Sprecher:
Die
Ethnologie ist vom romantischen Hauch des Abenteuers umgeben: nicht sterile
Labors und ungelüftete Bibliotheken wie in anderen Wissenschaften, keine
Stubenhockerei, sondern Aufbruch in die Ferne, Forschungsreisen zu unbekannten
Völkern und fremden Kulturen. Die Ethnologie verheißt eine Begegnung mit dem
ganz Anderen, so jedenfalls ihr landläufiges Bild. Doch eines ihrer
berühmtesten Werke, das Buch
Traurige Tropen des französischen Philosophen und
Ethnologen Claude Lévi-Strauss beginnt mit dem provozierenden Bekenntnis:
"Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende." Lévi-Strauss, der
diese Woche 90 Jahre alt wird, meinte dazu in einem Interview rückblickend:
Claude
Lévi-Strauss, O-Ton:
Als ich das
damals schrieb, d.h. vor ungefähr 40 Jahren, hat mich diese Art Abstand zur
Öffentlichkeit, für die die Ethnologie noch ein romantisches Abenteuer war,
sehr irritiert. Wo wir Ethnologen genau wußten, welche Hindernisse und welche
bürokratischen und administrativen Schwierigkeiten auf uns zukamen, um uns an
den Ort, der letztlich ja unser Forschungslabor war, zu begeben. Dieses Labor
kann zwar 10.000 Kilometer von unserem Büro entfernt sein, aber
nichtsdestotrotz ist es doch unser Forschungslabor wie das des Biologen oder
des Chemikers, der sein Labor gleich nebenan hat. ... Heute, wo es keinen Fleck
mehr auf der Erde gibt, wo die Menschen der westlichen Zivilisation nicht eingedrungen
sind und sich niedergelassen haben, ist die ethnologische Forschung zu einer
Arbeit geworden, die zwar nicht an Wichtigkeit verloren hat, aber die eine
sozusagen bürokratische Dimension angenommen hat.
Sprecherin:
Lévi-Strauss
selber gelangte auf sehr unbürokratischem Weg zur Ethnologie. 1934 hatte er
einen Lehrstuhl für Soziologie in Sao Paulo erhalten. In den Semesterferien zog
es ihn ins Landesinnere Brasiliens, in die unwegsamen Regionen des Matto
Grosso, um die Indianer und ihre Stammeskulturen kennenzulernen. Seine ausgedehnten
Forschungsreisen hat er später in dem Buch Traurige
Tropen festgehalten. Darin verbinden sich persönliches Reisetagebuch und ethnographische Studie, literarische
Gestaltung und philosophische Reflexion zu einem der wohl beeindruckendsten
Werke des 20. Jahrhunderts. Lévi-Strauss selbst entwickelte sich in diesen
Jahren zu einem Ethnologen und veränderte seinerseits die Ethnologie. Er
prägte sie als eine kritische Wissenschaft, die wiederanknüpfte bei ihrem
philosophischen Ahnherrn Jean Jacques Rousseau. Wie Rousseau empfand
Lévi-Strauss Achtung vor den sogenannten Primitiven, vor der Würde der
Stammeskulturen und erkannte, daß diese keineswegs eine bloße Vorstufe der
unsrigen darstellen, wie ein eingefleischter Eurozentrismus bis heute
behauptet.
Denn die
Indianer, wo nicht gänzlich ausgerottet,
werden mißachtet, vergessen und verleugnet, mitunter sogar von Repräsentanten
ihres eigenen Landes, wie es Lévi-Strauss 1934 vor seiner Überfahrt nach
Brasilien erlebte:
Sprecher:
"Ich
war sehr überrascht,“ – schreibt er – „ als ich während eines Essens ... aus
dem Mund des brasilianischen Botschafters in Paris die offizielle Version
vernahm: 'Indianer? Ach, verehrter Herr, das sind Lichter, die alle erloschen
sind. Ja, ein sehr trauriges, sehr beschämendes Kapitel in der Geschichte
meines Landes. Aber die portugiesischen Siedler des 16. Jahrhunderts waren
geldgierige und brutale Menschen. ... Sie bemächtigten sich der Indianer,
fesselten sie vor die Kanonenmündungen und durchlöcherten sie bei lebendigem
Leib. Auf diese Weise hat man sie alle erwischt, bis auf den letzten Mann. Als
Soziologe können Sie in Brasilien viele anregende Dinge entdecken, aber die
Indianer, die schlagen Sie sich aus dem Kopf. Sie werden keinen einzigen mehr
antreffen.‘“
Sprecherin:
Für eine
solche diskriminierende Sicht findet man auch heute, am Ende des 20. Jahrhunderts
reichlich Beispiele In weiten Teilen der Welt werden aus verschiedensten
Gründen Völker und Kulturen totgeschwiegen, wie der Ethnologe Klaus Müller
berichtet, er lehrt zur Zeit am Kulturwissenschafltichen Institut in Essen:
Das kommt
ganz oft vor, etwa in der Sowjetunion, das man ungern erinnert wurde an die
Völker in Sibirien, oder aber in Australien oder sonstwo, man verleugnet gern
Restbevölkerungen, weil man nicht vorbildlich mit ihnen umgeht, möchte man
nicht gern an sie erinnert werden. Und diese Einstellung ist durchaus
verständlich. Die leugnen das auch heute noch weg. Denken Sie an die Türkei zum
Beispiel: Die sagen, es gibt keine Kurden, es gibt Bergtürken, es gibt keine
Kurden, und so ähnlich ist es, wenn die Brasilianer sagen, wir haben im Grunde
gar keine Indianer mehr, infolgedesssen können wir deshalb auch überall Holz
schlagen und alle möglichen Dinge tun, so wie in Indonesien, es gibt keine
Bevölkerung im Regenwald, infolgedessen kann man ihn abhauen.
Sprecher:
In früheren
Jahrhunderten standen Ethnologen meist an der Seite der Eroberer. Die
Ethnologie sollte jenen Herrschaftsanspruch legitimieren und ideologisch
absegnen, den die europäischen Kolonialmächte militärisch und politisch
durchgesetzt hatten. Immer gab es aber auch Stimmen, die für die unterdrückten
Völker Partei ergriffen. Und im zwanzigsten Jahrhundert dominiert unter den
Völkerkundlern eindeutig die Kritik. Dafür steht insbesondere der Name
Lévi-Strauss. In der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen hat er an Distanz
und Urteilsvermögen gegenüber der eigenen gewonnen. So ist bei ihm die Erforschung der anderen
Gesellschaften stets begleitet von einer selbstkritischen Reflexion der
unsrigen. Das Nahe und das Ferne erhellen sich wechselseitig.
Sprecherin:
Ethnologie
hatte Lévi-Strauss ursprünglich gar nicht studiert, vielmehr Philosophie und
Rechtswissenschaften. Seine Biographie wies anfangs in eine andere Richtung.
Claude Lévi-Strauss wurde 1908 in Brüssel geboren, wo sein Vater gerade einige
Auftragsarbeiten als Kunstmaler ausführte. Die Porträtmalerei ernährte die
Familie mehr schlecht als recht, und der junge Claude Lévi-Strauss lernte früh
schon, neben dem Studium seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Unter
anderem arbeitete er, weil er sich für die Lehre von Marx begeisterte, als
Sekretär eines sozialistischen Abgeordneten. Aber nicht die Politik und auch
nicht der Philosophielehrerberuf konnten ihn so recht für sich einnehmen. Da
lockte die Ethnologie mit der Aussicht, die Welt kennenzulernen. Vielleicht
waren es aber auch die jüdische Herkunft und Erfahrungen des Außerseitertums,
die ihn für die ethnologische Frage nach dem Anderen und der anderen Kultur
sensibilisierten.
Claude
Lévi-Strauss, O-Ton:
Meine Eltern
waren schon nicht mehr gläubig und fühlten sich auch nicht an die jüdische
Tradition gebunden. Ich bin also völlig außerhalb davon erzogen worden. Nur, es
ist klar, daß es während meiner Jugendzeit in Frankreich einen latenten
Antisemitismus gab, und ich als Kind in der Schule und auf dem Gymnasium oft
Beleidigungen oder Beschimpfungen ausgesetzt war. Es war nicht extrem
gefährlich; vorgekommen ist es trotzdem. Sicherlich stellt diese Anfeindung ein
Problem für einen jungen Juden dar, denn er fühlt sich der nationalen Gemeinschaft
zugehörig, und in dieser nationalen Gemeinschaft gibt es Leute, die ihn
ablehnen, die ihn in Frage stellen. Ja, vielleicht bekam man dadurch
tatsächlich eine Art Übung, sich gleichzeitig drinnen und draußen zu fühlen.
Sprecher:
Aus dem
latenten Antisemitismus, den er in der französischen Gesellschaft zu erdulden
hatte, wurde nach der deutschen Okkupation im Sommer 1940 eine offene
Judenverfolgung. Die Nationalsozialisten zwangen ihre Rassengesetze auch dem
besetzten Frankreich auf. Doch selbst ein
gut informierter jüdischer Intellektueller wie Claude Lévi-Strauss vermochte
das Ausmaß der Gefahr, in der er plötzlich schwebte, kaum zu erahnen.
Claude
Lévi-Strauss, O-Ton:
Ich war mir
dessen theoretisch, aber nicht praktisch bewußt. Als ich in Südfrankreich
demobilisiert war, da es mein Regiment dorthin verschlagen hatte, bin ich nach
Vichy gegangen, um dort den Minister um Erlaubnis zu bitten, zu meiner Stelle
in Paris zurückzukehren, denn ich war damals Gymnasiallehrer in Paris. Das war
völlig leichtfertig von mir. Ich war drauf und dran, mich in die Höhle des
Löwen zu begeben. Aber der Beamte des Ministeriums in Vichy lehnte ab und
sagte: "Mit dem Namen, den Sie tragen, kehren Sie besser nicht nach Paris
zurück."
Sprecherin:
Lévi-Strauss
gelang die Flucht in die Vereinigten Staaten. Im amerikanischen Exil in New
York lernte er auch Roman Jakobson kennen, jenen tschechischen
Sprachwissenschaftler, der ihn mit der neuen strukturalen Linguistik vertraut
machte. Das geht zurück auf den Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de
Saussure.
Sprecher:
De Saussure
hatte einen revolutionären Perspektivenwechsel in der Erforschung der Sprache
vollzogen. De Saussure betrachtete die Sprache nicht mehr als Arsenal von
isolierten Zeichen, über die der Sprecher verfügt, sondern als autonomes
System, das jedem individuellen Sprechen vorausgeht. In diesem System sind die
Relationen wichtiger als die Elemente, d.h. ein einzelnes Zeichen besitzt nicht
von sich her Bedeutung, sondern gewinnt diese allererst aus der Differenz zu
seinen Nachbarn. Ein Gedanke, der plausibel erscheint, wenn man z.B. ein
bestimmtes Wort in eine andere Sprache übersetzen will. Der Bedeutungsumfang
des übersetzten Wortes bemißt sich nicht zuletzt daran, über viele benachbarte
Wörter und Ausdrücke die andere Sprache verfügt. Eine solche Betrachtungsweise
springt nicht von einem einzelnen Zeichen oder Symbol aus der Sprache hinaus
auf die Bedeutung und auf die Sache, sondern schaut sich zunächst im Geflecht
der Zeichen die benachbarten Symbole, ähnliche oder entgegensetzte, an. Mit
dieser strukturalen Methode hat Lévi-Strauss die Mythen der Indianer
untersucht, wie der Marburger Ethnologe Mark Münzel an einem Beispiel
demonstriert.
Mark Münzel, O-Ton:
Er hat bei
diesen Mythen auf kleine scheinbar irrelevante Details geachtet, zum Beispiel
hat er in den Mythentexten gesehen, daß dort verschiedene Male Wildschweine
genannt werden. Der Ethnologe, der normalerweise in den Mythentexten die
Erwähnung von Wildschweinen findet, denkt sich nichts dabei – na gut, die
Indianer reden von Wildschweinen - Lévi-Strauss hat sich gefragt: Was ist das
Gegenteil eines Wildschweins? - Und er hat verschiedene Mythenepisoden
miteinander verglichen, die ähnlich sind, wo aber jeweils verschiedene Tiere
auftreten, er hat dann festgestellt, an einigen Stellen ist ein Wildschwein da,
an anderen Stellen ein Jaguar: ... Und er hat sich genau angesehen, was läuft
da in den Mythen unterschiedlich.
Und er hat
dann festgestellt: An einigen Stellen, nämlich da, wo das Wildschwein
auftaucht, geht es um Menschen, die zu Tieren werden, an anderen Stellen, da wo
der Jaguar auftaucht, geht es auch um Menschen, die zu Tieren werden. Es muß
also einen Unterschied geben. Worin liegt der? – Er liegt darin, daß da wo die
Menschen zu Tieren werden, aber zu Jaguaren, die Mythe irgendwie gut ausgeht,
da wo sie zu Tieren werden, aber zu Wildschweinen, die Mythe schlecht ausgeht.
Dann hat er festgestellt, in einigen Fällen stimmt das nicht. Es geht auch gut
aus, wenn sie zu Wildschweinen werden, dann hat er sich das ganz genau
angesehen und hat dann bei weiterem Nachgraben in den Mythenepisoden und Originaltexten
herausgefunden, es gibt zwei Arten von Wildschweinen: ein Wildschwein, das in
der Horde lebt und ein Wildschwein, das alleine läuft, die auch zoologisch
unterschiedlich sind. Und dann hat er festgestellt, schlecht ausgehen tut es
immer dann, wenn das Wildschwein alleine läuft, wenn es aber in der Horde
läuft, läuft es gut.
Sprecherin:
Lévi-Strauss hat aber mit dieser Methode nicht nur sprachliche Phänomene
wie die Mythen untersucht, sondern den linguistischen Ansatz konsequent auf
andere soziokulturelle Phänomene ausgeweitet und sie als symbolische Systeme
interpretiert, wie im folgenden den
Dorfplan der Bororo, eines brasilianischen Indianerstammes:
Sprecher:
Sprecher:
Sprecherin:
In seinem ersten Hauptwerk Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft
hat Lévi-Strauss die strukturale Methode auf das Problem der Heiratsregeln in
Stammesgesellschaften angewandt. Das Buch begründete seinen Ruf als Vater des
Strukturalismus, insbesondere auch weil es ihm gelang, die verwirrende Vielfalt
der Regeln in einer kulturanthropologischen Grundthese zusammenzufassen: Alle
Kultur beruhe auf Inzestverbot und auf Frauentausch.
Die
Literatur hatte Erkenntnisse über eine Vielzahl von unterschiedlichen Heiratsformen
zusammengetragen, die sich im übrigen gegenseitig widersprachen. Die
Gesellschaft A machte genau das Gegenteil von dem, was die Gesellschaft B
machte usw. Indessen suchten die Ethnologen zu jedem einzelnen Fall eine
Erklärung, die mit den Eigenarten bzw. der Geschichte der betreffenden
Gesellschaft zusammenhing. Ich habe nun versucht zu zeigen, daß alle diese anscheinend
widersprüchlichen und absurden Formen der Heiratsregeln, die für uns keinen
Sinn machen und die schrecklich kleinlich sind, nur verschiedene
Erscheinungsformen einer grundlegenden Tatsache sind. Für das Fortbestehen
einer Gesellschaft müssen die biologischen Familien nämlich irgendwie
aufbrechen, indem die Männer ihre Schwestern bzw. Töchter austauschen, und
somit einer sozialen Ordnung Platz machen. Nun erschien alles einleuchtend und
man konnte belegen, daß alle diese Regeln verschiedenen Tauschformen entsprechen,
die sich mathematisch erklären lassen. Ob es nun die Männer sind, die die
Frauen tauschen, oder die Frauen, die die Männer tauschen, spielt theoretisch
keine Rolle. Man muß dabei nur die Zeichen umkehren. Ich habe die erste Formel
genommen, weil die meisten menschlichen Gesellschaften, zu Recht oder zu
Unrecht, die Dinge in dieser Weise denken. Aber es gibt einige Kulturen, die
anders denken. So gibt es z.B. in Südostasien Gesellschaften, die ganz klar der
Meinung sind, daß die Frauen die Männer tauschen und nicht umgekehrt. Nur kommt
dies seltener vor.
Sprecher:
Lévi-Strauss'
These über das Inzestverbot argumentiert auf völlig neue Weise: Nicht weil er
biologisch schädlich und auch nicht weil er moralisch verwerflich ist, sei der
Inzest verboten, sondern weil er asozial sei: im Inzest werde die Verbindung
mit der anderen Gruppe, mithin die Gesellschaft abgelehnt. Deshalb gehört zum Verbot des Inzest das
Gebot der Exogamie hinzu: Man muß nach draußen heiraten, das verbindet die
Gruppen und stiftet auf der Basis von Gegenseitigkeit Sozietät. Die biologischen
Beziehungen werden durch soziale, die Bluts- durch Heiratsbande abgelöst, so
geht Natur über in Kultur.
Lévi-Strauss‘
kulturanthropologische Grundthese, Inzestverbot und Exogamie bilden die
fundamentalen Regeln jeder Kultur, rief allerdings Bedenken wach, ob man in der Ethnologie, die
auf verschiedenen Kontinenten unterschiedlichste Kulturen betrachtet, in
dieser Weise generalisieren könne. Der Ethnologe Klaus Müller pflichtet
Lévi-Strauss jedoch bei:
Generalisieren
kann man nach meiner Auffassung auf jeden Fall, ich gehöre auch zu den Generalisten,
werde deswegen gelegentlich geschmäht, was zum Beispiel die Feministinnen in
Harnisch brachte war der Umstand, daß Lévi-Strauss die Frauen zum Objekt des
Tausches machte, man könnte genauso gut sagen, die Männer werden getauscht. Im
Grunde genommen sind es Gruppen, die ihre Jugendlichen gegeneinander als
Heiratspartner tauschen - oder welchen Ausdruck man dafür nehmen will, aber ...
was Lévi-Strauss meinte ist schon richtig: es sind Relationen, zwei Gruppen
treten durch diese Beziehungen in einen engeren Verband ... und er sagte dann, aufgrund dieses Tausches
sind weitere Tauschsysteme entstanden, die Reziprozität, das ewige Geben und
Nehmen in einem ausgewogenen Verhältnis, daraus entstanden dann das Zusammenarbeiten
von Mann und Frau, von mehreren Familien in einem Dorf, von
Verwandschaftssystemen - die Kultur insgesamt ist eigentlich ein ganzes
Regelwerk von Tauschbeziehungen, die greifen ineinander, dadurch wird eine
Gruppe überlebensfähig.
Sprecherin:
Die
Proteste, zumal von feministischer Seite,
gegen Lévi-Strauss beruhten teilweise auf einem Mißverständnis. Sein
Begriff vom Tausch wurde durch die moderne ökonomistische Brille betrachtet und
als Kaufen und Verkaufen verkürzt interpretiert. Lévi-Strauss hingegen meinte
mit dem Tausch ein fundamentales Geben und Nehmen auf materieller wie ideeller
Ebene, eine elementare Kommunikation und Kooperation zwischen Gruppen, wie sie
den modernen Gesellschaften mehr und mehr abhanden kommt.
Klaus Müller, O-Ton:
Im Zuge des
Evolutionismus im 19. Jahrhundert wurde die Entwicklung einlinig nach oben
gesehen, hin zu den Fitesten, und heute wissen wir, aufgrund von anderen
Biologen, das es eigentlich gerechtfertigter ist, von Koevolution zu sprechen,
d.h. die Organismen und Lebewesen sind am meisten überlebensfähig, die
kooperieren, d.h. die so wie diese Indianergesellschaften zum Beispiel ein
Dualsystem bilden, und dadurch stärker werden - ‚Vereint sind auch die
schwachen mächtig!‘ - sozusagen, und solche Beispiele gibt es in vielen Teilen
der Erde, von Kooperation, von komplementären Systemen, die durch die Form des
Tausches – sie haben Rohstoffe untereinander getauscht, die einen waren Töpfer,
die anderen Jäger, wieder andere waren Bauern, und dann haben sie Produkte getauscht
und einen größeren Verband miteinander gebildet, das ist sehr wichtig, und das
ist sehr wichtig auch für die moderne Diskussion der multikulturellen
Gesellschaft, das führe ich immer als Beispiel an, es gibt Vorbilder dafür.
Sprecher:
Tiere
tauschen nicht. Der Tausch oder Austausch ist ein genuin menschliches und
kulturelles Verhalten. Lévi-Strauss findet hier eine erste Antwort auf seine
große Fragestellung: Wie ist das Verhältnis von Natur und Kultur, wie geht das
eine in das andere über. Das Verhältnis von Natur und Kultur ist das
durchgängige Thema in den Arbeiten von Lévi-Strauss. Er hat es auf
verschiedenen Gebieten untersucht. Zunächst im Bereich der Verwandtschaftssysteme
und Heiratsregeln. Danach auf dem Gebiet des Totemismus und anderer Klassifikationssysteme
des sogenannten primitiven Denkens. Und schließlich auf dem Terrain der
Mythologie. In seinem monumentalen Spätwerk Mythologica
hat er über 800 Mythen aus dem amerikanisch-indianischen Kulturkreis
analysiert. Der erste der vier Bände trägt den Titel Das Rohe und das Gekochte.
Claude
Lévi-Strauss, O-Ton:
Was ich in
diesen Büchern versucht habe auszudrücken, ist, daß die Indianer diesen
Übergang von der Natur zur Kultur als die Erfindung des Küchenfeuers darstellen
bzw. symbolisieren. Es ist wahrhaftig der zentrale Punkt in ihrer Mythologie,
denn der Hauptunterschied zwischen dem Reich der Menschen und dem Reich der
Tiere ist, daß die Tiere roh essen, die Menschen hingegen gekocht.
Infolgedessen ist die Erfindung des Küchenfeuers das entscheidende Phänomen,
das den Übergang von der Natur zur Kultur kennzeichnet.
Sprecherin:
Die Mythen
sprechen über das Grundthema, den Übergang von der Natur zur Kultur, nicht in
theoretischer, sondern in narrativ-bildhafter Weise. Sie erzählen, wie Menschen
mit dämonischen Mächten um den Besitz des Feuers kämpfen, das sie benötigen, um
ihre Nahrung zuzubereiten, aber auch, um den Boden durch Brandrodung urbar zu
machen. Sie erzählen ebenso vom Ursprung des Wassers, von Himmel und Erde, von
Göttern, Tieren und Pflanzen in einer uns fremden, surrealistisch anmutenden
Weise. Im mythologischen Reigen wandeln sich die Themen und Figuren, oder sie
tauschen ihre Plätze. Während hier Episoden verschwinden, tauchen dort andere
auf, und ganze Bedeutungen verkehren sich ins Gegenteil. Von Stamm zu Stamm
wird ein Mythos ständig neu und das heißt anders erzählt. Einen Urtext gibt es
deshalb ebensowenig wie einen ersten Erzähler oder eine letzte abschließende
Bedeutung. Vielmehr werden die Mythen von den einzelnen Individuen immer wieder
umgedichtet und transformiert, jedoch nach Regeln, die Lévi-Strauss zufolge
zugleich unbewußt und kollektiv existieren.
Sprecher:
In diesem
verborgenen Regelsystem findet Lévi-Strauss die Antwort auf seine Frage, wie
der menschliche Geist funktioniert. Das bedeutet aber, er lokalisiert den Geist
in letzter Instanz nicht im Subjekt, sondern in der Sprache, nicht im
Bewußtsein, sondern im Unbewußten. Die Kategorie des Unbewußten hat hier
freilich eine ganz andere Bedeutung als bei Freud. Freud meint mit dem
Unbewußten ein Reich der Triebe und libidinösen Wünsche, Lévi-Strauss hingegen
eine logische Ordnung, eine Grammatik des Denkens, die dem Bewußtsein entzogen
in die Tiefe der Sprache eingelassen ist.
Sprecherin:
Daß
Lévi-Strauss das Gewicht auf das System der Sprache und auf einen unbewußt
operierenden Geist legt, der gleichsam hinter dem Rücken der Sprechenden am
Werke ist, hat ihm Kritik eingetragen. Man hat ihm vorgeworfen, daß er das
menschliche Subjekt, das Individuum, in seinem Ausdruckswillen unterschlägt.
Diesen Einwand erhebt auch der Ethnologe Mark Münzel, der selbst eine Zeit in
Paris bei Lévi-Strauss studiert hat.
Er vergißt
den lebendigen Mythenerzähler, der auch kreativ seine Erzählung
weiterentwickelt. Und er macht alles zu einem System. ... wo die Menschen nur
noch Träger von Botschaften von unbekannter Herkunft sind. Und da würde ich widersprechen. Für mich sind die
Mythenerzähler, die Dichter, die Vollführer und Weiterentwickler von Ritualen,
Menschen, die kreativ etwas schaffen und nicht Tiere, die irgendwie eine Botschaft
weitergeben. Und an diesem Punkt ... möchte ich persönlich einen anderen Weg
gehen als Lévi-Strauss. Das ändert aber nichts daran, das es trotzdem nützlich
ist, einmal hindurchzugehen durch diese harte Schule der Objektivierung bei
Lévi-Strauss, das man ein bißchen zwingt sich wegzugehen von der ständigen
Beachtung der psychischen Befindlichkeit des einzelnen Mythenerzählers. Das
lernt man bei ihm. Wenn man das einmal gelernt hat, dann allerdings sollte man
wieder zurückkehren zur psychischen Befindlichkeit des einzelnen
Mythenerzählers und zu dessen einzelkünstlerischer Kreativität. Denn meines
Erachtens ist jeder einzelne Mythenerzähler ein Künstler und ein Individuum.
Sprecher:
Daß der
Mythenerzähler ein Künstler sei, dem würde auch Lévi-Strauss zustimmen. Doch
was ist ein Künstler? Und wie soll man sich die menschliche Kreativität
vorstellen? In Europa, und das kritisiert Lévi-Strauss, mystifiziert man den
Künstler als Genie. Ein Genie ist absolut. Ex nihilo, aus dem Nichts heraus,
allein seiner Inspiration folgend, bringt das Genie etwas Neues in die Welt.
Das Genie ist ein souveräner Schöpfer. Der Geniebegriff verrät theologisches
Erbe, er enthält göttliche Attribute, die sich im Zuge der Säkularisierung der
neuzeitliche Mensch selber angeheftet hat. Das möchte Lévi-Strauss mit seiner
Kritik revidieren. Er selbst vergleicht den Künstler mit einem – wie es
französisch heißt – bricoleur, einem Bastler. Der Bastler fängt nie bei Null
an. Er nimmt die Arbeiten anderer auf, flickt und baut sie um, oder montiert
die Sachen zu einem völlig neuen Gebilde. So hat auch die Bastelei ihr kreative
Seite, das Tüfteln ist innovativ, bringt
etwas Originelles hervor. Aber der Bastler operiert stets in einer bestimmten
Situation, es fehlt ihm an Werkzeug, sein Wissen ist mangelhaft. Doch er
versteht es, ja es macht geradezu seine Stärke aus, unter den Bedingungen der
menschlichen Endlichkeit produktiv zu sein.
Sprecherin:
Übertragen
auf den Künstler: Auch er schafft im Zusammenhang einer Tradition:
Vorstellungen, Bilder und Bücher, das Gedankengut seiner Zeit durchströmen ihn,
verbinden sich mit seinen Wahrnehmungen und Wünschen, mit Impulsen aus seinem
Innern, die dem Bewußtsein keineswegs transparent ist. Deshalb befördert sein
Kunstwerk mehr, als er bewußt hineingelegt hat, einen Überschuß an Bedeutung,
der ihm selber entgeht. Lévi-Strauss pflegte enge Beziehungen zur
surrealistischen Bewegung, die auf künstlerische Weise die herrschende
Bewußtseinsphilosophie kritisierte. Der Surrealismus machte im europäischen
Geistesleben fruchtbar, was Lévi-Strauss außerhalb Europas in den
Stammeskulturen wiederfand. Auf diesen Zusammenhang lenkt der Ethnologe Klaus
Müller den Blick.
Klaus Müller, O-Ton:
Er war
befreundet mit Max Ernst, einem Maler, und er hat gesagt, daß seine Mythologica, wie wir das im Deutschen
mit einem lateinischen Titel nennen, die mythologiques
aufgebaut seien wie die Collagen bei Max Ernst, also Collagen, bricoleur, das
sind diese Strukturen, die diffus sind und dann zu einer Gestalt kommen, und
interessant ist eben, daß diese Spätwerke Bezug nehmen auf den literarischen
Surrealismus in Frankreich: André Breton, zum Beispiel. Er verwendet in einem
seiner letzten Werke - ich glaube 1993 hat er das geschrieben oder ist es
publiziert worden - dieselbe Technik wie die Surrealisten das getan haben,
indem er also mit einer Gedichtexegese anfängt, und dann übergeht zu bestimmten
Bildmotiven und von den Bildmotiven auf antike Texte, dann mittelalterliche
Heiligenlegenden, dann kommt er wieder zur Musik, dann kommt er auf die
fraktale Geometrie, als die nichtlineare Geometrie, und das alles verbindet er
miteinander, spielt gleichsam selber damit wie ein bricoleur, um zu zeigen, daß
überall immer wieder die gleichen Strukturen am Werk sind, und exakt das ist
die Tradition einiger Surrealisten in Frankreich gewesen wie zum Beispiel André
Breton.
Sprecher:
Lévi-Strauss
künstlerische Schreibweise ist nicht
einfach eine spielerische Freiheit, die sich der inzwischen berühmte Ethnologe
und Philosoph herausnimmt. Die Form entspricht seiner inhaltlichen These: Der
menschliche Geist kennt vielerlei Gestalten, in denen er sich äußert: literarische
und musikalische Form, mathematische Logik und wissenschaftliche Methode. Und
indem Lévi-Strauss selber die Gestalten aufeinander bezieht und durchspielt,
erklärt er sie für prinzipiell gleichberechtigt, keine habe ein
Wahrheitsmonopol inne.
Sprecherin:
Ausdrücklich
rehabilitiert er dabei Das wilde Denken
– so einer seiner Buchtitel. Denn auch in den Ritualen und Mythen der
Stammeskulturen offenbare sich ein ordnender, welterschließender Geist. Das
bedeutet eine Kritik am europäischen Überlegenheitsanspruch, und eine
Relativierung unseres Verständnisses von
Vernunft.
Claude
Lévi-Strauss, O-Ton:
Wenn wir ein
Problem haben, wenden wir uns an diejenige Wissenschaft, die wir jeweils für
kompetent halten, um unser Problem zu lösen. So fragen wir einen Physiker nach
der Lösung eines physikalischen Problems oder einen Biologen nach der Lösung
eines biologischen Problems usw. Das Besondere am mythischen Denken hingegen
ist, globale Lösungen anzubieten. Totale Lösungen. Der Mythos bestätigt, daß es
eine Entsprechung oder eine Äquivalenz zwischen dem physikalisch, dem
biologisch und dem soziologisch formulierten Problem gibt. Für den Mythos ist
es ein und dasselbe Problem, zum Beispiel zu wissen, warum die Sonne im
richtigen Abstand zur Erde stehen muß. Denn wenn sie zu nah stünde, würde die
Erde verbrennen, wenn sie zu weit entfernt stünde, wäre es schrecklich kalt, es
würde ewige Nacht herrschen. Oder zu wissen, warum man eine Frau heiraten
sollte, die einem weder zu nah ist, denn dies würde zu einer allgemeinen
Konfusion der Gesellschaft führen; noch zu fern ist, denn dann wäre sie die
Verbündete meiner Feinde.
Sprecher:
Sprecherin:
Sprecher:
Seine
ethnologische Erforschung der Stammeskulturen, die anders mit Zeit und
Geschichte umgehen, lenkte seinen Blick umso kritischer zurück auf das
selbstzerstörerische Tempo der Industriegesellschaften, auf die – wie sein
Landsmann Paul Virilio es nennt – ‚beschleunigte Kultur der Moderne‘.
Mark Münzel,
O-Ton
Ich meine,
da steht er in einer alten großen Tradition, gerade der Ethnologie ... durch
Reiseberichte unsere eigene Gesellschaft zu beschreiben. Und es kann ja auch
nicht nur ein Antrieb für eine Wissenschaft sein, daß sie ganz Fremdes, Fernes
erforschen will, aus irgendwelchen altruistischen Motiven, sondern natürlich
wollen wir Ethnologen immer auch irgendwie zu uns selber zurück, das ist immer
der Anfang jeder Humanwissenschaft gewesen und auch der Ethnologie. Und Lévi-Strauss
hat da aufgenommen eine gute ethnologische Tradition, der gesellschaftskritischen
Reisen des 17. u. 18. Jahrhunderts, und – was auch ein Ursprung der Ethnologie
ist - der gesellschaftskritischen Satire, Gullivers Reise, was eine
Phantasiereise war, die sich ja eigentlich bezog auf das England und Irland der
Zeit des Autors Jonathan Swift, das findet sich bei Lévi-Strauss wieder und
natürlich ist alles, was er schreibt auch zu verstehen, wenn er etwas schreibt
über die Ursprünge von Herrschaft, von Häuptlingstum, bei den Parintintin in
Brasilien oder bei den Kawahayb, wenn er da z. B. schreibt, daß hinter diesem
Streben nach Herrschaft die sexuelle Lust des Mannes steht, - das ist eine sehr
schöne Stelle bei ihm – dann steckt natürlich eine Kritik unserer eigenen
Gesellschaft, eine Verbindung von Herrschaft und Männlichkeit bei uns mit
darin, - und diese Rückbeziehung ist etwas, was nicht nur Lévi-Strauss
betreibt, was er aber besonders meisterhaft und besonders schön betreibt.
Sprecherin:
Die Rückbeziehung
der Erfahrungen mit anderen Kulturen auf die eigene Gesellschaft, auf unser
Welt- und Selbstverständnis kennzeichnet die Größe des Werks von Lévi-Strauss.
Es ist wohl eine Wahrheit, die nicht nur für ihn und die Ethnologie, sondern
für das Reisen generell gilt: Fruchtbar wird die Bewegung in die Ferne dann,
wenn man nicht nur, wie es der Tourismus anheizt, dem Reiz des Unbekannten
nachjagt, und dem Zauber des Exotischen huldigt, dabei jedoch auf der Flucht
vor sich selbst und dem eigenen Alltag ist, sondern wenn man sich von den
Reiseerfahrungen selber betreffen läßt. Wenn man sich einen Prozeß der Selbsterkenntnis
und Selbstreflexion zumutet, so daß gleichsam zur äußeren eine innere Reise
hinzutritt. Diese innere Bewegung ist auch nicht immer an die Fahrt im Raum
gebunden. Interessanterweise sind die bedeutendsten Ethnologen dieses
Jahrhunderts keineswegs große Reisende gewesen, das gilt insbesondere auch für
Lévi-Strauss, auch wenn er durch das Reisebuch Traurige Tropen über Fachkreise hinaus berühmt geworden ist.
Sprecher:
Die
Erforschung der fremden und die Selbstreflexion der eigenen Gesellschaft, das
Ferne und das Nahe, verweisen aufeinander und ihr Wechselbezug erschließt
wichtige Einsichten. In einem seiner letzten Bücher mit dem Titel Die Luchsgeschichte beleuchtet
Lévi-Strauss die Frage, welches Verhältnis altamerikanische Kulturen zum
Fremden einnahmen, verglichen mit der europäischen Tradition. In diesem Werk
stellt er die These auf, daß der indianischen Mythologie ein besonderes Verhältnis
zum Anderen zugrundeliegt.
Claude
Lévi-Strauss, O-Ton:
Was ich
versucht habe in dem Buch zu zeigen, ist, daß die Philosophie - wenn man diesen
Begriff hier benutzen will - der amerikanischen Indianer, schon immer dem
Anderen einen Platz eingeräumt hat, da der Schöpfer sein Werk paarweise
vollzogen hat. Jedesmal wenn er einen Term schuf, schuf er zugleich auch das
Gegenstück oder die Abwesenheit dieses Terms usw. Allein durch die Tatsache,
daß er die Indianer schuf, schuf er gleichzeitig auch die für sie völlig
unbekannten "Nicht-Indianer". Nachdem er die Indianer erschaffen
hatte, unterschied er sie nach Stammesgenossen und nach Feinden. Und nachdem er
die Stammesgenossen geschaffen hatte, unterschied er diese nach Schwachen und
Starken und so ging das unendlich weiter. Zur gleichen Zeit, wie die Indianer
zu existieren begannen, begann auch etwas Anderes, was sie nicht sind, zu existieren.
Folglich gab es im indianischen Denken einen leeren Platz. Als nun die Europäer
bzw. die Spanier und die Portugiesen ankamen, wiesen die Indianer ihnen sofort
diesen Platz zu, denn er war ja frei um sie aufzunehmen.
Sprecherin:
Als Cortés
in Mexiko an Land ging, wurde er von den Azteken mit prächtigen Geschenken
überhäuft und mit allen Zeichen der Verehrung willkommen geheißen. Daß sie ihm
so friedlich und offen, in der Folge eben auch wehrlos gegenüberstanden, hatte
auch religiösen Grund. Ein Mythos verkündete, daß der Gottkönig Quetzalcoatl,
der in grauer Vorzeit vor seinen Feinden mit einem Floß aufs Meer hinaus geflohen
sei, dereinst zurückkehren werde mit Wesen, die ihm ähnlich sähen, groß,
hellhäutig und mit langem Bart. Auch die Inkas in Peru kannten solche
Prophezeiungen, und in einem der heiligen Bücher der Maya liest man:
"Empfanget eure Gäste, die bärtig sind und aus dem Morgenland kommen."
Sprecher:
Sprecherin:
Mark Münzel, O-Ton:
Es gibt eine
sehr schöne Kontroverse von ihm, mit Paul Aspelin, einem schreibtechnisch nicht
so begabten wie Lévi-Strauss, der versucht hat, ihm gewisse Detailirrtümer bei
seinen Forschungen über die Nambikwara in Brasilien nachzuweisen. Und Paul
Aspelin hat im Laufe der Kontroverse, die er sehr aggressiv geführt hat,
Lévi-Strauss vorgeschlagen, er möge sich doch mehr auf seine Rolle als Literat
besinnen, er habe ja wohl für die Traurigen
Tropen den Prix Concourt, den französischen Literaturpreis bekommen, und
Lévi-Strauss hat darauf nur geantwortet, Sie mögen es glauben oder nicht, aber
ich habe den Prix Concourt nicht bekommen, ich war zwar vorgeschlagen dafür,
aber man hat mich abgewiesen als zu wissenschaftlich.
Und das ist
genau diese Spannung. Lévi-Strauss steht in der Spannung zwischen Literatur und
Wissenschaft. Und das ist nun wiederum eine Spannung, die sehr wichtig ist,
gerade auch für die Wissenschaft. Ich weiß nicht ob für die Literatur, aber für
die Wissenschaft ist es sehr wichtig, daß sie in dieser Spannung steht, - das
ist eine französische Tradition, weil eben in Frankreich, wie man hört – es
scheint uns hier in Deutschland fast unglaublich, kaum vorstellbar im hiesigen
Wissenschaftsbetrieb - aber es soll in Frankreich nicht unbedingt einen Wissenschaftler
völlig erledigen, heißt es, wenn man von ihm sagt, er kann gut schreiben.
Sprecher:
Das
Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Literatur, in das Lévi-Strauss
sich mit seinem Werk stellt, ist keineswegs nur die Fortsetzung einer guten
französischen Tradition philosophierender Schriftstellerei. Es ist auch die
Anstrengung, eine dem Inhalt angemessene Darstellungsform zu finden. Da die
Ethnologie ihre Erkenntnis in Texten organisiert, hat sie unmittelbar mit
Sprache zu tun. Ihre Resultate werden nicht umso wahrer, je mehr sie von der
sprachlichen Verfassung absieht, sondern um so mehr sie sich darüber im klaren
wird, daß sie eine Textform ist. So verlangt die Erkenntnis des Fremden auch
und vor allem eine Arbeit an der eigenen Sprache.
Sprecherin:
Lévi-Strauss
hat für sein monumentales Oeuvre über die indianische Mythologie Altamerikas
einen europäischen, einen germanischen Mythos als Gestaltungsklammer gewählt:
der Ring des Nibelungen nach Richard Wagner. Der Wagnerverehrer Lévi-Strauss
hat sein Werk einer musikalischen Komposition angeglichen und dem Ring
entsprechend in vier Bände gegliedert. Dabei beschreibt die inhaltliche
Behandlung des Themas, der Übergang von
der Natur zur Kultur selbst wiederum eine Kreisfigur.
Darum
schließt dieses Mythenwerk – ich glaube es sind vier Bände – das nicht von
ungefähr mythologiques heißt, Logik
des Mythos, und nicht Logos oder Mythologie, es schließt mit dem Titel Der nackte Mensch .... Der nackte Mensch
– da sind wir wieder bei der Natur. So begründet er es auch selber, also es ist
sozusagen der Generalbaß oder das Generalbaßmotiv, er selber würde von
Leitmotiven sprechen, in Anlehnung an Wagner, der Hauptgegensatz ... ist der
Gegensatz zwischen Natur und Kultur, über den sich alles aufbaut, und das ist
das Grundproblem der Mythen, die müssen ununterbrochen zwischen Natur und
Kultur vermitteln. ... Lévi-Strauss arbeitet selbst mit diesen Motiven wie der
Mythos, er sagt auch, wenn man Mythen deutet, ist es so wie beim Schachspiel.
Man spielt mit den Mythen Schach, und wer am Schluß gewinnt, weiß man nicht so
genau.
Sprecher:
Können wir
so sicher sein, daß unsere wissenschaftliche Welterklärung die richtige ist?
Begreift die Wissenschaft den Mythos - oder hat nicht der Mythos das letzte
Wort in der Bewältigung des Daseins? Insofern unsere Wissenschaft trotz all
ihrer praktischen Wirksamkeit vielleicht auch nur einen Mythos darstellt, der
uns schlecht und recht zu leben hilft, aber letzte Antworten schuldig bleibt.
Aufmerksamkeit
Sprecherin:
Lévi-Strauss
glaubt an den menschlichen Geist, aber nicht an die höhere Wahrheit der
wissenschaftlichen Gestalt. Seine eigene Geisteshaltung ist melancholisch. Der
Melancholiker richtet voller Wehmut sein Augenmerk auf das, was vergeht und
unwiederbringlich verloren scheint. Die melancholische Anlage hat wohl auch zur
Ethnologie motiviert, zur Beschäftigung mit jenen räumlich und zeitlich
entfernten Kulturen, die zum Untergang verurteilt sind, aber der Natur
vielleicht näher stehen. Lévi-Strauss lebt und schreibt mit Abstand zur eigenen
Gesellschaft, mit kritischer Distanz zu ihrem Fortschrittsglauben, ihrer
blinden Betriebsamkeit und der einseitigen Betonung der vita activa des
abendländischen Menschen.
So enden die
Traurigen Tropen mit einem
meditativen Glücksbild, das weder der Kultur noch den Menschen, sondern der
Nähe zur Natur gewidmet ist. Lévi-Strauss hält inne und preist jene kostbaren
Augenblicke, in denen für ihn selbst eine Wiederversöhnung des Menschen mit der
Natur noch einmal flüchtig aufscheint.
Er schreibt:
Sprecher:
„Es ist
jene Gnade, nach der jede Gesellschaft begehrt, wie auch immer ihre religiösen
Überzeugungen, ihr politisches System und ihre Kultur beschaffen sein mögen; es
ist jene Gnade, in der sie ihre Muße, ihr Vergnügen, ihre Ruhe und ihre
Freiheit findet, jenes lebenswichtige Vermögen, das darin besteht, in den kurzen Augenblicken, in denen es die
menschliche Art erträgt, ihr bienengleiches Tun zu unterbrechen, das Wesen von
dem zu erfassen, was sie war und noch immer ist, jenseits von Denken und von
Gesellschaft ein Mineral zu betrachten, das schöner ist als alle menschlichen
Werke, einen Duft einzuatmen im Kelch einer Lilie, weiser als unsere Bücher,
mit Geduld, Ernst und gegenseitigem Verzeihen ein Zwiegespräch zu führen mit
einer Katze.“