päischen Abendlandes auch unterschied­liche Bewertungen erfahren.
O-Ton (Horstmann):
"Es hat immer zwei Positionen gegeben, es hat die Verteidiger gege­ben, es hat die Angreifer gegeben, die Therapeuten, die Melancho­lie aus der Welt schaffen wollten, das kann man in der Antike, im Mittelalter, in der Neuzeit genau zeigen. Es gibt in der Antike ei­­nen großen Verteidiger, damit beginnt die Melan­cho­lie­-Debatte so­zusagen: Aristoteles, der eine Korrela­tion herstellt zwischen Genialität, also außergewöhnlichen geistigen Gaben, und Melancho­lie, also Schwarzgalligkeit; und es gibt auch da schon die Gegen­po­sition der Mediziner, für die Schwarzgallig­keit ein Kräfte­un­gleich­gewicht indiziert, also etwas, was man wieder ins Lot brin­­­­gen muß, und entsprechend setzen dann die Therapievorschläge an.
Der große Gegenspieler der Melancholie im Mittelalter ist natür­lich nicht mehr die Medizin, sondern die Theologie, weil Kopfhän­ge­rei unmittelbar in den Verdacht der Gottlosigkeit geriet, (...) Melancholie gehört im Mittelalter in den Bereich der Todsünde, und bricht eigentlich erst aus mit der italieni­schen Renaissance, (...) ein Wiederaufblühen von melancholi­schem Welterleben, übrigens simultan mit schwersten sozialen Er­schüt­te­rungen und einem all­gemeinen Orientierungsverlust. Und diese Hoch­zeit der Me­lan­cholie, der wir ja so Figuren verdanken wie den Hamlet oder Darstellungen wie die Melencolia I von Albrecht Dürer, die immer noch die Inkarnation von Melancholie darstellt, auch für uns heute noch. Diese Zeit geht eigentlich zuende mit dem Be­ginn der Aufklärung, und dann betritt der dritte Gegner das Feld: Medizin, Theologie und jetzt - auch das wiederum eigent­lich ein Beispiel für Erfahrung, die man mit Geschichte machen kann und die einen melancholisch stimmen - der ur­sprüng­liche Verteidiger, nämlich die Philosophie wird jetzt zum eingefleischten Gegner in Gestalt der Aufklärung."
1.Sprecher:
1988 erschien in deutscher Übersetzung das Buch "Melancholie" des Ungarn Làszlò Földenyi. Ausführlich und einfühlsam zeich­net es die abendländische Geschichte des Umgangs mit der Me­lan­cholie nach.
Nach dem Zerfall der mittelalterlichen Ordnung spiegelt die Melancholie in der Renaissance die Krise des Beginns der Neu­zeit. Der Mensch versucht, sich an die Stelle Gottes zu setzen und das Vollkommene aus sich selbst heraus zu er­schaffen. Das Verlangen nach Selbstgründung, nach Autarkie, führt an die Gren­ze des Mensch­lichen.Die Melancholie ist der Schatten die­ses  Selbstbe­haup­­tungswillens. So wie der Saturn, as­tro­logi­sches Symbol der Melan­cholie, als damals letzter der Planeten die Grenze zum Nichts markierte.
O-Ton (Heinz)
"Ich glaube, das kann man als Charakteristik des betreffenden Stücks Geschichte, Gattungsgeschichte behaupten, daß späte­stens von Beginn dessen, was man so à la Blumenberg humane Selbstbehaup­tung nennen kann, spätestens von da an die Melan­cholie der not­wendige Begleitschatten der humanen Selbstbe­haup­tung in Richtung humaner Autarkie, und mehr als nur huma­ner Autarkie ist, der not­wendige Begleitschatten, und zwar in dieser Doppelung als Akzen­tuierung von Depression, als Funk­tio­­nalisierung besser vielleicht von Depression zu diesem Schatten von Autarkie, einerseits, und auch der Etablierung von Erkenntnisformen, die dann ebenso unver­meid­licherweise melancholiebegründet sein müssen."
2.Sprecher:
Die Ausrichtung der bürgerlichen Aufklärung auf die Vision gesell­schaftlichen Fortschritts, verpflichtet den Einzelnen zur Produk­tivität für das Allgemeinwohl. Das menschliche Leben soll bruchlos im gesellschaftlichen aufgehen. Der melancho­lische Eigensinn aber verweigert sich solchem Fortschrittsop­ti­mismus und stellt damit das Projekt der Aufklärung in Frage. Wenn der glückliche Mensch das Ziel der Geschichte ist, kann Melancholie nur als Zeichen der Unvollkommenheit gelten, die überwunden werden muß. Vor dem Licht aufklärerischer Vernunft hat das Dunkle, das Unbegriffene keinen Be­stand. Alle Trans­zendenz soll sich in Transparenz auflösen.
O-Ton (Heinz):
"Wenn es keinen Ort der Melancholie gibt, und zugleich aber die besagte Autonomie und gar Autarkie zum Selbsterfüllungs­prinzip ge­macht wird und als solches erhalten bleibt, dann müßte sich diese Atopie, diese Ortlosigkeit der Melancholie, (...) rächen. Und zwar müßte sich diese Ortlosigkeit bitterst rächen, weil nämlich die Anmaßung, die in diesem Menschheits­projekt liegt, ohne daß sie mindest immanent und mehr als nur immanent ihre eigene Ermäßigung mit sich führt, eine solche Übersteigerung der Bewältigungsan­sprüche an Welt transpor­tiert, daß man sich am Ende nicht wundern muß, daß die Zerstö­rung der Welt letztendlich zum Ziel dieses Unternehmens wird. Also, um es vielleicht einmal paradox zu sagen (...), je mehr melancholische Schattenwürfe, die anerkannt würden als Moni­tum, als Anmahnung dessen, daß der Mensch nun einmal ein sterb­liches Wesen ist, um es kurz zu sagen, umso mehr Gegen­wir­kungen gegen die nicht nur letztlich, sondern von Anbeginn an zerstörerische Potenz dieses humanistischen Aufklärungs­projekts."
1.Sprecher:
Gegen die Anmaßung, die Welt restlos zum Entwurf des Menschen zu machen, erinnert die Melancholie an das vergeblich Ersehnte und doch nicht Verwirklichte. Man kann die Verluste und Ein­brüche nur verleugnen aus dem Gefühl heraus, auf dem richtigen Weg zu sein. Die Melancholie kennt diese Sicherheit nicht.
O-Ton (Horstmann):
"Was mich an der gängigen Umgehensweise mit Ge­schich­­te stört, ist das, was ich "Betriebsunfallmetaphorik" nenne, also das Erklä­rungs­­muster, das so funktioniert: Im Grunde sind wir auf dem rich­tigen Weg, im Grunde sind wir seit Newton, oder seit Bacon oder seit der Renaissance mit den richtigen Prinzipien und mit den rich­tigen Axiomen an das herangegangen, was wir ge­tan ha­ben, nur - es ist immer etwas schiefgelaufen. Es sind im­mer Stör­faktoren aufgetreten, die uns daran gehindert haben, dort aus­zu­kommen, wo wir hingelangen wollten. Und diese Art von "Betriebs­unfallmetaphorik", die ja auch eine Ent­schul­di­gungs­meta­phorik ist, die die Prinzipien, die Axiome, die Axio­matik ja rein­wäscht, das ist etwas, auf das Melan­cholie ver­zichten kann, weil Melancho­lie sagen würde, es ist alles genau so gelaufen, wie es histo­risch laufen mußte, und zwar deshalb weil - ich sag's mal ganz platt - das Gegenteil von "Gut" " Gutgemeint" ist. Das heißt also, gute Ab­sichten, gute Inten­tionen, Programme, Weltverbesse­rungs­­projekte ha­­­ben immer ... eine zweite Seite, haben immer soge­nannte Neben­wir­kungen, und die Nebenwirkungen sind unter Umständen bedenk­li­cher, ver­hängnisvoller als alles, was an positiven dabei he­raus­kommt. ...Das ist eine Erfahrung, die man als Pragmatiker, als Ma­cher, als Weltverbesserer einfach nicht zulassen kann. Und inso­fern ist die Melancholie-Diskussion, die Melancholie-Debatte das Wieder-zu-Wort-kommen von Melancholikern etwas auch Erlösendes in der jetzigen Situation, weil das eigentlich unsere Anstrengung wie­­­­der vermenschlicht und uns entlastet und diesen Zwang von uns nimmt, daß wir nun in der Tat so etwas wie den Garten Eden unseren Nachkommen zu überlassen hätten. Ich frage mich, weshalb wir uns un­­­ter diesen Zwang begeben haben."
2.Sprecher:
Die Aufklärung hat die christliche Idee des Heils, den Glauben ans Jenseits säkularisiert und auf die Geschichte übertragen. Das Ziel der Geschichte soll die Menschheit für alle Entbeh­run­gen und Ent­fremdungen des Weges entschädigen. Die Erfahrun­gen dieses Jahrhun­derts aber haben den Glauben an die Ge­schichte zu­nehmend ausgehöhlt. Am radikalsten drückt sich dies im Be­griff des Posthistoire aus. Er besagt, daß wir in der Nach­ge­schichte leben, mit dem Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Der historische Prozeß ist selbstläufig geworden, ohne ein erkenn­bares Ziel und ohne daß der Mensch entscheidende Eingriffsmög­lichkeiten hätte. An die Stelle des Fortschritts­optimismus ist Prozeßmelancholie getreten, schreibt Peter Sloterdijk. Dies muß keineswegs Gleichgültig­keit oder Resi­gna­tion bedeu­ten, wohl aber wertet Melancholie die Vergangen­heit gegen die Zukunft wieder auf und leistet Trauerarbeit an dem, was von der Geschichte überroll­t, zer­stört oder gar nicht zu­en­de ge­boren worden ist. Ein melancholischer Bezug zum Vergan­genen wehrt sich dagegen, alles als Vorstufe des Neuen zu se­hen oder als Mißlungenes dem Vergessen anheimzugeben. Dagegen bildet Melan­cholie ein schmerzhaftes Wider­lager. Ihre Schwere wider­setzt sich der hektischen Bewegung der Moderne, die Züge eines manischen Getriebenseins hat.
1.Sprecher:
Melancholie ist tiefe Skepsis - gegenüber jeder Art von Uto­pie, goldener Zukunft, Weltverbesserungsprogrammen oder Heils­plänen, wie sie z.B. heute von fundamentalistischer Seite an­geboten wer­den. Die Skepsis der Melancholie kann aber auch so pessimistisch und schwarz geraten, daß sie in Dogmatismus um­schlägt. Dann tritt an die Stelle des Fortschrittsglaubens Un­tergangs­gewiß­heit. Dann ist Melancholie nicht mehr ein Zwei­feln und weiterhin offen für Erfahrung, sondern sie ver­schließt sich zu einem absoluten Pessimismus, ganz so wie der französische Schriftsteller Gustave Flaubert erklärt: "Das Schlimmste ist immer sicher." Man kann sich auch im Un­heil einrichten und daraus Genuß ziehen.
Aus dem Lei­den wird Leidenschaft, wenn das Subjekt beginnt, die Nieder­lagen und Ohnmachtserfahrungen zu genießen, die eigene Brü­chig­­keit konse­quent in Regie zu nehmen - um viel­leicht künst­lerischen Mehrwert abzuschöpfen. Gustave Flaubert hat einen solchen Verlust­stil kultiviert, er lebte nach der Devise: " Wer verliert, gewinnt."
An die Stelle der melancholischen Sensibilität und Offenheit für Erfahrung treten dann ein geschlossenes schwarzes Weltbild und eine Atti­tüde kultivierter Dekadenz. Die inszenierte Me­lancholie aber ist keine mehr. Denn melancholische Welter­fah­rung ist keine verfügbare philosophische Position, kein gei­sti­­ger Standpunkt, den man will­kür­lich beziehen oder verlassen kann.
2.Sprecher:
Melancholie ist zunächst immer ein Affekt, aus dem sich dann die melancholische Reflexion entfaltet. Sie ist leibgebun­denes, verkörpertes Denken, ohne dies zu verleugnen. Sie ist ursprünglich Stimmung, in der sich die Welt erschließt und damit das Subjekt sich selbst. Stimmungen ausgeliefert verliert man die Sicherheit bei sich selbst zu sein, sich selbst zu besitzen. Und die Ziele und Orte, die ein Leben anbietet, sind weniger geeignet, sich mit ihnen zu identifizieren. Die vielbeschworene Unruhe und Heimatlosigkeit des Melancholikers haben ihren Grund in dieser Schwierigkeit, irgendwo Platz zu nehmen. Er ist zu langen Reisen verdammt, um dabei niemals an­zukommen. Die moderne Reiselust scheint geprägt von dieser melancholischen Sehnsucht nach dem wahren Leben, das bekanntlich immer anderswo ist. Manche sprechen das ganze Jahr aus­schließlich von ihrem Urlaub, fristen die Zeit zwischen der letz­ten Reise und dem nächsten Ausflug. Dabei bleibt man buchstäblich auf der Strecke.
O-Ton (Heinz):
"Auf-der-Strecke-bleiben - das gefällt mir - in diesem mehr­fachen Sinn... Nicht-ankommen, das wäre ja die andere Formulierung für das Auf-der-Strecke-bleiben, das Nicht-ankommen, das
ist aber so etwas wie ein magischer Schutz davor anzukommen, nämlich die Ankunft wäre ja todestriebbestimmt hinwiederum die eben dargestellte Inkorporation...alles Anderen mit den ent­spre­chenden argen Folgen, die dies immanent hat...Wenn ich am Ziel ankomme, dann muß ich mindest depressiv werden, wenn nicht sterben, was ja eigentlich jeder Traum auch bedeutet. Also verhindere ich die Ankunft durch die absolute Methode. Die absolute Methode aber ist ein schmerz­liches Werk des Auf-der-Strecke-bleibens; aber immerhin: dies scheint eine Melancholie-Position zu sein zwischen Manie und Depression,..."
1.Sprecher:
Der Melancholiker ahnt, daß die Ankunft am Ziel, überhaupt jede Vollendung etwas Tödliches an sich hat. Unterwegs sein dagegen entlastet, unterwegs sein ermöglicht, die Trauer im­mer wieder nach außen zu entlassen in die Weite des Rau­mes. "Die Augen des Menschen sehen in der Außenwelt, was ihn im Inners­ten durchwühlt", schreibt der rumänische Schriftsteller Cioran. Die Seelenlandschaften der Melancholie sind weit und leer, sie faszinieren durch ihre Unendlichkeit, in der der Mensch verschwindet. Die melancholischen Reisen führen in die Regionen der Wüste oder des ewigen Eises, zu den Grenzen der Welt und des Menschlichen.
2.Sprecher:
Christoph Ransmayrs vielbeachteter Roman "Die letzte Welt" schildert jenen melancholischen Grenzbezirk, wo man sich der ganzen Fraglichkeit des Daseins ausgesetzt findet.
Wenn alle Wünsche befriedigt sind wie in unseren reichen west­lichen Gesellschaften, tritt die Sehnsucht hervor, die ihr Ob­jekt nicht kennt. Die Saturiertheit beschwört die Kräfte des Saturn, die Melancholie, und in unserer Zeit des erfüllten Konsums macht sich der Mensch auf den Weg, seine innere Leere zur Welt werden zu lassen.