Sprecher:
1986, nach
der Katastrophe von Tschernobyl, erschien in der Wochenzeitung Die Zeit ein
Artikel, der einen Eklat erregte und eine heftige Debatte nach sich zog. Der
Autor erhielt gleich einen ganzen Waschkorb von Zuschriften, die meisten
ablehnend gegenüber seinen Thesen, viele empört. In diesem Artikel hatte sich
der Gießener Philosoph Odo Marquard nicht allein mit der Friedens- und
Ökologiebewegung, sondern mit der öffentlichen Meinung insgesamt angelegt.
Marquard
behauptete folgendes: Die gestiegene Angst vor Atomkrieg und ökologischer
Katastrophe habe keinen realen Grund. Es handle sich vielmehr um
Angstillusionen. Denn die moderne industrielle Zivilisation habe, gerade indem
sie das Leben sicherer mache, ein Stück anthropologische Grundangst des
Menschen freigesetzt. Und diese "arbeitslos gewordene Angst" lebe
sich nun illusionär aus und verführe zur Katastrophenfaszination.
Odo Marquard, O-Ton:
Den Text,
der diesen Artikel bildet, - er ist glaube ich kurz nach Tschernobyl
erschienen, geschrieben hatte ich es vorher, - ich glaube so frech hätte ich
das nach Tschernobyl nicht mehr geschrieben. Nun bin ich aber durchaus jemand,
der frech schreibt, und will auch wiederum nicht so viel zurücknehmen, daß ich
sagen würde, ich bin ganz anderer Meinung geworden. Meine Vorstellung war ja
folgende: Wer durch Angsterzeugung, Angstaufdeckung will ich einmal sagen, die
Probleme immer schwerer und größer macht, minimiert die Wahrscheinlichkeit
ihrer Lösbarkeit. Das war meine Sorge. Also wer sozusagen am Problemumfang
immer noch eins draufsetzt, der führt schließlich zu einer Position, wo man
sagt, man kann doch nichts mehr machen, also lassen wir alles beim alten. Und
das ist eine Position, die ich auf jeden Fall vermeiden würde.
Sprecher:
Im
nachhinein wird Marquards Intention deutlicher. Es war ihm um Realismus zu tun.
Seine Thesen hatten deshalb auch eine Korrektivfunktion. Marquard, der
Skeptiker, widersprach einem Zeitgeist, dem das Thema des Weltuntergangs zur
Mode geriet.
Doch in
dieser Widerrede wurde ein Grundzug skeptischen Denkens sichtbar: Überall dort
wo bestimmte Überzeugungen, seien es auch zunächst kritische, das allgemeine
Bewußtsein beherrschen, wird der Skeptiker mißtrauisch, wird sein Zweifel wach.
Skeptomai bedeutet im Griechischen ursprünglich: ich schaue prüfend umher.
Dabei entdeckt die Skepsis oft weitere Ursachen, Motive und Umstände, die zu
jenem einzigen Grund, der alles erklären soll, querstehen. Und der Skeptiker
führt diese widerstreitenden Gründe ins Feld. So ist er selber jemand, der sich
querstellt, der Einspruch erhebt gegenüber dem Wahrheitsmonopol bestimmter
Erklärungsmodelle und Theorien.
Skepsis,
auch in der Philosophie, ist dabei eine Geisteshaltung, die sich nachdrücklich
auf lebensgeschichtliche Erfahrung bezieht.
Odo Marquard, O-Ton:
Ich würde
sagen, die Skepsis beginnt eigentlich ganz zwanglos durch den Protest gegen die
großen Illusionen, vielleicht auch gegen kleine Illusionen, obwohl die nicht
so schlimm sind wie die großen Illusionen, also Ernüchterung ist eigentlich das
Pensum.
Rein
lebensgeschichtlich gesehen, habe ich in der Tat auch so angefangen, Sie
müssen daran denken, daß ich, als der 2. Weltkrieg aufhörte, gerade 17 geworden
war, und dann mit dem Studium anfing nach dem Abitur, und da habe ich eine
Menge Desillusionierungsarbeit und Ernüchterungsarbeit an mir selber
vollziehen müssen und das habe ich sozusagen zur philosophischen Position
gemacht. Also wie schafft man es philosophisch - das war eigentlich das Problem
- nicht noch einmal auf eine Weltverbesserungsillusion, die der
Nationalsozialismus ja ebenfalls gewesen ist, hereinzufallen. Gibt es da
Möglichkeiten in der Philosophie und in dem Zusammenhang bin ich auf die
Skepsis gekommen, und das hat sich dann mehr oder weniger zwanglos ergeben, es
hat sich natürlich auch durch Themen ergeben, an denen ich gearbeitet habe, das
schoß dann schließlich zusammen, aber ich würde sagen, Desillusionierung,
Selbst-Desillusionierung, es war also nicht der große Gestus anderen
gegenüber, das scheint mir in der Rückschau ganz wichtig, für mich war wichtig,
mich selber aus Illusionen herauszubringen, und nicht mit erhobenem
Zeigefinger anderen zu sagen, ihr müßt euch aus Illusionen herausbringen,
soweit war ich ja damals gar nicht.
Sprecher:
Herausarbeiten
mußte sich Odo Marquard aus der Ideologie des Nationalsozialismus, der man den
Jungen ausgeliefert hatte. Marquard, 1928 in Pommern geboren, besuchte eine
NS-Kaderschule, eine sogenannte Napola, 1945 wurde er zum Volkssturm einberufen
und geriet in Kriegsgefangenschaft. Entlassen und gründlich ernüchtert kehrte
er an die Schulbank zurück, machte Abitur und studierte in Münster bei Joachim
Ritter, dann in Freiburg Philosophie, Germanistik und Theologie. Seit 1965
lehrt er Philosophie in Gießen, wo er in diesem Jahr emeritiert wird.
Marquard
charakterisiert seinen Weg in die Philosophie hinein keineswegs als
wohlüberlegt und frei gewählt: "Ich kam in die Philosophie, wie die Wespe
in die Cola-Flasche: weil ich intellektuell naschhaft bin und die Philosophie
süß zu sein schien und weil, als ich merkte, daß sie ernst und gefährlich ist,
es schon zu spät war, noch herauszukommen."
Odo Marquard, O-Ton:
Ich wollte
ja ursprünglich doch etwas ganz anderes machen, eigentlich wollte ich
Architekt werden, nur unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg sah es so aus, als ob
in den nächsten Jahrzehnten die Architekten immer nur Nissenhütten bauen, also
diese Wellblechdinger bauen müßten, und das schien mir nicht so besonders
reizvoll zu sein. Und dann habe ich mich für Literatur interessiert, für Kunst
interessiert, für Bildende Kunst auch, ich habe früher zu Anfang durchaus auch
Kunstgeschichte gemacht, und dann ...bin ich sozusagen in die Fänge von Joachim
Ritter gelaufen, meinem philosophischen Lehrer, ich wollte einfach
philosophische Bücher lesen auch zur Problematik der Ästhetik, das war der
Ausgangspunkt, und wo fand man Bücher, die konnte man ja damals nicht ohne
weiteres in Buchhandlungen kaufen, da gab es ja kaum Bücher, vielleicht im
philosophischen Seminar, das war nun wieder untergebracht in der Wohnung von
Ritters ... ich kam so in die Philosophie hinein über die Ästhetik und durch
Joachim Ritter. ... es gibt ja viele Determinanten, aber daß nun gerade zwei
Leute sich treffen, wenn ich das einmal so neutral ausdrücken kann, das ist ja
eigentlich zufällig zunächst. Und über diesen Zufall bin ich in die
Philosophie hineingekommen, einfach durch den Eindruck, den ein Philosoph auf
mich gemacht hat und den er, ich muß sagen, lebenslänglich auf mich macht.
Sprecher:
Andere
Philosophen erzählen solche Anekdoten nur um zu unterhalten, bedeutsam für
ihre Theorie sind sie nicht. Marquard hingegen hat den Zufall philosophisch
rehabilitiert, er nimmt ihn beim Wort: Zufall heißt, mir fällt etwas zu, mir
widerfährt etwas, das mein Leben und auch Denken untilgbar prägt. "wir
Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen" - schreibt
Marquard in seiner "Apologie des Zufälligen".
Darin
spricht sich Skepsis aus gegen die Hybris eines autonomen Subjekts, das sich
völlig selbst bestimmen will; Skepsis zumal gegenüber einer
Geschichtsphilosophie, die erklärt, daß die Geschichte diesen überhöhten
Anspruch einzulösen habe. Das gilt vor allem für die Geschichtsphilosophie in
der Nachfolge von Hegel und Marx. Marquard, der sich zunächst von der
Frankfurter Schule angezogen fühlte und Sympathien für die von ihr beeinflußte
Studentenbewegung hegte, ging zunehmend auf Distanz.
Odo Marquard, O-Ton:
Der
Hauptgrund war eigentlich der, damit hängt meine Geschichtsphilosophie-Kritik
zusammen, daß man verpflichtet wurde ... letztendlich nur eine einzige
Geschichte zu haben, eine einzige, nämlich die große Entfremdungs- und
Befreiungsgeschichte des Menschen, und meine Erfahrung wurde es in wachsendem
Maße, daß es für den Menschen nötig ist, und das er menschlich ist nur dann,
wenn er viele Geschichten haben darf, die also bunt durcheinander laufen, nicht
nur die große Emanzipationsgeschichte, ... man muß eben auch seine vielen
Geschichten haben dürfen, die private Geschichte, die Geschichte als
Verheirateter und Vater, mit dem Sohn und meiner Frau zusammen, die Geschichte
mit meinen Freunden zusammen, die Geschichte, die Philosophiegeschichte ist
mit Interesse an irgendetwas, von dem zunächst gar nicht klar ist, ob es eine
besondere emanzipatorische Relevanz hat - das hat mich geärgert, daß dauernd
gefragt wurde, wo bleibt die gesellschaftliche Relevanz, daß man ständig unter
Rechtfertigungsdruck gesetzt wurde, ich sage manchmal, etwas übertreibend und
karikierend sicher, man kam in eine Situation hinein, wenn man höflich zu sein
versuchend sich vorstellte: "Gestatten Sie, Marquard", dann war die
Antwort, die sozusagen philosophisch-offizielle Antwort: "Hier wird ohne
Rechtfertigung gar nichts gestattet. Mit welchem Recht sind Sie Marquard, und
mit welchem Recht sind Sie überhaupt und nicht vielmehr nicht?"
Nun beweisen
Sie das mal, das ist sehr schwierig, und ich würde sagen, dieser ständige
Legitimationsdruck, ob man nun auch etwas für die Weltverbesserung tut, das
hält auf die Dauer kein Mensch aus.
Sprecher:
Marquard
verteidigt, und das klingt paradox, die Menschlichkeit des Menschen gegen seine
Emanzipation, er nimmt den Menschen in Schutz vor philosophischen
Befreiungsutopien, die, so fürchtet er, in Dogmatismus und Unmenschlichkeit
enden.
Doch woher
rührt dieser Rechtfertigungszwang, der die menschliche Subjektivität
überfordert und deshalb tyrannisiert? Marquard ist dieser Frage
philosophiegeschichtlich nachgegangen und stößt auf verkapptes theologisches
Erbe, auf das Theodizee-Problem. Die Theodizee fragt nach der Rechtfertigung
Gottes angesichts der von ihm zugelassenen Übel in der Welt. Zwar hat die
Autonomiephilosophie der Aufklärung die Vernunft an die Stelle Gottes gerückt.
Doch damit erbt der Mensch auch die Schuldfrage Gottes, weil er beansprucht,
sich selbst eine Welt zu schaffen, die der Geschichte.
Odo Marquard, O-Ton:
Und dort
taucht dann das Problem der Theodiziee bezogen auf den Menschen erneut auf, ...
wenn diese Geschichte eine mit Übeln ist, ja was macht der Mensch, der wird
angeklagt deswegen, ... dann wird gesagt, wir müssen diejenigen Menschen
verdammen, die die Übel in die Welt bringen, gegebenenfalls müssen wir sie
durch Revolution abschaffen, und wir müssen diejenigen Menschen fördern, die
die Übel aus der Welt herausbringen, also die die Welt verbessern, und dann
hat man das geschichtsphilosophische dialektische Modell, und das impliziert,
daß die Menschen ständig unter Rechtfertigungsdruck gesetzt werden - ich habe
das einmal ... Tribunalisierung der Wirklichkeit genannt, also die ganze
Wirklichkeit wird ständig ein Tribunal. Und diesem Tribunal entkommt man im
Grunde nur, indem man es selber wird, also man flieht gewissermaßen aus dem
Gewissenhaben in das Gewissensein, indem man das Gewissen für andere wird, und
denen mit erhobenem Zeigefinger sagt, wo es langgeht.
Sprecher:
Marquard
kritisiert eine Kritik, die sich absolut setzt und zum paranoiden Verfolger
auswächst. Seine Skepsis vollzieht damit eine Metakritik der Philosophie,
insbesondere ihrer utopischen Gehalte und Emanzipationsversprechen, indem er
die Ideale und Entwürfe kritisch gegenliest. Marquard deckt auf, wie dort der
Mensch weiterhin unter dem Bild eines halbgelungenen Gottes verkannt und
menschliches Erkennen und Handeln am Ideal unbegrenzter Möglichkeiten
buchstäblich ver-messen wird.
Sein eigener
skeptischer Ansatz versucht eine Gegenführung, die die Begrenztheit des
Menschen ins Recht setzt: Menschliche Endlichkeit ist kein Mangel oder Fehler,
erst recht keine Verfehlung, sondern umgekehrt jene eigenauthentische
Möglichkeit, die ausdrücklich anzuerkennen ist. Marquard greift hier
existentialphilosophische Überlegungen auf, wie sie Martin Heidegger in
"Sein und Zeit" entwickelt hat.
Odo Marquard, O-Ton:
Ich habe
ohne das Eigentlichkeitspathos die Sache im Grunde sehr nüchtern mir
angeeignet, indem ich gesagt habe, der Grundsatz, der dort in der
Endlichkeitsphilosophie des frühen Heidegger eine Rolle spielt, ist eigentlich
der Satz: Das Leben ist kurz. Es ist todesbegrenzt, todesbefristet, und darum
haben wir nie genug Zeit, beliebig viel zu verändern, wir haben nie genug Zeit,
beliebig viel Vergangenheit loszuwerden, das heißt nicht, daß wir gar nicht
verändern können, natürlich können wir verändern, ... doch immer nur in sehr
begrenzten Portionen, also wir können nie beliebig weit aus unserer
Herkunftshaut heraus, und wir können nie beliebig weit ins Neue hinein, und wir
haben sozusagen nicht die Zeit, absolute Positionen zu erreichen. Das ist
dann eine neue Form von Skepsis, die man als Endlichkeitsphilosophie zugleich
bezeichnen kann, und das war so die Position, die ich in "Abschied vom
Prinzipiellen" und "Apologie des Zufälligen" entwickelt habe,
und das ist jetzt auch meine Position noch.
Sprecher:
In dieser
Philosophie der Endlichkeit hat Marquard seinen skeptischen Ansatz präzisiert
und weiterentwickelt. Das soll insbesondere Souveränitätsillusionen wehren,
die in der Skepsis selber angelegt sind. Denn der Skeptiker ist versucht, sich
hinter der großen Geste des Zweifelns zu verschanzen und sich als jemand zu
stilisieren, der über allem steht. Doch dabei erhebt er nur den Zweifel
selber zum absoluten Prinzip. Und spätestens hier schlägt Skepsis, die doch
gegen Dogmatismen aller Art angetreten war, selber in Dogmatismus um. In der
Tat ist die Ataraxie, jene Unerschütterlichkeit der Seele, nach der die
antiken Skeptiker strebten, eine ambivalente Verfassung, weil unmerklich der
Gleichmut zur Gleichgültigkeit verfällt.
Gegen solche
Souveränitätsillusionen entwirft Marquard eine Skepsis, die in ihre eigene
Endlichkeit und Bedingtheit einwilligt, indem sie neben Zweifel auch Zustimmung
einschließt.
Odo Marquard, O-Ton:
Es scheint
ein Widersprich zu sein, zwischen einerseits einer skeptischen Position, wie
ich sie habe, oder wie ich offiziell sage, daß ich sie habe - es gibt einige
Freunde von mir, Hans Michael Baumgartner zum Beispiel, der sagt: Glaubt dem
Odo ja nicht, daß er ein Skeptiker ist! - Warum? Weil bei mir zur Skepsis, die
doch eigentlich die Verweigerung von Zustimmung ist, weil dazu gehört bei mir
eine Philosophie der Zustimmung, z.B. der Zustimmung zum Bürgerlichen, ... und
wie geht das zusammen, ist das nicht ein Widerspruch? Nein, sage ich, es ist
kein Widerspruch, wenn man die großen Illusionen ernüchtert, dann kommt man auf
die Möglichkeit der kleinen Zustimmungen, die, die also menschenmöglich sind,
die gewissermaßen Menschenmaß haben, und dann entdeckt man gerade in der
Skepsis, und da würde ich dann eine Charakteristik oder Definition der Skepsis
wieder ins Spiel bringen, die mir sehr plausibel ist, nämlich Skepsis ist der
Sinn für Gewaltenteilung. Wenn viele Möglichkeiten im Spiel sind, dann
neutralisieren sie sich wechselseitig, und das gibt Freiheitsspielräume für den
Einzelnen.
Sprecher:
Marquard hat
die Lehre der Gewaltenteilung, wie sie Montesquieu für den politischen Raum
formulierte, philosophisch generalisiert: Nicht nur politische, sondern
Freiheit überhaupt bedarf der Gewaltenteilung. Die Wirklichkeit einer
Gesellschaft muß bunt sein, sie muß ganz unterschiedlichen Traditionen,
Lebensformen und Überzeugungen Raum bieten, damit Freiheit und Individualität
existieren können. Nicht ein autonomer Wille, nichts Unbedingtes, sondern -
paradoxerweise - die Bedingungen sind es, die dem Menschen Freiheit
verschaffen. Denn aufgrund ihrer Überfülle behindern und schwächen die
Einflüsse und Determinationskräfte sich gegenseitig, und genau in diesem
"Determinantengerangel" so Marquard, fällt dem Individuum ein Stück
Freiheit zu.
Und darauf
baut die List der skeptischen Vernunft, indem sie die schon bestehende
Gewaltenteilung nach Kräften weitertreibt. In erster Linie durch den Zweifel,
im Leben und ebenso in der Philosophie. Am Zweifel - im Wort steckt schon die
Zwei - bricht sich der absolute Wahrheitsanspruch eines Textes, so daß aus dem
einen Text mehrere Interpretationen und Lesarten hervorgehen. Die Maxime dieser
pluralistischen Skepsis lautet: Keine Theorie soll allein herrschen.
Aber es
drängt sich eine Gegenfrage auf: Ist die moderne Welt tatsächlich noch von
starken Traditionsunterschieden geprägt und so bunt, wie Marquard in seiner
pluralistischen Skepsis voraussetzt?
Odo Marquard:
wir leben
meiner Ansicht nach in der Gegenwart in der modernen Welt nicht in einer
traditionslosen Welt, obwohl es manchmal so aussieht, als ob das versucht
werden sollte. Wir leben in einer multitraditionellen Welt, in einer Welt, wo
sehr viele verschiedene Traditionen räumlich sehr eng zusammengekommen sind,
und sei es auch nur wegen der sehr gewachsenen, gestiegenen Mobilität der
Menschen. Früher mußte man wochenlang reisen, um bis zur nächsten Kultur zu
kommen, heute fliegen wir zwei Stunden, und sind in derselben, d.h. wir
brauchen gar nicht zu fliegen, denn wir haben sie im eigenen Lande, die
verschiedenen Kulturen. Und auch diese Pluralität der Kulturen bedeutet einen
Freiheitsgewinn, würde ich meinen. Nämlich daß wir gewissermaßen durch jede
Tradition, die da ist, von den anderen Traditonen ein wenig distanziert werden
und dadurch gewissermaßen an Möglichkeit gewinnen, individuelle Leben zu
führen.
Sprecher:
Doch die
Vielfalt traditioneller Lebenswelten ist zunehmend bedroht. Naturwissenschaft
und Technik im planetarischen Maßstab, Weltwirtschaft und internationaler
Verkehr neutralisieren die Vielfalt traditioneller oder regionaler
Lebenswelten. Marquard hat den Geisteswissenschaften die Aufgabe zugeordnet,
diese Lebensweltverluste zu kompensieren. Das hat ihm die Kritik
eingetragen, die Geisteswissenschaften einseitig auf eine konservative und traditionsbewahrende
Funktion festzulegen.
Odo Marquard, O-Ton:
wenn sie an
Traditionen erinnern, und das heißt an Geschichten erinnern, erinnern sie ja
an Geschichten in häufigen Fällen, ja in sehr wesentlichen Fällen, die noch gar
nicht zuende sind, wo also sehr viel Zukunft drin ist, ... Das würde ich
zunächst mal antworten auf den Einwand, der mir natürlich vertraut ist. Gegen
die sogenannte Kompensationstheorie der Geisteswissenschaften ist sehr viel
gesagt worden, auch sehr viel Kluges gesagt worden, ich habe sehr viel gelernt
aus der Diskussion, ich selber bin nicht der Meinung, daß ich meine These
aufgeben muß, in gar keiner Weise, ... wenn man sagt: 'Ja Sie machen die
Geisteswissenschaften sehr unkritisch: Kompensation statt Kritik - das ist dann
so das Argument, das kommt, auch das sehe ich überhaupt nicht ein. Ich würde
sagen, wer an Traditionen erinnert, erinnert an Positionen, die mit anderen
Positionen in das Verhältnis der Kritik treten können. Nur dadurch, daß wir
Traditionen haben, nur dadurch - wenn wir es etwas weniger dramatisch sagen -
nur dadurch daß wir in Üblichkeiten stecken, allerdings in mehreren, haben wir
die Chance zur Kritik, indem wir nämlich durch die eine Üblichkeit die andere
kritisieren.
Sprecher:
Niemand
fängt rein aus sich selber an, jeder wird ganz selbstverständlich in
bestimmten Traditionen und Gewohnheiten, in Üblichkeiten groß. Man macht, was
Usus ist, weit häufiger, als daß man sich originell und innovativ verhält. Das
ist faktisch so. Doch Marquard ergreift darüberhinaus Partei für das Übliche
und gegen die Veränderung: "Die Beweislast hat der Veränderer."
Insofern verwandelt er das faktische Übergewicht des Üblichen in ein normatives
Vorrecht. Gut ist es, weil wir es immer schon so gemacht haben. Hier wird der
konservative Zug des Skeptikers deutlich. Marquard sichert seinen Pluralismus
durch diese konservative Option davor ab, in postmoderne Beliebigkeit
abzudriften.
Der
Usualismus, die Orientierung am Üblichen, soll kompensieren und ein Widerlager
bilden zum rasanten Fortschritt. Die Idee der Kompensation ist ein
Schlüsselbegriff für Marquard, wirksam sowohl im Entwicklungsgang der
Geschichte als auch im Verhältnis der Wissenschaften untereinander. Kompensation
sichert, sorgt für Ausgleich und Balance.
Aber im
Blick auf die ökologische Krise wird doch immer fraglicher, ob der Geschichte
und den Menschen solche homöostatische Kraft des Selbstausgleichs noch zukommt.
Günther Anders vertritt hier die Gegenposition zu Odo Marquard. Anders sah
längst den Punkt erreicht, wo technische Möglichkeit und menschliche Moral in
ein katastrophales Mißverhältnis geraten sind.
Odo Marquard, O-Ton:
Ich bin der
Meinung, daß diese Hochrechnung auf die schlimmstmögliche Wendung der Dinge,
sei es eine entmutigende Wirkung hat, sei es eine Problem zuschüttende Wirkung
hat, weil nämlich sozusagen die Größenordnungen, die von Menschen bewältigt
werden können, dadurch überdehnt werden. Also wiederum es steckt ein
illusionäres Moment darin, in der These von Günther Anders, ich würde übrigens
sagen in der Heuristik der Furcht von Hans Jonas ist das ähnlich, ... also auch
wiederum: 'wir müssen die negative Erwartung ernster nehmen als die mögliche
positive Wendung der Dinge', impliziert die Gefahr, daß man die Probleme
illusionär so groß macht, daß sie Größenordnungen erreichen, die menschlich
nicht mehr bewältigbar sind. Und es gibt außerdem eine Maxime, in sehr
schwierigen Situationen ist es vermutlich richtiger, Optimismus zu haben als
Pessimismus zu schüren, einfach weil das Handlungsfähigkeit erhält oder
erzeugt, und ich glaube das brauchen wir heute.
Sprecher:
Solcher
Zweckoptimismus gehört zu einer skeptischen Philosohie, die stets den
psychischen Kräftehaushalt des Menschen im Blick behält, der es nicht zuletzt
um Lebensbewältigung geht: Was kann der Einzelne verkraften, ohne sich direkt
in Ablenkung und Verdrängung zu flüchten? Marquards skeptische Philosophie
unterstützt die Selbstbehauptung des Einzelnen gegen besitzergreifende Ideologien
und absolute Wahrheitsansprüche, und damit will sie das Individuum sichern im
schwindelerregenden Veränderungstempo der Moderne. Philosophie sei vor allem
ein "Orientierungsdienstleistungsgewerbe", wie Marquard
respektlos konkret formulierte. Für solche bizarren Wortkombinationen und
brillant-plastischen Formulierungen erhielt er übrigens den
Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.
Marquard hat
es nie im sicheren Reservat der akademischen Philosopie ausgehalten, er ist
immer wieder ins Freie ausgebrochen auf neues intellektuell ungesichertes
Terrain und wagt dort, wie zum Beispiel nach Tschernobyl, Riskantes und
Unfertiges zu sagen, mit einem Wort: laut zu denken.
Denn
Philosophieren bedeutet für Marquard nicht, ein Theoriegebäude zu errichten,
sondern einer ethischen Maxime zu folgen, philosohieren heißt für ihn, sich
selbst und andere in Lebenskunst zu üben.
Odo Marquard, O-Ton:
wenn nicht
die Frage der Lebenskunst, d.h. dann letztendlich auch der Sterbenskunst, denn
die gehört ja dazu, wenn die nicht mit im Spiel ist, ist die Philosophie nicht
der Mühe wert. Ich erinnere mich noch ziemlich genau im Studium an den
Augenblick, ... es war eine Situation, die normalerweise im Lebenslauf nicht
genannt wird, eine schwierige Situation lebensmäßig, wo ich mich gefragt habe,
Mensch, was nützt dieses komische Geschäft, was du da betreibst, die
Philosophie, was soll das, wenn das irgendetwas ist, was man in schwierigen
Lebenssituationen gar nicht mehr bemerkt. ...Ich möchte eine Philosophie haben,
die ich auch in schweren Lebensaugenblicken noch bemerke, die mir dann noch
etwas sagt, ....und auf dem Level möchte ich sie halten. ... Also philosophische Texte zu schreiben, von
denen ich erwarte, daß andere sie lesen nur deswegen, weil sie da sind, ist
erstens unanständig, - Texte sind immer Belästigungen anderer Menschen, die
müssen sie ja lesen, oder jedenfalls
erwartet man das, und das ist doch eine Zumutung ersten Ranges. - Also was
müssen Texte tun? Sie müssen Buße dafür leisten, daß es sie gibt. Wodurch
leisten sie am besten Buße dafür, daß es sie gibt? - Dadurch daß sie amüsant
sind. Daß sie Pointen haben, daß sie gewisse ironische Züge haben, jedenfalls
nicht langweilig sind. ... Ich sage, das hat beides vielleicht miteinander
zutun, eine Philosophie zu machen, die man in schweren Lebenslagen noch
bemerkt, das ist vermutlich eine solche, die doch so ernst ist, daß man sie nur
aushält, wenn man sie scherzhaft formuliert. So hängt beides zusammen, ja.