Sprecher:

Die Ethnologie ist vom romantischen Hauch des Abenteuers umgeben: nicht sterile Labors und ungelüftete Bibliotheken wie in anderen Wissenschaften, keine Stubenhockerei, sondern Aufbruch in die Ferne, Forschungsreisen zu unbekannten Völkern und fremden Kulturen. Die Ethno­­logie verheißt eine Begegnung mit dem ganz Anderen, so jedenfalls ihr landläufiges Bild. Doch eines ihrer berühmtesten Werke, das Buch

Traurige Tropen des französischen Philosophen und Ethnologen Claude Lévi-Strauss beginnt mit dem provozierenden Bekenntnis: "Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende." Lévi-Strauss, der diese Woche 90 Jahre alt wird, meinte dazu in einem Interview rückblickend:

 

Claude Lévi-Strauss, O-Ton:

Als ich das damals schrieb, d.h. vor ungefähr 40 Jahren, hat mich diese Art Abstand zur Öffentlichkeit, für die die Ethnologie noch ein romantisches Abenteuer war, sehr irritiert. Wo wir Ethnologen genau wußten, welche Hindernisse und welche bürokratischen und administrativen Schwierigkeiten auf uns zukamen, um uns an den Ort, der letztlich ja unser Forschungslabor war, zu begeben. Dieses Labor kann zwar 10.000 Kilometer von unserem Büro entfernt sein, aber nichtsdestotrotz ist es doch unser Forschungslabor wie das des Biologen oder des Chemikers, der sein Labor gleich nebenan hat. ... Heute, wo es keinen Fleck mehr auf der Erde gibt, wo die Menschen der westlichen Zivilisation nicht eingedrungen sind und sich niedergelassen haben, ist die ethnologische Forschung zu einer Arbeit geworden, die zwar nicht an Wichtigkeit verloren hat, aber die eine sozusagen bürokratische Dimension angenommen hat.

 

 

 

Sprecherin:

Lévi-Strauss selber gelangte auf sehr unbürokratischem Weg zur Ethnologie. 1934 hatte er einen Lehrstuhl für Soziologie in Sao Paulo erhalten. In den Semesterferien zog es ihn ins Landesinnere Brasiliens, in die unwegsamen Regionen des Matto Grosso, um die Indianer und ihre Stammeskulturen kennenzulernen. Seine aus­gedehn­ten Forschungsreisen hat er spä­ter in dem Buch Traurige Tropen festgehalten. Darin verbinden sich persön­liches Reisetagebuch  und ethnographische Studie, literarische Gestaltung und philoso­phische Reflexion zu einem der wohl beeindruckendsten Werke des 20. Jahr­hunderts. Lévi-Strauss selbst entwickelte sich in diesen Jahren zu einem Ethnologen und veränderte seinerseits die Ethnolo­gie. Er prägte sie als eine kritische Wissenschaft, die wiederanknüpfte bei ihrem philosophischen Ahnherrn Jean Jacques Rousseau. Wie Rousseau empfand Lévi-Strauss Achtung vor den sogenannten Primitiven, vor der Würde der Stammeskulturen und erkannte, daß diese kei­neswegs eine bloße Vorstufe der unsrigen darstellen, wie ein eingefleischter Eurozentrismus bis heute behauptet.

Denn die Indianer,  wo nicht gänzlich ausgerottet, werden mißachtet, vergessen und verleugnet, mitunter sogar von Repräsentanten ihres eigenen Landes, wie es Lévi-Strauss 1934 vor seiner Überfahrt nach Brasilien erlebte:

 

Sprecher:

"Ich war sehr überrascht,“ – schreibt er – „ als ich während eines Essens ... aus dem Mund des brasilianischen Botschafters in Paris die offizielle Version vernahm: 'Indianer? Ach, verehrter Herr, das sind Lichter, die alle erloschen sind. Ja, ein sehr trauriges, sehr beschämendes Kapitel in der Geschichte meines Landes. Aber die portugiesischen Siedler des 16. Jahrhunderts waren geldgierige und brutale Menschen. ... Sie bemächtigten sich der Indianer, fesselten sie vor die Kanonenmündungen und durchlöcherten sie bei lebendigem Leib. Auf diese Weise hat man sie alle erwischt, bis auf den letzten Mann. Als Soziologe können Sie in Brasilien viele anregende Dinge entdecken, aber die Indianer, die schlagen Sie sich aus dem Kopf. Sie werden keinen einzigen mehr antreffen.‘“

 

Sprecherin:

Für eine solche diskriminierende Sicht findet man auch heute, am Ende des 20. Jahrhunderts reichlich Beispiele In weiten Teilen der Welt werden aus verschiedensten Gründen Völker und Kulturen totgeschwiegen, wie der Ethnologe Klaus Müller berichtet, er lehrt zur Zeit am Kulturwissenschafltichen Institut in Essen:

 

Klaus E. Müller, O-Ton:

Das kommt ganz oft vor, etwa in der Sowjetunion, das man ungern erinnert wurde an die Völker in Sibirien, oder aber in Australien oder sonstwo, man verleugnet gern Restbevölkerungen, weil man nicht vorbildlich mit ihnen umgeht, möchte man nicht gern an sie erinnert werden. Und diese Einstellung ist durchaus verständlich. Die leugnen das auch heute noch weg. Denken Sie an die Türkei zum Beispiel: Die sagen, es gibt keine Kurden, es gibt Bergtürken, es gibt keine Kurden, und so ähnlich ist es, wenn die Brasilianer sagen, wir haben im Grunde gar keine Indianer mehr, infolgedesssen können wir deshalb auch überall Holz schlagen und alle möglichen Dinge tun, so wie in Indonesien, es gibt keine Bevölkerung im Regenwald, infolgedessen kann man ihn abhauen.

 

Sprecher:

In früheren Jahrhunderten standen Ethnologen meist an der Seite der Eroberer. Die Ethnologie sollte jenen Herrschaftsanspruch legitimieren und ideologisch absegnen, den die europäischen Kolonialmächte militärisch und politisch durchgesetzt hatten. Immer gab es aber auch Stimmen, die für die unterdrückten Völker Partei ergriffen. Und im zwanzigsten Jahrhundert dominiert unter den Völkerkundlern eindeutig die Kritik. Dafür steht insbesondere der Name Lévi-Strauss. In der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen hat er an Distanz und Urteilsvermögen gegenüber der eigenen gewonnen.  So ist bei ihm die Erforschung der anderen Gesellschaften stets begleitet von einer selbstkritischen Reflexion der unsrigen. Das Nahe und das Ferne erhellen sich wechselseitig.

 

Sprecherin:

Ethnologie hatte Lévi-Strauss ursprünglich gar nicht studiert, vielmehr Philosophie und Rechtswissenschaften. Seine Biographie wies anfangs in eine andere Richtung. Claude Lévi-Strauss wurde 1908 in Brüssel geboren, wo sein Vater gerade einige Auf­tragsarbeiten als Kunstmaler ausführte. Die Porträtmalerei er­nährte die Familie mehr schlecht als recht, und der junge Claude Lévi-Strauss lernte früh schon, neben dem Studium seinen Lebensun­terhalt selbst zu bestreiten. Unter anderem arbeitete er, weil er sich für die Lehre von Marx begeisterte, als Sekretär eines sozia­listischen Abgeordneten. Aber nicht die Politik und auch nicht der Philosophielehrerberuf konnten ihn so recht für sich einnehmen. Da lockte die Ethnologie mit der Aussicht, die Welt kennen­zulernen. Vielleicht waren es aber auch die jüdische Herkunft und Erfahrungen des Außerseitertums, die ihn für die ethnologische Frage nach dem Anderen und der anderen Kultur sensibilisierten.

 

Claude Lévi-Strauss, O-Ton:

Meine Eltern waren schon nicht mehr gläubig und fühlten sich auch nicht an die jüdische Tradition gebunden. Ich bin also völlig außerhalb davon erzogen worden. Nur, es ist klar, daß es während meiner Jugendzeit in Frankreich einen latenten Antisemitismus gab, und ich als Kind in der Schule und auf dem Gymnasium oft Beleidigungen oder Beschimpfungen ausgesetzt war. Es war nicht extrem gefährlich; vorgekommen ist es trotzdem. Sicherlich stellt diese Anfeindung ein Problem für einen jungen Juden dar, denn er fühlt sich der nationalen Gemeinschaft zugehörig, und in dieser nationalen Gemeinschaft gibt es Leute, die ihn ablehnen, die ihn in Frage stellen. Ja, vielleicht bekam man dadurch tatsächlich eine Art Übung, sich gleichzeitig drinnen und draußen zu fühlen.

 

Sprecher:

Aus dem latenten Antisemitismus, den er in der französischen Gesellschaft zu erdulden hatte, wurde nach der deutschen Okkupation im Sommer 1940 eine offene Judenverfolgung. Die Nationalsozialisten zwangen ihre Rassengesetze auch dem besetzten Frankreich auf.  Doch selbst ein gut informierter jüdischer Intellektueller wie Claude Lévi-Strauss vermochte das Ausmaß der Gefahr, in der er plötzlich schwebte, kaum zu erahnen.

 

Claude Lévi-Strauss, O-Ton:

Ich war mir dessen theoretisch, aber nicht praktisch bewußt. Als ich in Südfrankreich demobilisiert war, da es mein Regiment dorthin verschlagen hatte, bin ich nach Vichy gegangen, um dort den Minister um Erlaubnis zu bitten, zu meiner Stelle in Paris zurückzukehren, denn ich war damals Gymnasiallehrer in Paris. Das war völlig leichtfertig von mir. Ich war drauf und dran, mich in die Höhle des Löwen zu begeben. Aber der Beamte des Ministeriums in Vichy lehnte ab und sagte: "Mit dem Namen, den Sie tragen, kehren Sie besser nicht nach Paris zurück."

 

Sprecherin:

Lévi-Strauss gelang die Flucht in die Vereinigten Staaten. Im amerikanischen Exil in New York lernte er auch Roman Jakobson kennen, jenen tschechischen Sprachwissenschaftler, der ihn mit der neuen strukturalen Linguistik vertraut machte. Das geht zurück auf den Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure.

 

Sprecher:

De Saussure hatte einen revolutionären Perspektivenwechsel in der Erforschung der Sprache vollzogen. De Saussure betrachtete die Sprache nicht mehr als Arsenal von isolierten Zeichen, über die der Sprecher verfügt, sondern als autonomes System, das jedem individuellen Sprechen vorausgeht. In diesem System sind die Relationen wichtiger als die Elemente, d.h. ein einzelnes Zeichen besitzt nicht von sich her Bedeutung, sondern gewinnt diese allererst aus der Differenz zu seinen Nachbarn. Ein Gedanke, der plausibel erscheint, wenn man z.B. ein bestimmtes Wort in eine andere Sprache übersetzen will. Der Bedeutungsumfang des übersetzten Wortes bemißt sich nicht zuletzt daran, über viele benachbarte Wörter und Ausdrücke die andere Sprache verfügt. Eine solche Betrachtungsweise springt nicht von einem einzelnen Zeichen oder Symbol aus der Sprache hinaus auf die Bedeutung und auf die Sache, sondern schaut sich zunächst im Geflecht der Zeichen die benachbarten Symbole, ähnliche oder entgegensetzte, an. Mit dieser strukturalen Methode hat Lévi-Strauss die Mythen der Indianer untersucht, wie der Marburger Ethnologe Mark Münzel an einem Beispiel demonstriert.

 

Mark Münzel, O-Ton:

Er hat bei diesen Mythen auf kleine scheinbar irrelevante Details geachtet, zum Beispiel hat er in den Mythentexten gesehen, daß dort verschiedene Male Wildschweine genannt werden. Der Ethnologe, der normalerweise in den Mythentexten die Erwähnung von Wildschweinen findet, denkt sich nichts dabei – na gut, die Indianer reden von Wildschweinen - Lévi-Strauss hat sich gefragt: Was ist das Gegenteil eines Wildschweins? - Und er hat verschiedene Mythenepisoden miteinander verglichen, die ähnlich sind, wo aber jeweils verschiedene Tiere auftreten, er hat dann festgestellt, an einigen Stellen ist ein Wildschwein da, an anderen Stellen ein Jaguar: ... Und er hat sich genau angesehen, was läuft da in den Mythen unterschiedlich.

Und er hat dann festgestellt: An einigen Stellen, nämlich da, wo das Wildschwein auftaucht, geht es um Menschen, die zu Tieren werden, an anderen Stellen, da wo der Jaguar auftaucht, geht es auch um Menschen, die zu Tieren werden. Es muß also einen Unterschied geben. Worin liegt der? – Er liegt darin, daß da wo die Menschen zu Tieren werden, aber zu Jaguaren, die Mythe irgendwie gut ausgeht, da wo sie zu Tieren werden, aber zu Wildschweinen, die Mythe schlecht ausgeht. Dann hat er festgestellt, in einigen Fällen stimmt das nicht. Es geht auch gut aus, wenn sie zu Wildschweinen werden, dann hat er sich das ganz genau angesehen und hat dann bei weiterem Nachgraben in den Mythenepisoden und Originaltexten herausgefunden, es gibt zwei Arten von Wildschweinen: ein Wildschwein, das in der Horde lebt und ein Wildschwein, das alleine läuft, die auch zoologisch unterschiedlich sind. Und dann hat er festgestellt, schlecht ausgehen tut es immer dann, wenn das Wildschwein alleine läuft, wenn es aber in der Horde läuft, läuft es gut.

 

Sprecherin:

Lévi-Strauss hat aber mit dieser Methode nicht nur sprachliche Phänomene wie die Mythen untersucht, sondern den linguistischen Ansatz kon­sequent auf andere soziokulturelle Phänomene ausgeweitet und sie als symbolische Systeme interpre­tiert,  wie im folgenden den Dorfplan der Bororo, eines brasilianischen Indianerstammes:

 

Sprecher:

„Von oben gesehen“ – schreibt Lévi-Strauss -  „gleicht das Bororo-Dorf einem Wagenrad, bei dem die Familienhäuser den Umkreis bilden, die Wege die Speichen und das Männerhaus den Mittelpunkt. ... Ein Durchmesser des Dorfes ... teilt die Bevölkerung in zwei Gruppen ... diese Teilung ist aus zwei Gründen wesentlich. Erstens gehört jede Person derselben Hälfte an wie ihre Mutter, und zweitens kann sie nur ein Mitglied der anderen Hälfte heiraten. ... Die Frauen bewohnen und erben die Häuser, in denen sie geboren sind. Wenn ein Eingeborener heiratet, überschreitet er die Lichtung und  wohnt nun auf der anderen Seite. Die beiden Hälften des Dorfes bilden somit Partner, und jede gesellschaftliche oder religiöse Handlung der einen Hälfte bedingt die Anwesenheit oder die Hilfe der anderen in ergänzender Funktion... Das Wesentliche des Dorfes besteht danach weder in seiner geographischen Lage noch in den einzelnen Hütten, sondern in der oben beschriebenen Struktur, die in jedem Dorf zu finden ist. Man versteht nun, warum die Missionare die gesamte Kultur der Eingeborenen zerstören können, wenn es ihnen gelingt, zu verhindern, daß die Dörfer nach der traditionellen Bauweise erstellt werden.“

 

Sprecherin:

Im Dorfplan der Bororo ist also eine ganze Kosmologie enthalten, die Orientierung in der Welt und im Dasein gewährleistet. Allerdings ist die Struktur, wie Lévi-Strauss sie hier skizziert hat, schon idealtypisch vereinfacht und entstammt einer Rekon­struktion. Das ist entscheidend für den Strukturbegriff bei Lévi-Strauss und im Strukturalismus überhaupt: Struktur meint keine em­pirisch wahrnehmbare Form, keine Anordnung, die unmittelbar sicht­bar ist, sondern ein Gefüge, das erst logisch rekonstruiert und erschlossen werden muß. Lévi-Strauss vergleicht deshalb zunächst eine Reihe von soziokulturellen Erscheinungen, um dann mit Hilfe von Diagram­men und mathematischen Schemata ein Modell zu schaffen, das die ganze Reihe der Erscheinungen abdeckt.

 

Sprecher:

Die gesuchte Struktur ist immer Tiefenstruktur nach Art der Grammatik. So wie die Grammatik der Sprache einen begrenzten Re­gelapparat bildet, mit dem man eine unbegrenzte Zahl von Sätzen formulieren kann, genauso stellt die Struktur im Sinne von Lévi-Strauss eine formale Ordnung oder Kombinatorik dar, die eine Viel­falt von empirischen Ausführungen zuläßt. Lévi-Strauss, der selber ein großer Opernliebhaber ist, hat den Strukturbegriff mit einer musikalischen Partitur gleichgesetzt. Der Strukturalist ist gleichsam in der Rolle eines Musikforschers, der eine Reihe unterschiedlicher Aufführungen eines einzigen musikalischen Werkes erlebt und nun, indem er sie vergleicht, versucht die ihnen zugrundeliegende gemeinsame Partitur herauszufiltern.

 

Sprecherin:

In seinem ersten Hauptwerk Die elementaren Strukturen der Ver­wandtschaft hat Lévi-Strauss die strukturale Methode auf das Problem der Heiratsregeln in Stammesgesellschaften angewandt. Das Buch begrün­dete seinen Ruf als Vater des Strukturalismus, insbesondere auch weil es ihm gelang, die verwirrende Vielfalt der Regeln in einer kulturanthropologischen Grundthese zusammenzufassen: Alle Kultur beruhe auf Inzestverbot und auf Frauentausch.

 

 Claude Lévi-Strauss, O-Ton:

Die Literatur hatte Erkenntnisse über eine Vielzahl von unter­schiedlichen Heiratsformen zusammengetragen, die sich im übrigen gegenseitig widersprachen. Die Gesellschaft A machte genau das Ge­genteil von dem, was die Gesellschaft B machte usw. Indessen such­ten die Ethnologen zu jedem einzelnen Fall eine Erklärung, die mit den Eigenarten bzw. der Geschichte der betreffenden Gesellschaft zusammenhing. Ich habe nun versucht zu zeigen, daß alle diese an­scheinend widersprüchlichen und absurden Formen der Heiratsregeln, die für uns keinen Sinn machen und die schrecklich kleinlich sind, nur verschiedene Erscheinungsformen einer grundlegenden Tatsache sind. Für das Fortbestehen einer Gesellschaft müssen die biologi­schen Familien nämlich irgendwie aufbrechen, indem die Männer ihre Schwestern bzw. Töchter austauschen, und somit einer sozialen Ord­nung Platz machen. Nun erschien alles einleuchtend und man konnte belegen, daß alle diese Regeln verschiedenen Tauschformen entspre­chen, die sich mathematisch erklären lassen. Ob es nun die Männer sind, die die Frauen tauschen, oder die Frauen, die die Männer tauschen, spielt theoretisch keine Rolle. Man muß dabei nur die Zeichen umkehren. Ich habe die erste Formel genommen, weil die meisten menschlichen Gesellschaften, zu Recht oder zu Unrecht, die Dinge in dieser Weise denken. Aber es gibt einige Kulturen, die anders denken. So gibt es z.B. in Südostasien Gesellschaften, die ganz klar der Meinung sind, daß die Frauen die Männer tauschen und nicht umgekehrt. Nur kommt dies seltener vor.

 

Sprecher:

Lévi-Strauss' These über das Inzestverbot argumentiert auf völlig neue Weise: Nicht weil er biologisch schädlich und auch nicht weil er moralisch verwerflich ist, sei der Inzest verboten, son­dern weil er asozial sei: im Inzest werde die Verbindung mit der anderen Gruppe, mithin die Gesellschaft abgelehnt.  Deshalb gehört zum Verbot des Inzest das Gebot der Exogamie hinzu: Man muß nach draußen heiraten, das verbindet die Gruppen und stiftet auf der Basis von Ge­genseitigkeit Sozietät. Die biologischen Beziehungen werden durch soziale, die Bluts- durch Heiratsbande abgelöst, so geht Natur über in Kultur.

Lévi-Strauss‘ kulturanthropologische Grundthese, Inzestverbot und Exogamie bilden die fundamentalen Regeln jeder Kultur, rief allerdings  Bedenken wach, ob man in der Ethnologie, die auf verschiedenen Kontinen­ten unterschiedlichste Kulturen betrachtet, in dieser Weise generalisieren könne. Der Ethnologe Klaus Müller pflichtet Lévi-Strauss jedoch bei:

 

Klaus E. Müller, O-Ton

Generalisieren kann man nach meiner Auffassung auf jeden Fall, ich gehöre auch zu den Generalisten, werde deswegen gelegentlich geschmäht, was zum Beispiel die Feministinnen in Harnisch brachte war der Umstand, daß Lévi-Strauss die Frauen zum Objekt des Tausches machte, man könnte genauso gut sagen, die Männer werden getauscht. Im Grunde genommen sind es Gruppen, die ihre Jugendlichen gegeneinander als Heiratspartner tauschen - oder welchen Ausdruck man dafür nehmen will, aber ... was Lévi-Strauss meinte ist schon richtig: es sind Relationen, zwei Gruppen treten durch diese Beziehungen in einen engeren Verband ...  und er sagte dann, aufgrund dieses Tausches sind weitere Tauschsysteme entstanden, die Reziprozität, das ewige Geben und Nehmen in einem ausgewogenen Verhältnis, daraus entstanden dann das Zusammenarbeiten von Mann und Frau, von mehreren Familien in einem Dorf, von Verwandschaftssystemen - die Kultur insgesamt ist eigentlich ein ganzes Regelwerk von Tauschbeziehungen, die greifen ineinander, dadurch wird eine Gruppe überlebensfähig.

 

Sprecherin:

Die Proteste, zumal von feministischer Seite,  gegen Lévi-Strauss beruhten teilweise auf einem Mißverständnis. Sein Begriff vom Tausch wurde durch die moderne ökonomistische Brille betrachtet und als Kaufen und Verkaufen verkürzt interpretiert. Lévi-Strauss hingegen meinte mit dem Tausch ein fundamentales Geben und Nehmen auf materieller wie ideeller Ebene, eine elementare Kommunikation und Kooperation zwischen Gruppen, wie sie den modernen Gesellschaften mehr und mehr abhanden kommt.

 

Klaus Müller, O-Ton:

Im Zuge des Evolutionismus im 19. Jahrhundert wurde die Entwicklung einlinig nach oben gesehen, hin zu den Fitesten, und heute wissen wir, aufgrund von anderen Biologen, das es eigentlich gerechtfertigter ist, von Koevolution zu sprechen, d.h. die Organismen und Lebewesen sind am meisten überlebensfähig, die kooperieren, d.h. die so wie diese Indianergesellschaften zum Beispiel ein Dualsystem bilden, und dadurch stärker werden - ‚Vereint sind auch die schwachen mächtig!‘ - sozusagen, und solche Beispiele gibt es in vielen Teilen der Erde, von Kooperation, von komplementären Systemen, die durch die Form des Tausches – sie haben Rohstoffe untereinander getauscht, die einen waren Töpfer, die anderen Jäger, wieder andere waren Bauern, und dann haben sie Produkte getauscht und einen größeren Verband miteinander gebildet, das ist sehr wichtig, und das ist sehr wichtig auch für die moderne Diskussion der multikulturellen Gesellschaft, das führe ich immer als Beispiel an, es gibt Vorbilder dafür.

 

 

Sprecher:

Tiere tauschen nicht. Der Tausch oder Austausch ist ein genuin menschliches und kulturelles Verhalten. Lévi-Strauss findet hier eine erste Antwort auf seine große Fragestellung: Wie ist das Verhältnis von Natur und Kultur, wie geht das eine in das andere über. Das Verhältnis von Natur und Kultur ist das durchgängige Thema in den Arbeiten von Lévi-Strauss. Er hat es auf verschiedenen Gebieten untersucht. Zunächst im Bereich der Verwandtschaftssy­steme und Heiratsregeln. Danach auf dem Gebiet des Totemismus und anderer Klassifi­kationssysteme des sogenannten primitiven Denkens. Und schließlich auf dem Terrain der Mythologie. In seinem monumentalen Spätwerk Mythologica hat er über 800 Mythen aus dem amerikanisch-indianischen Kulturkreis analysiert. Der erste der vier Bände trägt den Titel Das Rohe und das Gekochte.

 

Claude Lévi-Strauss, O-Ton:

Was ich in diesen Büchern versucht habe auszudrücken, ist, daß die Indianer diesen Übergang von der Natur zur Kultur als die Erfindung des Küchenfeuers darstellen bzw. symbolisieren. Es ist wahrhaftig der zentrale Punkt in ihrer Mythologie, denn der Hauptunterschied zwischen dem Reich der Menschen und dem Reich der Tiere ist, daß die Tiere roh essen, die Menschen hingegen gekocht. Infolgedessen ist die Erfindung des Küchenfeuers das entscheidende Phänomen, das den Übergang von der Natur zur Kultur kennzeichnet.

 

Sprecherin:

Die Mythen sprechen über das Grundthema, den Übergang von der Natur zur Kultur, nicht in theoretischer, sondern in narrativ-bildhafter Weise. Sie erzählen, wie Menschen mit dämonischen Mächten um den Besitz des Feuers kämpfen, das sie benötigen, um ihre Nahrung zuzubereiten, aber auch, um den Boden durch Brandrodung urbar zu machen. Sie erzählen ebenso vom Ursprung des Wassers, von Himmel und Erde, von Göttern, Tieren und Pflanzen in einer uns fremden, surrealistisch anmuten­den Weise. Im mythologischen Reigen wandeln sich die Themen und Figuren, oder sie tau­schen ihre Plätze. Während hier Episoden verschwinden, tauchen dort andere auf, und ganze Bedeutungen verkehren sich ins Gegen­teil. Von Stamm zu Stamm wird ein Mythos ständig neu und das heißt anders erzählt. Einen Urtext gibt es deshalb ebensowenig wie einen ersten Erzähler oder eine letzte abschließende Bedeutung. Vielmehr werden die Mythen von den einzelnen Individuen immer wieder umge­dichtet und transformiert, jedoch nach Regeln, die Lévi-Strauss zufolge zugleich unbewußt und kollektiv existieren.

 

Sprecher:

In diesem verborgenen Regelsystem findet Lévi-Strauss die Antwort auf seine Frage, wie der menschliche Geist funktioniert. Das bedeutet aber, er lokalisiert den Geist in letzter Instanz nicht im Sub­jekt, sondern in der Sprache, nicht im Bewußtsein, sondern im Un­bewußten. Die Kategorie des Unbewußten hat hier freilich eine ganz andere Bedeutung als bei Freud. Freud meint mit dem Unbewußten ein Reich der Triebe und libidinösen Wünsche, Lévi-Strauss hingegen eine lo­gische Ordnung, eine Grammatik des Denkens, die dem Bewußtsein entzogen in die Tiefe der Sprache eingelassen ist.

 

Sprecherin:

Daß Lévi-Strauss das Gewicht auf das System der Sprache und auf einen unbewußt operierenden Geist legt, der gleichsam hinter dem Rücken der Sprechenden am Werke ist, hat ihm Kritik eingetragen. Man hat ihm vorgeworfen, daß er das menschliche Subjekt, das Individuum, in seinem Ausdruckswillen unterschlägt. Diesen Einwand erhebt auch der Ethnologe Mark Münzel, der selbst eine Zeit in Paris bei Lévi-Strauss studiert hat.

 

Mark Münzel, O-Ton

Er vergißt den lebendigen Mythenerzähler, der auch kreativ seine Erzählung weiterentwickelt. Und er macht alles zu einem System. ... wo die Menschen nur noch Träger von Botschaften von unbekannter Herkunft sind. Und da  würde ich widersprechen. Für mich sind die Mythenerzähler, die Dichter, die Vollführer und Weiterentwickler von Ritualen, Menschen, die kreativ etwas schaffen und nicht Tiere, die irgendwie eine Botschaft weitergeben. Und an diesem Punkt ... möchte ich persönlich einen anderen Weg gehen als Lévi-Strauss. Das ändert aber nichts daran, das es trotzdem nützlich ist, einmal hindurchzugehen durch diese harte Schule der Objektivierung bei Lévi-Strauss, das man ein bißchen zwingt sich wegzugehen von der ständigen Beachtung der psychischen Befindlichkeit des einzelnen Mythenerzählers. Das lernt man bei ihm. Wenn man das einmal gelernt hat, dann allerdings sollte man wieder zurückkehren zur psychischen Befindlichkeit des einzelnen Mythenerzählers und zu dessen einzelkünstlerischer Kreativität. Denn meines Erachtens ist jeder einzelne Mythenerzähler ein Künstler und ein Individuum.

 

Sprecher:

Daß der Mythenerzähler ein Künstler sei, dem würde auch Lévi-Strauss zustimmen. Doch was ist ein Künstler? Und wie soll man sich die men­schliche Kreativität vorstellen? In Europa, und das kritisiert Lévi-Strauss, mystifiziert man den Künstler als Genie. Ein Genie ist absolut. Ex nihilo, aus dem Nichts heraus, allein seiner Inspiration folgend, bringt das Genie etwas Neues in die Welt. Das Genie ist ein souveräner Schöpfer. Der Geniebegriff verrät theologisches Erbe, er enthält göttliche Attribute, die sich im Zuge der Säkularisierung der neuzeitliche Mensch selber angeheftet hat. Das möchte Lévi-Strauss mit seiner Kritik revidieren. Er selbst vergleicht den Künstler mit einem – wie es französisch heißt – bricoleur, einem Bastler. Der Bastler fängt nie bei Null an. Er nimmt die Arbeiten anderer auf, flickt und baut sie um, oder montiert die Sachen zu einem völlig neuen Gebilde. So hat auch die Bastelei ihr kreative Seite, das Tüfteln ist innovativ,  bringt etwas Originelles hervor. Aber der Bastler operiert stets in einer bestimmten Situation, es fehlt ihm an Werkzeug, sein Wissen ist mangelhaft. Doch er versteht es, ja es macht geradezu seine Stärke aus, unter den Bedingungen der menschlichen Endlichkeit produktiv zu sein.

 

Sprecherin:

Übertragen auf den Künstler: Auch er schafft im Zusammenhang einer Tradition: Vorstellungen, Bilder und Bücher, das Gedankengut seiner Zeit durchströmen ihn, verbinden sich mit seinen Wahrnehmungen und Wünschen, mit Impulsen aus seinem Innern, die dem Bewußtsein keineswegs transparent ist. Deshalb befördert sein Kunstwerk mehr, als er bewußt hineingelegt hat, einen Überschuß an Bedeutung, der ihm selber entgeht. Lévi-Strauss pflegte enge Beziehungen zur surrealistischen Bewegung, die auf künstlerische Weise die herrschende Bewußtseinsphilosophie kritisierte. Der Surrealismus machte im europäischen Geistesleben fruchtbar, was Lévi-Strauss außerhalb Europas in den Stammeskulturen wiederfand. Auf diesen Zusammenhang lenkt der Ethnologe Klaus Müller den Blick.

 

 

 

Klaus Müller, O-Ton:

Er war befreundet mit Max Ernst, einem Maler, und er hat gesagt, daß seine Mythologica, wie wir das im Deutschen mit einem lateinischen Titel nennen, die mythologiques aufgebaut seien wie die Collagen bei Max Ernst, also Collagen, bricoleur, das sind diese Strukturen, die diffus sind und dann zu einer Gestalt kommen, und interessant ist eben, daß diese Spätwerke Bezug nehmen auf den literarischen Surrealismus in Frankreich: André Breton, zum Beispiel. Er verwendet in einem seiner letzten Werke - ich glaube 1993 hat er das geschrieben oder ist es publiziert worden - dieselbe Technik wie die Surrealisten das getan haben, indem er also mit einer Gedichtexegese anfängt, und dann übergeht zu bestimmten Bildmotiven und von den Bildmotiven auf antike Texte, dann mittelalterliche Heiligenlegenden, dann kommt er wieder zur Musik, dann kommt er auf die fraktale Geometrie, als die nichtlineare Geometrie, und das alles verbindet er miteinander, spielt gleichsam selber damit wie ein bricoleur, um zu zeigen, daß überall immer wieder die gleichen Strukturen am Werk sind, und exakt das ist die Tradition einiger Surrealisten in Frankreich gewesen wie zum Beispiel André Breton.

 

Sprecher:

Lévi-Strauss künstlerische  Schreibweise ist nicht einfach eine spielerische Freiheit, die sich der inzwischen berühmte Ethnologe und Philosoph herausnimmt. Die Form entspricht seiner inhaltlichen These: Der menschliche Geist kennt vielerlei Gestalten, in denen er sich äußert: literarische und musikalische Form, mathematische Logik und wissenschaftliche Methode. Und indem Lévi-Strauss selber die Gestalten aufeinander bezieht und durchspielt, erklärt er sie für prinzipiell gleichberechtigt, keine habe ein Wahrheitsmonopol inne.

 

Sprecherin:

Ausdrücklich rehabilitiert er dabei Das wilde Denken – so einer seiner Buchtitel. Denn auch in den Ritualen und Mythen der Stammeskulturen offenbare sich ein ordnender, welterschließender Geist. Das bedeutet eine Kritik am europäischen Überlegenheitsanspruch, und eine Relativierung  unseres Verständnisses von Vernunft.

Lévi-Strauss bleibt jedoch dabei Universalist: im letzten sei es stets derselbe Geist, der im mythischen wie im modernen Denken am Werke ist. Insofern könne man Mythos und Wissenschaft durchaus mit­einander vergleichen und in ihren jeweiligen Besonderheiten be­stimmen.

 

Claude Lévi-Strauss, O-Ton:

Wenn wir ein Problem haben, wenden wir uns an diejenige Wissenschaft, die wir jeweils für kompetent halten, um unser Problem zu lösen. So fragen wir einen Physiker nach der Lösung eines physikalischen Problems oder einen Biologen nach der Lösung eines biologischen Problems usw. Das Besondere am mythischen Denken hingegen ist, globale Lösungen anzubieten. Totale Lösungen. Der Mythos bestätigt, daß es eine Entsprechung oder eine Äquivalenz zwischen dem physikalisch, dem biologisch und dem soziologisch formulierten Problem gibt. Für den Mythos ist es ein und dasselbe Problem, zum Beispiel zu wissen, warum die Sonne im richtigen Abstand zur Erde stehen muß. Denn wenn sie zu nah stünde, würde die Erde verbrennen, wenn sie zu weit entfernt stünde, wäre es schrecklich kalt, es würde ewige Nacht herrschen. Oder zu wissen, warum man eine Frau heiraten sollte, die einem weder zu nah ist, denn dies würde zu einer allgemeinen Konfusion der Gesellschaft führen; noch zu fern ist, denn dann wäre sie die Verbündete meiner Feinde.

 

 

Sprecher:

Die Wissenschaft verfährt analytisch, der Mythos holistisch. Dieser setzt eine Ganzheit, wo jene zergliedert. Die Wissenschaft ist dem Mythos zwar überlegen, wo es um Naturbe­herrschung geht, aber sie ist nicht wahrer in einem absoluten Sinne. Beide Denk­formen vollziehen vielmehr gänzlich andere Weisen der Welter­schließung.

Diese Rehabilitation des sogenannten wilden Denkens durch Lévi-Strauss implizierte eine Kritik an den geschichtsphilosophi­schen Ideen des Fort­schritts, der historischen Vernunft und der Selbstverwirkli­chung des Men­­schen in der Geschichte. In dieser Kritik traf sich Lévi-Strauss mit an­deren Denkern des Strukturalismus, die alle im übrigen sehr unterschiedlich dachten und auch in verschiedenen Disziplinen arbeiteten: Jacques Lacan in der Psychoanalyse, Roland Barthes in der Literaturkritik oder Michel Foucault in der Phi­losophie, um nur die wichtigsten zu nennen. 

 

Sprecherin:

Auch wenn Lévi-Strauss Distanz zu ihnen hielt, so einte die Strukturalisten doch die gemeinsame Gegenposition zur Subjektphi­losophie, wie sie in Frankreich vor allem von Sartre verfochten wurde. In den sechziger Jahren kam es zum großen Streit, in dem Sartre seinerseits den Struktura­lismus kritisierte und Lévi-Strauss konkret vorwarf, daß er über­mächtige Strukturen und Ordnungen zeichne, die verän­dernde Aktivität des Menschen dagegen geringschätze.

 

Sprecher:

An die Veränderung, jedenfalls im utopischen Sinne der Weltverbes­serung, glaubte Lévi-Strauss in der Tat nicht. Und heute tut er es noch weniger. Er erweist sich in seinem Werk als gewachsener Konservativer, dem es um Schonung des Bestehenden und Erhalt der bedrohten Vielfalt geht, noch bevor solches Denken ökologischen Nachdruck erhielt.

Seine ethnologische Erforschung der Stammeskulturen, die anders mit Zeit und Geschichte umgehen, lenkte seinen Blick umso kritischer zurück auf das selbstzerstörerische Tempo der Industriegesellschaften, auf die – wie sein Landsmann Paul Virilio es nennt – ‚beschleunigte Kultur der Moderne‘.

 

Mark Münzel, O-Ton

Ich meine, da steht er in einer alten großen Tradition, gerade der Ethnologie ... durch Reiseberichte unsere eigene Gesellschaft zu beschreiben. Und es kann ja auch nicht nur ein Antrieb für eine Wissenschaft sein, daß sie ganz Fremdes, Fernes erforschen will, aus irgendwelchen altruistischen Motiven, sondern natürlich wollen wir Ethnologen immer auch irgendwie zu uns selber zurück, das ist immer der Anfang jeder Humanwissenschaft gewesen und auch der Ethnologie. Und Lévi-Strauss hat da aufgenommen eine gute ethnologische Tradition, der gesellschaftskritischen Reisen des 17. u. 18. Jahrhunderts, und – was auch ein Ursprung der Ethnologie ist - der gesellschaftskritischen Satire, Gullivers Reise, was eine Phantasiereise war, die sich ja eigentlich bezog auf das England und Irland der Zeit des Autors Jonathan Swift, das findet sich bei Lévi-Strauss wieder und natürlich ist alles, was er schreibt auch zu verstehen, wenn er etwas schreibt über die Ursprünge von Herrschaft, von Häuptlingstum, bei den Parintintin in Brasilien oder bei den Kawahayb, wenn er da z. B. schreibt, daß hinter diesem Streben nach Herrschaft die sexuelle Lust des Mannes steht, - das ist eine sehr schöne Stelle bei ihm – dann steckt natürlich eine Kritik unserer eigenen Gesellschaft, eine Verbindung von Herrschaft und Männlichkeit bei uns mit darin, - und diese Rückbeziehung ist etwas, was nicht nur Lévi-Strauss betreibt, was er aber besonders meisterhaft und besonders schön betreibt.

 

Sprecherin:

Die Rückbeziehung der Erfahrungen mit anderen Kulturen auf die eigene Gesellschaft, auf unser Welt- und Selbstverständnis kennzeichnet die Größe des Werks von Lévi-Strauss. Es ist wohl eine Wahrheit, die nicht nur für ihn und die Ethnologie, sondern für das Reisen generell gilt: Fruchtbar wird die Bewegung in die Ferne dann, wenn man nicht nur, wie es der Tourismus anheizt, dem Reiz des Unbekannten nachjagt, und dem Zauber des Exotischen huldigt, dabei jedoch auf der Flucht vor sich selbst und dem eigenen Alltag ist, sondern wenn man sich von den Reiseerfahrungen selber betreffen läßt. Wenn man sich einen Prozeß der Selbsterkenntnis und Selbstreflexion zumutet, so daß gleichsam zur äußeren eine innere Reise hinzutritt. Diese innere Bewegung ist auch nicht immer an die Fahrt im Raum gebunden. Interessanterweise sind die bedeutendsten Ethnologen dieses Jahrhunderts keineswegs große Reisende gewesen, das gilt insbesondere auch für Lévi-Strauss, auch wenn er durch das Reisebuch Traurige Tropen über Fachkreise hinaus berühmt geworden ist.

 

Sprecher:

Die Erforschung der fremden und die Selbstreflexion der eigenen Gesellschaft, das Ferne und das Nahe, verweisen aufeinander und ihr Wechselbezug erschließt wichtige Einsichten. In einem seiner letzten Bücher mit dem Titel Die Luchsgeschichte beleuchtet Lévi-Strauss die Frage, welches Verhältnis altamerikanische Kulturen zum Fremden einnahmen, verglichen mit der europäischen Tradition. In diesem Werk stellt er die These auf, daß der indianischen Mythologie ein besonderes Verhältnis zum Anderen zugrundeliegt.

 

Claude Lévi-Strauss, O-Ton:

Was ich versucht habe in dem Buch zu zeigen, ist, daß die Philosophie - wenn man diesen Begriff hier benutzen will - der amerikanischen Indianer, schon immer dem Anderen einen Platz eingeräumt hat, da der Schöpfer sein Werk paarweise vollzogen hat. Jedesmal wenn er einen Term schuf, schuf er zugleich auch das Gegenstück oder die Abwesenheit dieses Terms usw. Allein durch die Tatsache, daß er die Indianer schuf, schuf er gleichzeitig auch die für sie völlig unbekannten "Nicht-Indianer". Nachdem er die Indianer erschaffen hatte, unterschied er sie nach Stammesgenossen und nach Feinden. Und nachdem er die Stammesgenossen geschaffen hatte, unterschied er diese nach Schwachen und Starken und so ging das unendlich weiter. Zur gleichen Zeit, wie die Indianer zu existieren begannen, begann auch etwas Anderes, was sie nicht sind, zu existieren. Folglich gab es im indianischen Denken einen leeren Platz. Als nun die Europäer bzw. die Spanier und die Portugiesen ankamen, wiesen die Indianer ihnen sofort diesen Platz zu, denn er war ja frei um sie aufzunehmen.

 

Sprecherin:

Als Cortés in Mexiko an Land ging, wurde er von den Azteken mit prächtigen Geschenken überhäuft und mit allen Zeichen der Verehrung willkommen geheißen. Daß sie ihm so friedlich und offen, in der Folge eben auch wehrlos gegenüberstanden, hatte auch religiösen Grund. Ein Mythos verkündete, daß der Gottkönig Quetzalcoatl, der in grauer Vorzeit vor seinen Feinden mit einem Floß aufs Meer hinaus geflohen sei, dereinst zurückkehren werde mit Wesen, die ihm ähnlich sähen, groß, hellhäutig und mit langem Bart. Auch die Inkas in Peru kannten solche Prophezeiungen, und in einem der heiligen Bücher der Maya liest man: "Empfanget eure Gäste, die bärtig sind und aus dem Morgenland kommen."

 

 

 

Sprecher:

Im Denken der Europäer war hingegen kein Platz für den Anderen. Sie waren zu dieser Zeit, wie der französische Historiker Lucien Fébvre untersucht hat, vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die Entdeckung Amerikas und die nachfolgende Zerstörung der altamerikanischen Hochkulturen fiel noch in die Zeit der Renaissance, der Wiederentdeckung der Antike. Und deren Literatur entlehnte man das Bild des Barbaren, um es den Indianern einfach überzustülpen.

 

Sprecherin:

Eine Ausnahme bildete der französische Philosoph Montaigne. Montaigne hat sich im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen von der Entdeckung Amerikas betreffen lassen und von der Kultur der Anderen kritisch auf die eigene zurückgeschaut. Deshalb hat sich Lévi-Strauss in dem Buch Die Luchsgeschichte dem französischen Moral­philosophen zugewandt und versucht ihn für unsere Zeit neu zu deuten.

Montaigne wurde von seiner Vernunftskepsis und seinen Selbstzweifeln an einem Abgrund entlanggetrieben. Und doch fand er dabei zu einer besonderen Stärke, zu philosophischer Lebensklugheit und Toleranz. Claude Lévi-Strauss interpretiert in dieser Weise Montaigne und spricht dabei doch auch von sich selbst. Von seinem eigenen Weg, der ihn von einer richtenden Vernunft weggeführt hat hin zu einem Diskurs der Vielfalt, zu einem Denken, das nicht recht haben will. Und diese Einsicht charakterisiert auch seine Art zu schreiben, seinen literarisch-philosophischen Stil.

 

Mark Münzel, O-Ton:

Es gibt eine sehr schöne Kontroverse von ihm, mit Paul Aspelin, einem schreibtechnisch nicht so begabten wie Lévi-Strauss, der versucht hat, ihm gewisse Detailirrtümer bei seinen Forschungen über die Nambikwara in Brasilien nachzuweisen. Und Paul Aspelin hat im Laufe der Kontroverse, die er sehr aggressiv geführt hat, Lévi-Strauss vorgeschlagen, er möge sich doch mehr auf seine Rolle als Literat besinnen, er habe ja wohl für die Traurigen Tropen den Prix Concourt, den französischen Literaturpreis bekommen, und Lévi-Strauss hat darauf nur geantwortet, Sie mögen es glauben oder nicht, aber ich habe den Prix Concourt nicht bekommen, ich war zwar vorgeschlagen dafür, aber man hat mich abgewiesen als zu wissenschaftlich.

Und das ist genau diese Spannung. Lévi-Strauss steht in der Spannung zwischen Literatur und Wissenschaft. Und das ist nun wiederum eine Spannung, die sehr wichtig ist, gerade auch für die Wissenschaft. Ich weiß nicht ob für die Literatur, aber für die Wissenschaft ist es sehr wichtig, daß sie in dieser Spannung steht, - das ist eine französische Tradition, weil eben in Frankreich, wie man hört – es scheint uns hier in Deutschland fast unglaublich, kaum vorstellbar im hiesigen Wissenschaftsbetrieb - aber es soll in Frankreich nicht unbedingt einen Wissenschaftler völlig erledigen, heißt es, wenn man von ihm sagt, er kann gut schreiben.

 

Sprecher:

Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Literatur, in das Lévi-Strauss sich mit seinem Werk stellt, ist keineswegs nur die Fortsetzung einer guten französischen Tradition philosophierender Schriftstellerei. Es ist auch die Anstrengung, eine dem Inhalt angemessene Darstellungsform zu finden. Da die Ethnologie ihre Erkenntnis in Texten organisiert, hat sie unmittelbar mit Sprache zu tun. Ihre Resultate werden nicht umso wahrer, je mehr sie von der sprachlichen Verfassung absieht, sondern um so mehr sie sich darüber im klaren wird, daß sie eine Textform ist. So verlangt die Erkenntnis des Fremden auch und vor allem eine Arbeit an der eigenen Sprache.

 

Sprecherin:

Lévi-Strauss hat für sein monumentales Oeuvre über die indianische Mythologie Altamerikas einen europäischen, einen germanischen Mythos als Gestaltungsklammer gewählt: der Ring des Nibelungen nach Richard Wagner. Der Wagnerverehrer Lévi-Strauss hat sein Werk einer musikalischen Komposition angeglichen und dem Ring entsprechend in vier Bände gegliedert. Dabei beschreibt die inhaltliche Behandlung des Themas, der  Übergang von der Natur zur Kultur selbst wiederum eine Kreisfigur.

 

 

Klaus Müller, O-Ton:

Darum schließt dieses Mythenwerk – ich glaube es sind vier Bände – das nicht von ungefähr mythologiques heißt, Logik des Mythos, und nicht Logos oder Mythologie, es schließt mit dem Titel Der nackte Mensch .... Der nackte Mensch – da sind wir wieder bei der Natur. So begründet er es auch selber, also es ist sozusagen der Generalbaß oder das Generalbaßmotiv, er selber würde von Leitmotiven sprechen, in Anlehnung an Wagner, der Hauptgegensatz ... ist der Gegensatz zwischen Natur und Kultur, über den sich alles aufbaut, und das ist das Grundproblem der Mythen, die müssen ununterbrochen zwischen Natur und Kultur vermitteln. ... Lévi-Strauss arbeitet selbst mit diesen Motiven wie der Mythos, er sagt auch, wenn man Mythen deutet, ist es so wie beim Schachspiel. Man spielt mit den Mythen Schach, und wer am Schluß gewinnt, weiß man nicht so genau.

 

 

Sprecher:

Können wir so sicher sein, daß unsere wissenschaftliche Welterklärung die richtige ist? Begreift die Wissenschaft den Mythos - oder hat nicht der Mythos das letzte Wort in der Bewältigung des Daseins? Insofern unsere Wissenschaft trotz all ihrer praktischen Wirksamkeit vielleicht auch nur einen Mythos darstellt, der uns schlecht und recht zu leben hilft, aber letzte Antworten schuldig bleibt.

Aufmerksamkeit

Sprecherin:

Lévi-Strauss glaubt an den menschlichen Geist, aber nicht an die höhere Wahrheit der wissenschaftlichen Gestalt. Seine eigene Geisteshaltung ist melancholisch. Der Melancholiker richtet voller Wehmut sein Augenmerk auf das, was vergeht und unwiederbringlich verloren scheint. Die melancholische Anlage hat wohl auch zur Ethnologie motiviert, zur Beschäftigung mit jenen räumlich und zeitlich entfernten Kulturen, die zum Untergang verurteilt sind, aber der Natur vielleicht näher stehen. Lévi-Strauss lebt und schreibt mit Abstand zur eigenen Gesellschaft, mit kritischer Distanz zu ihrem Fortschrittsglauben, ihrer blinden Betriebsamkeit und der einseitigen Betonung der vita activa des abendländischen Menschen.

So enden die Traurigen Tropen mit einem meditativen Glücksbild, das weder der Kultur noch den Menschen, sondern der Nähe zur Natur gewidmet ist. Lévi-Strauss hält inne und preist jene kostbaren Augenblicke, in denen für ihn selbst eine Wiederversöhnung des Menschen mit der Natur noch einmal flüchtig aufscheint.

Er schreibt:

 

Sprecher:

„Es ist jene Gnade, nach der jede Gesellschaft begehrt, wie auch immer ihre religiösen Überzeugungen, ihr politisches System und ihre Kultur beschaffen sein mögen; es ist jene Gnade, in der sie ihre Muße, ihr Vergnügen, ihre Ruhe und ihre Freiheit findet, jenes lebenswichtige Vermögen, das darin besteht,  in den kurzen Augenblicken, in denen es die menschliche Art erträgt, ihr bienengleiches Tun zu unterbrechen, das Wesen von dem zu erfassen, was sie war und noch immer ist, jenseits von Denken und von Gesellschaft ein Mineral zu betrachten, das schöner ist als alle menschlichen Werke, einen Duft einzuatmen im Kelch einer Lilie, weiser als unsere Bücher, mit Geduld, Ernst und gegenseitigem Verzeihen ein Zwiegespräch zu führen mit einer Katze.“