1.Sprecher:
Paris, Frühjahr 1985. Im Kulturzentrum George Pompidou findet eine Ausstellung statt, genauso futuristisch wie das Gebäude selber: Computer, Video-Installationen und Objekte aus den ver­schiedensten Bereichen des Wissens; Datenterminals, wo sich die Äußerungen vernetzter Intellektueller abrufen lassen; davor stehen neugierige Besucher, befremdet von einer durch Zahlen und Zeichen neuerschaffenen künstlichen Welt. "Immaterialien" - so war der Titel und zugleich die These dieser Ausstellung über die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien. Konzipiert hatte das Ganze der Philosoph Jean-François Lyotard.
In der Presse-Mitteilung erklärte er:
2.Sprecher:
"Es ist, als hätte man zwischen uns und den Dingen einen Filter gesetzt, einen Schirm von Zahlen. Eine Farbe, ein Ton, ein Stoff, ein Schmerz oder ein Stern kommen zu uns zurück als Zahlen auf Kennkarten von größter Genauigkeit. Die gute alte Materie selbst erreicht uns am Ende als etwas, das in komplizierte Formeln aufgelöst und wiederzusammengesetzt worden ist."
1.Sprecher:
Wie aber wirkt sich diese mediale Verwandlung der Dinge auf den Menschen aus? Auf seine Fähigkeiten und seine Ziele, auf sein Welt- und Selbstverständnis?
Die Ausstellung sensibilisierte für diese Fragen, indem sie dem Besucher einen experimentierenden Erkundungsgang anbot.
Der Weg führt in eine audiovisuelle Welt, er bahnt sich gleichermaßen über Auge und Ohr. Mit einem Kopfhörer ausgerüstet, passierten die Besucher verschiedene Sendebereiche und empfingen diverse Texte und Klangelemente.
2.Sprecher:
Lyotard inszenierte hier seine Vorstellung einer veränderten Subjektivität, wie sie inmitten der Informationsflüsse exi­stiert: nicht mehr ihr Schöpfer, aber auch nicht ihr entfremde­tes und manipuliertes Opfer, vielmehr ein eigenwilliger Teil­nehmer und Mitspieler im Kosmos der Zeichen, ein - wie Lyotard sagt - "Knoten des Kommunikationskreislaufes".
Vergesellschaftung heute geschehe nicht mehr kraft staatlicher oder anderer Autoritäten, auch nicht mehr aufgrund der abend­ländischen Leitideen von Wissenschaft, Fortschritt und Emanzipation, Vergesellschaftung geschehe heute unmittelbar durch die Informationsflüsse, durch die allseitige mediale Vermittlung.
Lyotard hoffte zunächst, daß dies eine pluralistische Gesellschaftsform fördern könnte, - wenn es einen freien Zugang zu allen Speichern und Datenbanken gäbe. Der Versuch, mit solch einer medienpolitischen Empfehlung die Probleme einer Informationsgesellschaft bewältigen zu wollen, hat sich mittlerweile als kurzsichtig erwiesen.
1.Sprecher:
In Frankreich war und ist man technikgläubiger als in der Bundesrepublik. So hat man die Entwicklung moderner Technologien vorangetrieben und kulturell zu integrieren versucht. Von einer technologischen Spitzenposition erwartet man auch eine kulturelle Selbstbehauptung im Kampf gegen die amerikanische Kultur- und Medienhegemonie.
Tatsächlich kommt den neuen Technologien eine Schlüsselrolle zu für die weitere Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Und die "Informatisierung der Gesellschaft" scheint gleichermaßen auch das Schlüsselthema für eine philosophische Analyse der Gegenwart.
Denn die Herausforderung der kommenden Jahrzehnte liegt für die hochentwickelten Gesellschaften darin, ein neues Niveau der Naturbeherrschung, d.h. aber auch Naturzerstörung zu erreichen. Es geht darum, ein immer perfek­teres Netz von Information und Organisation über den Erdball zu werfen. So schließen die Me­dien an das Projekt der Eroberung des Raumes im 19. Jahrhundert an und vollenden es in der Erobe­rung der Zeit.
Die Verkehrsmittel sind deshalb genauso Medien wie die Verstän­digungsmittel, beide gehören gemeinsam in eine Kultur der Beschleunigung, in eine Moderne, die gleichsam von der Erde, von der Materialität abhebt.
Jean-Luc Evard, französischer Mediensoziologe in Berlin, spricht in diesem Sinne von einer umfassenden Mediatisierung der Welt:
O-Ton Evard:
"Es mediatisiert aber wirklich alles, in welchem Bereich auch im­mer. D. h. man muß, glaube ich, einen Prozeß der Verselbstän­digung des Medialen überhaupt hier beobachten und zunächst ein­mal ausmachen, ein Prozeß, den vielleicht die Mediatisierung der Welt im Sinne der Ausbreitung der elektronischen Medien kennzeichnet, aber dann auch in vielen anderen Bereichen, wie zum Beispiel alles, was den Transport, die Übertragung von Menschen und Objekten zueinander oder im Gegenteil im Prozeß der Trennung voneinander kenn­zeichnet.
Also ich würde da das Medium zunächst als den Inbegriff einer frü­her festzustellenden Mobilität aller Dinge und aller Menschen hier in den Mittelpunkt setzen. (...) d.h. was die So­ziologen manchmal auch Enttradi­tionalisierung nennen wollen. Daß sich also die hergestellten oder die vorgefundenen Dinge, also die Artefakte unseres Alltags oder aber die Waren jeder Art nur der Auftakt gewesen sind in dieser Beschleunigung des Arbeitsprozesses, des Lebensprozesses insgesamt, diese Be­schleunigung ihren Gipfel zu finden scheint in dem heutigem Me­dium, mit dem wir heute umgehen: Telefon, Computer, Mo­nitor und dergleichen."
2.Sprecher:
Zu Recht spricht man von einer Medienrevolution, die vergleichbar ist mit der Entwicklung der Schrift oder der Erfindung des Buchdrucks. Die Kommunikation über Medien verändert das Gesicht der Welt. Immer weniger ist sie eine Welt der Dinge, immer mehr eine Welt der Zeichen: Der öffentliche Raum ist von Reklame übersät, der Verkehr und das Zusammenleben durch Zeichen gere­gelt, die Massenmedien deuten in Bild und Schrift die Welt.
Dietmar Kamper, Philosoph an der FU Berlin, der in seinem eige­nen Ansatz danach fragt, wie es um die menschliche Einbildungskraft bestellt ist angesichts der Macht der medialen Bilder, hat die Entwicklung neuer theoretischer Ansätze in Frankreich sehr genau verfolgt:
O-Ton, Kamper:
"...der Gang der Dinge in unserer hochzivilisierten Gesellschaft ist eigentlich so geartet, daß die Immaterialien, also jene nicht-körperlichen Dinge, jene Prozesse, jene materielosen Bewegungen, Kreisbewegungen, Spiralbewegungen den Vorrang bekommen. Und das nötigt einen dann dazu, sich damit intensiver zu beschäftigen. (...)
Einer der ersten, der damit vehement begonnen hat, war eigent­lich nicht Lyotard, sondern Baudrillard, der diese Transformation des Waren-Körpers in das Waren-Zeichen als Anlaß genommen hat, eine neue Epoche des Nachdenkens vorherzusagen. Also: Was läßt sich sagen über die Faszination der Menschen durch die Zeichen, durch die abstrakten Zeichen von den Dingen. Es ist dort irgendetwas geschehen, eine Veränderung, eine radikale Veränderung der menschlichen Begehrensstruktur, die offenbar nicht mehr sich ausrichtet in einem Konsum von Dingen, in einem Konsum von Waren, sondern in einem Konsum von Zeichen befriedigt zu werden. Und dieser vielleicht zunächst ganz unscheinbare Sprung im Weltgebäude, also der Sprung von noch vergleichsweise materiellen Dingen zu immateriellen Dingen, ist der unentwegte Anstoß für die französischen Denker, die man 'Poststrukturalisten' nennt, sich mit den Auswirkungen, mit den Umständen und mit den Auswirkungen dieser Transformation zu beschäftigen."
1.Sprecher:
Der französische Poststrukturalismus bringt für diese Beschäf­tigung eine wichtige Voraussetzung mit. Er korrigiert grundle­gend die traditionelle Abwertung der Sprache in der Metaphysik. Die Metaphysik ist immer von der Reinheit des Denkens ausgegan­gen. Die Sprache gilt ihr nur als ein Arsenal von Zeichen, ein Werkzeug, über das das Subjekt beliebig verfügt. Der Poststruk­turalismus hingegen geht davon aus, daß aus dem amorphen Sein allererst aufgrund der Sprache eine geordnete Welt und ein menschliches Bewußtsein auftauchen.
Das hat Konsequenzen für eine Theorie der Medien: Die Zeichen und Bilder sind eben kein bloßer Spiegel, der die Realität ge­treu oder verzerrt, wahr oder ideologisch, abbildet. Die Spra­che der Medien formt die Wirklichkeit, greift in sie ein, stellt sogar selber Wirklichkeit her.
2.Sprecher:
Es ist der französische Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard, der dieser wirklichkeitskonstitutiven Funktion der Sprache, vor allem auf dem Feld der Medien, nachgegangen ist. In der modernen Welt hätten sich die Zeichen verselbständigt und den Triumph über die Realität errungen, die Medien model­lierten die Wirklichkeit nach ihren eigenen Maßstäben. Ein Bei­spiel für Baudrillards These bietet das Publikum in einem Fernsehstudio: Die Zuschauer bilden nur den Rohstoff für das Medium. Sie werden im Studio räumlich angeordnet, ausgeleuchtet und vom Aufnahmeleiter zum Klatschen animiert. Ihre Reaktionen werden von den Kameras ausgewählt und in die Sendung eingear­beitet. Im Grunde sind sie Schauspieler, sie spielen die Rolle all derer, die zu Hause vor den Apparaten sitzen. Auf diese Weise holt das Fernsehen den Zuschauer in die Sendung hinein und inszeniert ihn als TV-eigenes Bild. So opfern die Studiozuschauer ihre Leibhaftigkeit dem Medium, der Verwandlung ins Bild.
Das Fernsehen täuscht eine lebendige Kommunikation mit den Zu­schauern vor, in Wahrheit werden nur Pseudo-Dialoge inszeniert. Deshalb nennt Baudrillard die Medien antikommunikativ. "Die Medien sind dasjenige, welches die Antwort für immer untersagt, das, was jeden Tauschprozeß verunmöglicht, es sei denn in Form der Simulation einer Anwort, die selbst in den Sendeprozeß integriert ist,..".
1.Sprecher:
Simulation ist der zentrale Begriff im Denkansatz Baudrillards.
Eine Simulation ist ein komplexes Ineinander von Sein und Schein, von Wahrheit und Lüge. Der Simulant vermag nur dann eine Krankheit vorzutäuschen, wenn er tatsächlich ihre Symptome präsentiert, wenn es also ein Stück Wahrheit in seiner Verstel­lung gibt. Simulation ist paradox gesprochen, eine Lüge, die dergestalt auf die Realität einwirkt, daß sie zur Wahrheit wird.
Genau das aber geschieht. Die Zuschauer im Fernsehstudio bemü­hen sich natürlich zu sein. Sie simulieren, tun so, als ob das Fernsehen gar nicht da wäre. Indes verhalten sie sich völlig  künstlich, weil sie den Maßstäben des Mediums entsprechen möch­ten, weil sie jenes möglichst telegene Bild abgeben wollen, das das Fernsehen und die fernsehende Welt und nicht zuletzt sie selbst als fernsehende Menschen von ihnen erwarten. 
2.Sprecher:
Der Zuschauer verschwindet im Modell des Zuschauers. Damit zir­kuliert alles in sich selber. Die Repräsentation wird zur Simu­lation. Simulation meint letztlich, daß es hinter der Bilder- und Zeichenflut nichts mehr gibt, daß die Welt verschwunden ist und die Bilder nur noch auf sich selbst verweisen und sich mit sich selber austauschen. Und die Menschen sind davon so faszi­niert, daß sie den Verlust einer Wirklichkeit jenseits der Bil­der gar nicht gemerkt haben. Sie leben ganz in den Bildern und Zeichen und arbeiten fleißig an ihrer Vermehrung.
Baudrillard entwirft ein apokalyptisches Szenario eines Weltun­tergangs im Bild. Für Baudrillard hat die Apokalypse schon stattgefunden. Das Reale stirbt im Spektakel der Wiederholungen der Bilder. Ein "Tod durch Übersättigung", wie Baudrillard schreibt, eine Auszehrung durch Wachstum.
1.Sprecher:
Schon 1956 erkannte der Philosoph Günther Anders, daß durch die Medien Rundfunk und Fernsehen die Wirklichkeit verschwindet, indem sie zum Abbild ihrer Bilder wird. Und die zentrale Funk­tion der Wohnung wird nun sein, schrieb er provozierend, den Bildschirm für die Außenwelt zu enthalten. Heute ist die Woh­nung mit den Geräten der audiovisuellen Technik und dem Heim­computer zum privaten Terminal für den Kontakt nach außen ge­worden. "Jedem seine Kapsel", schreibt Baudrillard, und die zentrale Frage lautet heute: 'Ist man angeschlossen oder nicht?'. Nur noch mit einem Fernseher ist man an die Welt ange­schlossen, die als Bild zu einem kommt.
2.Sprecher:
In vergangenen Jahrhunderten war das Bild der Inbegriff der Konkretion, des Sinnlichen im Unterschied zum Begriff. Heute arbeitet es im Dienst der Abstraktion. Aber in der Philosophie der Neuzeit gab es immer die tiefere Allianz von Blick und Begriff. Die Entwicklung der Zentralperspektive in der Renaissance ist Ausdruck davon, wie das selbstmächtige Subjekt sich die Welt als Bild aneignet. "Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild", schrieb Martin Heidegger. Der neuzeitliche Mensch tritt aus der geschlossenen Welt des Mittelalters heraus und stellt sich unter Berufung auf seine Vernunft der Welt gegenüber. Er stellt sich die Welt vor, macht sich ein Bild von ihr, ein Weltbild.
Immer spielte das Auge und der Blick in diesem neuzeitlichen Weltverhältnis die Führungsrolle. Als Organ der Distanz und Fixierung leitet es die begriffliche Bemächtigung und Einord­nung der Dinge.
1.Sprecher:
Aber heute kommen die Bilder nicht mehr in eigener Erfahrung zustande. Umso nachdrücklicher ist deshalb nach dem Status des Bildes zu fragen und seiner Rezeption. Wie sind Medienbilder eigentlich beschaffen, und wie werden sie wahrgenommen?
Die heute dominierenden Bilder auf den Bildschirmen sind ner­vöse, flüchtige Bilder, sie entsprechen der allgemeinen Beweglichkeit und Unrast des modernen Lebens. Sie bestehen aus lau­ter Punkten, die zudem auch noch mehrmals in der Sekunde auf dem Schirm aufgebaut werden müssen. Und das hat Konsequenzen für die menschliche Erfahrung:
O-Ton Evard:
"... Ich möchte da in der Tat das Bild des Fernsehens dem Bild des Films entgegensetzen und daran erinnern, daß bis heute ein Film­bild noch ein statisches Bild ist, im Grunde. Das sind zwar 24 oder mehr oder weniger Bilder pro Sekunde, aber das sind noch nacheinander gestellte statische Bilder aus der Fotografie heraus, die dann in eine eher langsame bzw synchrone Bewegung gesetzt wer­den. Während in der Tat auf dem Monitor bzw auf dem Bildschirm eine Emulsion, also ein doppelter Prozeß der Herstel­lung und Selbstzerstörung des Sehbaren stattfindet. Wobei viel­mehr die Wahrnehmung, diesmal fast im Sinne der Empfindung die Oberhand ge­winnt zuungunsten der Erinnerung, d. h. diese Frage nach der Be­schleunigung, d. h. wie schnell ein Bild erscheint und verschwin­det, was also unser Gedächtnis in sich schreibt, dokumentiert, glaube ich, wiederholt diesen Prozeß der Be­schleunigung und der Selbstauflösung des Gedächt­nisses im Laufe, im Prozesse der Media­tisierung, weil diese Bilder sind noch kaum Bilder im traditionel­len Sinne der Ästhetik oder der Naturwissenschaften, wo bis zu diesem erhitzten Stadium der Me­diatisierung gleichzeitig Wahrneh­mung, Wahrneh­mungsvermögen und Erinnerungsvermögen (...) gleichzeitig und zwar gleichmä­ßig aufgefordert waren. Ich möchte da also dieses langsame Versagen des Gedächtnisses hier abheben und für mich weist auch die Tatsache daraufhin, (...) daß selbstverständlich immer mehr Bilder auf dem Markt als Inbegriff der Öffentlich­keit kommen, die keiner mehr als einzelner sich anmaßen kann wahr­genommen zu haben, d.h. sich an diese Bilder zu erinnern, das ist also hier ein Verlust des Gleichgewichts zwischen den beiden phy­siologischen und anthropologischen Funktionen (...)."
2.Sprecher:
Das Kinobild schaffte es durch seine Größe, den Zuschauer ins Bild hineinzuziehen, das Fernsehbild ist zwar klein, aber - wie Evard hervorhebt - weil es dauernd zerfällt, wirkt es wie ein Vakuum, das den Blick ansaugt. Deshalb führt das Fernsehen zum Glotzen, der Blick klebt am Bild, zu dem das Subjekt kaum mehr einen Abstand ausbilden kann. Es ist eine taktile Wahrnehmung, ein Haft-Blick. Bei so viel Nähe stirbt die Erfahrung und mit der Flut der Bilder zudem auch die Erinnerung. So leer wie das Vakuum der Bildröhre, so leer wird unser Gedächtnis dabei: die Bilder entstehen und vergehen und nichts bleibt. Die flüchtigen Bilder bieten dem Menschen keinen Widerstand, die Welt verliert für uns, die wir 'im Bilde zu sein' glauben, ihr Gewicht, ihre Fremdheit. Und damit auch ihre Erfahrbarkeit.
1.Sprecher:
Platon lehrt im Höhlengleichnis, wie die Menschheit dem Trug der Schattenbilder entrinnt und den Weg hinauf ans Licht der Wahrheit findet. Die Menschheit ist diesen Weg gegangen. Sie hat selbst das gleißende Licht der Moderne entfacht. Heute steht sie darin, völlig geblendet. So verwandelt sich die Welt erneut in Platons Höhle, diesmal jedoch eine des übermäßigen Lichts. Es ist der audiovisuelle Terminal des Wohnzimmers, wo in der elektronischen Strahlung, unter der Überbelichtung durch die Medien die Dinge anfangen sich zu verflüchtigen, so daß die Welt gleichsam in ihrem eigenen Bilde verschwindet. Die Bilder in ihrer Perfektion nehmen den Platz von Platons Ideen ein.
O-Ton, Evard:
"...was innerhalb des Geräts als Automatisierung gilt, gilt auf dem Bildschirm als Schliff des Immerneuen, des Unsterblichen, des Allersaubersten, aber nie unter dem Zeichen des Alternden oder des Verschwindenden, d.h. eine Welt der Allgegenwart, wo schon dieses Gefühl der Weltallgegenwärtigkeit sehr sehr wich­tig ist, dieses Gefühl Tag und Nacht in Verbindung mit dem Erdball, mit dem 'planetarischen Dorf' à la McLuhan, das ist also das Kriterium, wonach sich die Medien richten wollen bzw. müssen, um eben diese Gleichzeitigkeit aller Dinge zu vermitteln.
(...) Und Gleichzeitigkeit kann sich unmöglich mit dem anderen Gefühl vereinigen oder vereinbaren, das wir Geschichte, d.h. Gefühl des Vergangenen und des Künftigen genannt haben. (...) Hier wird also eine Gleichzeitigkeit simuliert, die grosso modo diese Gebrochenheit der Zeitläufte verleugnet, bzw. zurück­drängt. Und aktuell kann und soll nur noch sein, was sich da als Gleichzeitigkeit darstellen läßt."
2.Sprecher:
Wenn schon 1917 der Dadaist Hugo Ball feststellt, daß die ganze Welt "medial geworden" ist, meint er, daß das moderne Leben sein Selbstverständnis nicht mehr aus einer historischen Konti­nuität gewinnt, sondern nur noch aus der Gegenwart, aus dem Augen-Blick: was die Augen hier und jetzt sehen und was nicht älter sein darf. Nur noch die Aktualität zählt in den Medien, die alle Ereignisse zu gleichzeitigen macht. Unter der Herr­schaft der Medien gibt es kein Geschichtsbewußtsein. Die Ge­schichte verkommt zu einem Disneyland der Bilder und Geschich­ten.
O-Ton, Kamper:
"Man könnte (...) sagen, die Menschen haben was davon, wenn sie Bilder statt der Dinge wählen. Erstens vergessen sie ihre Sterblichkeit, sie vergessen ihre Gebrechlichkeit, sie haben plötzlich Zugang zu einer perfektiblen, zu einer Welt der Ver­vollkommnung, und ich denke, gerade die Simulation ist ein Ver­fahren, das immer besser werden kann, das liegt auch in der Na­tur der Sache, wenn man von Visionen der Perfektion redet, dann sind sie im Wesentlichen auf diesem Gebiet erzielt worden in den letzten Jahren, und das geht auch noch weiter. (...)
Und das geht nur mit den Bildern, das geht mit den Körpern nicht, die Körper haben immer noch ihre Geschichte, haben ihre Krankheiten, sie sind nicht vollständig in Besitz zu nehmen. Wenn es aber gelingt, statt der Körper die Bilder von den Kör­pern zu wählen, auch für das eigene Begehren, dann könnte es den Anschein haben als wäre menschliche Entwicklung dort zu be­frieden, also gewissermaßen in einen Zustand zu überführen, der jene Nachteile, diese Gebrechlichkeiten und Schwächen der menschlichen Natur ausgeglichen sein könnten. Da scheint mir die große Verführung zu liegen und auch die Berechtigung, sich darauf einzulassen und also, wenn man so will, eine künstliche Welt an die Stelle der unvollkommenen gegebenen Welt zu setzen. Da jedenfalls wird unendlich viel investiert und die Menschen beteiligen sich auch alle daran, das ist eine große Verführung, das hat mit Macht und mit Einfluß zu tun. Daß sie am Schluß dennoch die Getäuschten sind, wie ich glaube, und sich in einem Labyrinth verfangen und möglicherweise auch diesen Ausweg nicht mehr finden, das kommt erst hinterher, aber die Tendenz, sich selbst ins Bild zu setzen, sich selbst zum Bilde zu machen, ist sehr stark und nutzt diese Kräfte der Phantasie und der Simula­tion, die korrespondieren mit einer Grundtendenz der Gesell­schaft, also so etwas wie eine vollständige Insel auszubilden, jeder Mensch ist eine absolute getrennte Insel von jedem ande­ren und hat die Welt nur noch als Bild bei sich und auch die anderen Menschen nur noch als Bilder bei sich und sogar seinen eigenen Körper nur noch als Bild vermittelt über einen Bild­schirm bei sich, also so etwa wäre mir das, könnte man es plau­sibel machen und auch als Tendenz kennzeichnen."
1.Sprecher:
Die Welt ist unvollkommen und fehlerhaft. So versucht der Mensch sie zu verbessern. Träume von Vollkommenheit haben die Menschheitsgeschichte vorangetrieben. Immer schon haben die Menschen gegen die Mängel ihrer Kreatürlichkeit gearbeitet. Kultur und Zivilisation sind daraus entstanden, Ausdruck der Arbeit des Menschen an sich selbst, d.h. gegen sich selbst, ge­gen die Natur.
Für Jean-François Lyotard besteht die wesentliche Tendenz des Zivilisationsprozesses darin, sich von den irdischen Lebensbe­dingungen zu befreien. Vor allem der Körper in seiner Hinfäl­ligkeit und Vergänglichkeit ist dabei ein Hindernis. Die Medien hingegen mit der Perfektion ihrer Bilder verheißen eine andere Realität, die den materiellen Beschränkungen nicht unterliegt. Und so begehrt der Mensch heute die anderen und sich selbst als Bild.
Das Bild aber ist die Auslöschung des Individuellen.
2.Sprecher:
Die Neuen Medien erschienen Lyotard zunächst als eine Möglich­keit, der Vielfalt menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten einen Raum zu geben. In neueren Aufsät­zen beurteilt Lyotard die Entwicklung allerdings kritischer: Die Neuen Medien führen von ihrer eigenen Struktur her das, was sie aufgreifen, einem Konsens zu, der in Wahrheit alles neutralisiert. Die Medien reduzieren Sprache auf Kommunikation, auf die Funktion, alles austauschbar zu machen. Aber die Sprache lebt auch aus dem zunächst Unverständlichen, den Paradoxien, der Poesie, und - aus dem Schweigen. Die Medien jedoch dulden kein Schweigen.
Die Menschen sind heute überall aufgefordert, über alles zu kommunizieren und sie scheinen es auch selber zu wollen, auch wenn sie sich nichts zu sagen haben. Eine Lust am Austausch um des Austauschs willen.
Diese Lust an der Kommunikation entspricht den fortgeschritte­nen Informationstechnologien: alles wird miteinander vermit­telt, vergleichbar und ineinander überführbar gemacht. Damit stellt sich für Lyotard ein immaterieller Körper von gleichsam kosmischen Dimensionen her, ein die Erde umspannendes Informa­tionsnetz mit ungeheuren Speicherkapazitäten. Man vermag dann mehr und mehr, alles, was geschieht und geschehen könnte, in Regie zu nehmen, planbar, vorhersehbar zu machen, den Bereich des Unvorhersehbaren immer mehr einzudämmen. Das wäre dann eine Welt, die so sehr dem Menschen gehört, daß sie nichts mehr außer ihm kennt: keine Fremdheit, kein Anderes, keine Transzen-denz. Eine Welt als zweite Schöpfung, diesmal des Menschen.
O-Ton Kamper:
"Die Ausstellung "Les Immatériaux" war ja der Versuch, einen Schlüssel zu finden für die Relationen von Technik und Gesellschaft, und die, das würde ich auch unterstreichen, sieht Lyotard darin, daß durch Entkörperlichung ein weltweiter Ver­bund von diversen Systemen der Sendung, des Empfangs, der Produktivität, der Rezeptivität auch mittels der Künstler im übri­gen in Gang gebracht worden ist, der zur Ausbildung der ersten völlig menschlichen Welt führen wird. Wir sind noch nicht ganz so weit, aber das kommt. Wir schaffen mit den Informations- und Kommunikationsmedien eine Welt, die ein externes Bedingungsver­hältnis nicht mehr eingehen muß, die ist ganz und gar mensch­lich geworden, könnte man sagen. Bildet zugleich so etwas wie ein Welt-Bild aus, es ist ja keine so sehr reale Welt, als eine Welt, die sich abbilden läßt und die in ihren Abbildungen exi­stiert. Man kann durchaus alle Satelliten dazunehmen, man kann die Nachrichtenströme, die Informationskanäle alles so schal­ten, daß es praktisch wie ein Schirm um die Erde herumgedacht wird, und das ist das, was die Menschen machen können, das ist ihre Welt, in gewisser Weise die zweite Schöpfung, also sie schaffen die Welt noch mal, und darin leben sie jetzt oder sie versuchen darin zu leben. Das gibt enorme Probleme."