1.Sprecher:
Warum
bringen die Menschen Prozesse in Gang, die ihre Existenzgrundlagen zu
vernichten drohen? Sie wollen die Natur beherrschen, aber ihre Wissenschaft
entbindet noch weit mächtigere Zerstörungskräfte. Die Technik ist heute so
unberechenbar in ihren Wirkungen geworden, wie es ehemals die Natur war. Die
Menschen haben die Zeichen und Bilder vermehrt, mit denen sie die Wirklichkeit
kontrollieren, aber dadurch ist die Wirklichkeit immmer unwirklicher geworden.
2.Sprecher:
Manche
sprechen zwar immer noch von abstellbaren Nebenwirkungen des Fortschritts und
bedauerlichen Betriebsunfällen der Geschichte, aber der Verdacht wird immer
unabweisbarer, daß etwas grundsätzlich schiefläuft im Projekt der Moderne, und
daß das Licht der Aufklärung vielleicht einen falschen Weg gewiesen hat.
War es ein
Irrlicht? Anders gefragt: Ist die Vernunft eigentlich vernünftig? Haben wir
uns zu einseitig am Logos orientiert und die anderen menschlichen Vermögen, die
Gefühls- und Sinneskräfte, das Leidenschaftliche, verkümmern lassen?
1.Sprecher:
"Logik
und Leidenschaft" - so heißt ein Forschungsprojekt in Berlin, das solchen
Fragen einer Vernunft- und Aufklärungskritik auf interdisziplinärer Ebene
nachgeht. Auf den Weg gebracht haben es vor zehn Jahren der Soziologe und
Philosoph Dietmar Kamper und der Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf.
Es ist
insbesondere das Denken Dietmar Kampers, das den Ansatz und die Fragestellungen
des Projekts geprägt hat. Kamper gilt in Deutschland als Hauptvertreter einer
philosophischen Postmoderne. In seinem Denken verbindet sich der Ansatz der
Kritischen Theorie, insbesondere Adornos, mit den Strömungen des französischen
Poststrukturalismus. Es geht Kamper dabei aber nicht - wie ihm oft vorgehalten
wird - um ein Votum für eine Gegenaufklärung. Er fordert vielmehr eine zweite
Aufklärung, eine Aufklärung über die Aufklärung und wendet sich gegen eine
Flucht in Irrationalismen.
2.Sprecher:
Die Folie
für Kampers Vernunftkritik bildet denn auch jene Argumentation, die Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrem Werk "Dialektik der
Aufklärung" entwickelt haben:
Vernunft und
Aufklärung seien keineswegs nur historisch zufällig pervertiert worden, sie
enthielten vielmehr schon in ihrem Ansatz ein fatales Gewaltmoment.
In der
Vernunft herrsche ein Zwang zum System. Vernunft betreibe eine gewaltsame
Vereinheitlichung, in der alles Einzelne und Unvergleichliche seiner
Besonderheit beraubt und in der alles Fremde entweder angeeignet oder
ausgeschlossen wird. Der rationale Blick beraubt die Natur ihrer Würde und
reduziert sie auf bloßen Stoff, der den Zwecken des Menschen zu dienen hat.
"Die Natur wird", wie Heidegger das einmal ausgedrückt hat, "zu
einer einzigen riesenhaften Tankstelle."
1.Sprecher:
Und nicht
nur gegenüber der äußeren, auch gegenüber der inneren Natur des Menschen setzt
die Vernunft ihren Herrschaftsanspruch durch. Sie unterdrückt die innere
Vielfalt der Wünsche und Phantasien, die Welt der Gefühle und der Sinnlichkeit
zugunsten eines einheitlichen und gepanzerten Selbst. Die sogenannte normale
Persönlichkeit kennzeichnet eine repressive und überzogene Selbst-Beherrschung.
Das sind
freilich Vorgänge, die nicht erst mit der Herausbildung der abendländischen
Rationalität begonnen haben, sondern schon im Mythos den Prozeß der
Zivilisation steuerten. Vernunft setzt darin undurchschaut fort, was schon der
Mythos leistete: Abwehr von Angst vor allem Fremden, jedoch eine Abwehr, die
selber gegenüber dem Fremden gewalttätig wird.
2.Sprecher:
Kamper
weitet die Kritik der Aufklärung aus zu einer Kritik des
Zivilisationsprozesses. In einer Fülle von Veröffentlichungen, in immer neuen
wechselnden Annäherungen hat er den Prozeß der Zivilisation untersucht. Für
Kamper handelt es sich um eine lange Geschichte der Abstraktion. Abstraktion
bestimmt dem Umgang des Menschen mit der Welt. Abstraktion meint, daß die
Menschen sich immer mehr distanzieren und ablösen von den naturhaften Bedingungen
ihrer Existenz. Abstraktion bedeutet Herrschaft des Geistes über die Materie
durch Wissen, Werkzeuge und Waffen.
Aber warum?
Hat die Geschichte ein Ziel? Folgt die Entwicklung der Menschheit einem
heimlichen Programm? Kamper gibt eine geschichtsphilosophische Deutung: Der
Mensch möchte die Stelle Gottes einnehmen, er möchte sich und die Welt neu
erschaffen, und dabei sei die Technologie nur die Fortsetzung der Theologie mit
anderen Mitteln.
O-Ton,
Kamper:
"In der
Ausbildung der künstlichen Welt, (...) in Form eines technologischen
Großprojekts auf diesem Planeten Erde steckt für mich verkappt oder offen ein
religiöses oder, wenn man so will, ein theologisches Fundament. Und zwar (...)
insofern als die Technik in ihrem gesamten Entwurf, so erscheint es jetzt immer
deutlicher, die Substituierung der göttlichen Schöpfung, also der durch Gott,
oder das, was man früher Gott nannte, zustandegekommenen Schöpfung ist, also
der Natur. Substituierung der Natur durch die Technik ist in gewisser Weise die
Antwort, die praktische Antwort der Menschen auf die Provokation, daß sie
selbst nicht Schöpfer ihrer selbst sind. Daß sie zunächst einmal geboren
werden, und zwar in Generationen, daß sie die anderen Menschen brauchen, um
aufzuwachsen, daß sie irgendwann dann auch von der Bildfläche verschwinden
müssen, was in Anbetracht der Permanenz der Bilder auch eine Art Skandal ist,
für jeden Einzelnen sowieso. (...) Aber der Antrieb, denke ich mir, ein Versuch
der Selbstvergöttlichung, also so etwas wie eine praktizierte Hybris. So
jedenfalls nannten das die Alten, die alten Griechen und die alten Juden."
1.Sprecher:
Aufklärung
und Fortschritt führen Kamper zufolge deshalb in die Katastrophe, weil sie
weiterhin von unbewußten Motiven gesteuert werden, die verleugnet umso
mächtiger und umso fataler fortwirken. Denn das Verdrängte oder Verleugnete
behält seine Macht und kehrt irgendwann in katastrophenartiger Form wieder, solange
es nicht bewußt gemacht und durchgearbeitet ist.
2.Sprecher:
'Wiederkehr
des Verdrängten' ist ein psychoanalytischer Begriff für Vorgänge aus dem
Seelenleben des einzelnen Individuums. Kamper überträgt diese psychoanalytische
Erkenntnis auf die Gattungsgeschichte. Der Zivilisationsprozeß muß noch einmal
durchgearbeitet werden. Und das Forschungsprojekt "Logik und
Leidenschaft" soll auf breitester Ebene solch eine Aufarbeitung leisten,
es soll rekonstruieren, was durch Abstraktion und Rationalisierung auf der
Strecke geblieben ist. Jedes Einzelbewußtsein hat jedoch seinen blinden Fleck,
jede Erkenntnismethode hat ihre Einseitigkeit. Deshalb bedarf es einer
Vielzahl der Stimmen und einer Vielfalt der Diskurse. Christoph Wulf erläutert,
wie das Projekt schon von seiner ganzen Konzeption und Organisation her
versucht, sich der komplexen Thematik sprach- und fachübergreifend zu nähern.
O-Ton, Wulf:
"Ein
Prinzip ist das Internationale gewesen, das Europäische mit den entsprechenden
Sprach- und Kulturdifferenzen. Wir haben ja oft in zwei drei Sprachen
kommuniziert, manchmal mit Simultanübersetzung, sehr oft aber auch mit
wechselseitiger Hilfe. Und dabei haben wir die Erfahrung gemacht, daß dieses
Verfahren die Kommunikation verlangsamt und das Zuhören wesentlich stärkt. Man
ist weniger schnell mit dem Wort, weniger schnell mit der eigenen Position, und
ist viel mehr geneigt, sich auf die Position des Anderen einzulassen, wenn es
eine Sprachbarriere gibt, und da ist dann sogar die fremde Sprache oft hilfreich.
Die kann ein ganz eigenartiges Medium der Komplexitätserzeugung des Diskurses
werden.
Ein zweites
Prinzip: das Überschreiten der Disziplinen. Wir haben, (...) etwa Kollegen
aus 30, 40 Disziplinen an diesen ganzen Kolloquien beteiligt gehabt, das bedeutet
von vornherein einen Bruch, und das war auch unsere Absicht, der Disziplingrenzen.
Uns interessierte nicht so sehr, was in den Disziplinen erarbeitet wurde,
sondern was zwischen den Disziplinen, in den Brüchen passierte. Und die
Themen, die wir gewählt haben, sind ja auch solche, für die keine Disziplin
zuständig ist, etwa der Körper oder die Liebe. Indem man diese Themen in die
Disziplinen einfügt, richtet man sie zu, man versetzt ihnen ein Korsett, und
wir haben versucht, gerade dadurch daß man Teilnehmer aus sehr
unterschiedlichen Disziplinen zusammengebracht hat, diese Zurichtungen nicht
stattfinden zu lassen und eher die Disziplingrenzen zu zerbrechen und zu ganz neuen
Konstellationen zu kommen, Konstellationen des Denkens und des Betrachtens."
2.Sprecher:
Im Rahmen
des Projektes "Logik und Leidenschaft" gab es zehn Kongresse, die von
1981 bis 1987 in verschiedenen europäischen Städten veranstaltet wurden. Die
Themen waren: "Die Wiederkehr des Körpers"; "Das Schwinden der
Sinne"; "Lachen, Gelächter, Lächeln"; "Die erloschene
Seele"; "Das Heilige"; "Die sterbende Zeit"; "Das
Schicksal der Liebe", - um nur einige zu nennen.
1.Sprecher:
Was
verbindet diese verschiedenen Themenbereiche? - Es sind alles eigentümlich
flüchtige Gegenstände, die nicht recht in die Schubfächer der
wissenschaftlichen Disziplinen passen, die sich dem direkten analytischen
Zugriff ebenso entziehen wie einer bündigen Definition. Das, worum es in ihnen
geht, ist uns fast schon verloren und gerade deshalb gesucht.
2.Sprecher:
So ist es
bezeichnend, daß der erste Kongreß die Wiederkehr des Körpers thematisierte.
Denn schließlich erzwang "Der Prozeß der Zivilisation" - wie der
Soziologe Norbert Elias in seinem gleichnamigen Werk herausarbeitete - eine
fortschreitende Unterwerfung und Disziplinierung des Körpers in allen seinen
Regungen: Triumph des Geistes über den Körper, des Logos über die
Leidenschaften. - Am Körper, dem man heute wieder mehr Aufmerksamkeit schenkt,
aktualisiert sich die Frage nach dem Verhältnis von Logik und Leidenschaft.
1.Sprecher:
Die
unterschiedlichen Beiträge des Kongresses verklären jedoch keineswegs den
Körper als Hort des wahren Selbst, als unverstellte menschliche Natur.
Der Körper
ist vielmehr bis in seine vermeintlich ureigensten Bedürfnisse und Wünsche
hinein zutiefst durch die Geschichte und die Gesellschaft geprägt. "Die
Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere", schreibt der
französische Philosoph Michel Foucault. Der Körper, der sich heute begeistert
im Sport oder in den Körpertherapien auslebt, ist selbst schon ein abstrakter
Körper. Ein Körper, der funktionieren soll, der sich in gesellschaftliche
Erfordernisse einfügen soll.
Andererseits
rebelliert der Körper immmer wieder gegen die gesellschaftlichen Nötigungen:
gegen Konkurrenz, entfremdete Arbeit und Zeithetze, imdem er sich gleichsam
querstellt - durch Krankheit, im Wahn oder auch in der Sexualität. Am Körper
lassen sich die Narben entziffern, die der menschliche Fortschritt ihm
schlug.
2.Sprecher:
Der Körper
ist ein neuralgischer Punkt des Zivilisationsprozesses - und das gilt auch für
die anderen Gegenstandsbereiche: die Sinne, die Seele, die Zeit, die Liebe - es
sind alles Bruchstellen der Kultur, an denen sich die Triumphe und die Opfer,
Errungenschaften wie auch Entstellungen des Zivilisationsprozesses
entschlüsseln lassen. Das Forschungsprojekt übernimmt hier eine zweifache
Aufgabe: erstens zu rekonstruieren, d.h. nachzubilden und wiederherzustellen,
was historisch verloren und zerstört worden ist; zweitens zu dekonstruieren,
d.h. abzubauen und zu entschärfen, was verdrängt worden ist und als Verdrängtes
einer Zeitbombe gleichkommt.
1.Sprecher:
Das
Forschungsprojekt liest dergestalt die Geschichte gegen den Strich. Die Zukunft
im Blick wird die Geschichte nochmals rückbuchstabiert bis in die
vorgeschichtlichen Spuren menschlichen Selbstverständnisses hinein. Eine
Spurensuche, die zugleich behutsam und genau vorgehen will.
Dazu bedarf
es nicht nur eines vielschichtigen methodischen Einsatzes von Philosophie,
Psychoanalyse, Geschichte und anderen Disziplinen; es bedarf auch gleichsam
eines Ethos der Methode: Es kommt auf eine Offenheit des Erkennenden an, die
der Flüchtigkeit des zu Erkennenden entspricht. Man muß zulassen, daß es bei
der Arbeit an den Problemen etwas gibt, das nicht aufgeht, - daß vielleicht am
Ende die Rätsel sich vermehrt haben werden. Eine Form der Erkenntnis, die auf
ihre Objekte nicht gewalttätig identifizierend zugreift, sondern sich ihnen
öffnet und sie damit schont. Und damit auch offener ist für neue Fragen und
vielfältige Perspektiven.
2.Sprecher:
Solche neuen
Fragen stellt Gerburg Treusch-Dieter, Dozentin an der Freien Unversität Berlin.
Sie thematisiert die patriarchalische Struktur des Zivilisationsprozesses und
hat in ihren kritisch-feministischen Untersuchungen Verbindungslinien freigelegt,
die von der modernen Gentechnologie bis in die Mythologie zurückreichen.
Gerburg Treusch-Dieter hat an Denktabus gerührt, und das Projekt ermutigte
dazu.
O-Ton,
Treusch-Dieter:
"...1983
war dann dieses Kolloquium in Wien und das Entscheidende war, daß ich zum
ersten Mal, was mir vielleicht überhaupt noch nie passiert war, mich nicht
unter Rechtfertigungszwang fühlte, bezogen auf das, was ich arbeitete, was
meine Fragestellungen sind, sondern daß per se, ohne daß Formen der Legitimation
oder des Zweifels, ist das Wissenschaft, ist das nicht Wissenschaft, überhaupt
zur Debatte standen, daß per se ein Einverständnis war, an diesen Punkten gilt
es zu denken, an diesen Punkten gilt es zu experimentieren, an diesen Punkten
darf auch etwas ins Unreine gesagt werden, an diesen Punkten wird Raum gegeben,
für Fragestellungen, die insbesondere zu dem Zeitpunkt in einem relevanten
Rahmen noch nirgendwo aufgegriffen worden sind, (...) und ich muß sagen, daß
für mich die Person von Kamper, seinen Denkraum natürlich eingeschlossen, für
eine hochinteressante, für mich immer noch nicht in irgend einer Weise
erschöpfte Synthese steht; also von wo aus er den Aufbruch von '68 umgesetzt
hat in Fragestellungen, die sehr sehr viel weiter reichen und die es wagen,
sich immer wieder aufs neue auf keine politische Richtung festschreiben zu lassen,
obwohl sie in sich und an sich zutiefst politische Fragestellungen sind."
1.Sprecher:
Mit Logik
und Leidenschaft wird nämlich die Frage nach der menschlichen
Erfahrungsfähigkeit aufgeworfen, die ein jedes kritische Denken und Handeln zur
Vorraussetzung hat. Erfahrungsprozesse erfordern, daß Logik und Leidenschaft,
Denken und Fühlen zusammenkommen und in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis
stehen.
2.Sprecher:
Seit Kants
"Kritik der Urteilskraft" wurde immer wieder die Einbildungskraft
als Medium der Versöhnung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit ins Spiel
gebracht, und es war die Romantik, die von der Einbildungskraft, insbesondere
in der Kunst, eine universale Versöhnung von Geist und Materie, von Mensch und
Natur erhoffte. Dietmar Kamper hat diese Fäden wiederaufgenommen und die
Einbildungskraft, ihre Geschichte und ihre Probleme, zum zentralen Thema
seiner Arbeit gemacht.
O-Ton,
Kamper:
"Als
ich anfing, über Einbildungskraft nachzudenken (...), hatte ich den Eindruck,
daß die Einbildungskraft auf der Gegenseite der gängigen Methoden der
Weltaneignung sich aufhält und ein kleines vergessenes Tagtraum- und
Nachttraumvermögen ist. (...) In einer Welt der Bilderfluten müßte gerade die
Einbildungskraft fähig sein, eine Art Widerstandspotential auszubilden;
denn was mir aufgefallen war, war, daß gerade die Menschen die sich in ihrer
Lebensführung vollständig oder fast vollständig der Vernunft und ihren
Prinzipien unterstellten, unterstellt haben, daß gerade diese Menschen den
Bilderfluten völlig ausgesetzt sind. Also niemand ist so fernsehsüchtig wie der
hochgetrimmte Intellektuelle, die einfachen Menschen pennen nach einiger Zeit,
die Intellektuellen sitzen davor, fasziniert...; das hat aber glaube ich damit
zu tun, daß die andere Seite der Vernunft sich nun gewissermaßen ihr Recht
holt, habe ich auch an mir erfahren, ich nehme mich da nicht aus. Also gegen
diese Art von Bildwahn oder Bildersucht hilft nach meiner Einsicht nicht die
Vernunft, sondern nur die Einbildungskraft, und zwar eine methodisch
organisierte, eine über sich selbst aufgeklärte, eine vernünftig gemachte oder
verständlich sich auslegende Einbildungskraft, die eine theoretische Arbeit und
eine Reflexionsarbeit fordert."
1.Sprecher:
Kamper weiß,
daß im ausgehenden 20.Jahrhundert die Einbildungskraft kein unschuldiges
Vermögen ist, an das unreflektiert eine Utopie der Versöhnung anknüpfen könnte,
wie man immer wieder hoffte - von der Romantik über den Surrealismus bis hin
zur Studentenrevolte und ihrem Motto: "Die Phantasie an die Macht".
Die
Phantasie ist vielmehr schon an der Macht, wenn man sich die Bilderfluten der
Kulturindustrie vergegenwärtigt. Deshalb hängt hier alles an einer gelingenden
Unterscheidung der Einbildungskraft im positiven Sinne von der Macht der
vorfabrizierten Bilder. Die Einbildungskraft ist für Kamper ein körperliches
Gedächtnis, das den Menschen mit der Erde verbindet. Ihre Bilder unterscheiden
sich von den Bildern, mit denen uns heute die Medien überschwemmen. Diese sind
entmaterialisierte Bilder im Dienst der Abstraktion. Sie sind Produkte des
Imaginären, zu dem sich die Einbildungskraft deformiert hat.
2.Sprecher:
Kamper
bemüht sich um eine Rehabilitierung der Einbildungskraft gegen ihre heutigen
Verfallsformen. Logik und Leidenschaft miteinander zu verbinden, bedeutet für
ihn eher, nach einem Vermögen der Subjektivität zu fragen. Bei Christoph Wulf
tritt dagegen der intersubjektive Aspekt stärker hervor: Er fragt nach einem
veränderten Verhältnis zum Anderen, zu einem anderen Subjekt, aber auch zum
Objekt in einem Erkenntnisprozeß. Denn im Projekt Logik und Leidenschaft geht
es auch um eine andere Art der Erkenntnis, eine Erkenntnis, die das zu Erkennende
nicht außenvorläßt, abgetrennt vom Subjekt im objektivierenden Zugriff,
sondern den einseitigen Erkenntnisvorgang gleichsam umzukehren sucht. Eine
Auslieferung an das Andere, um es so in sich zur Entfaltung zu bringen. Eine
Erkenntnis, die das Objekt schont, indem sie sich ihm anverwandelt. Eine solche
Erkenntnis nennt Wulf im Anschluß an einen Begriff von Platon und Aristoteles
Mimesis.
O-Ton, Wulf:
"Ich
denke, daß in dem Projekt Logik und Leidenschaft, soweit ich es beeinflußt
habe, vieles, - bevor ich überhaupt den Begriff Mimesis verwendet habe -, mit
dem Mimetischen zu tun hat. Es geht in dem Mimetischen um einen
nichtbegrifflichen Zugang zur Welt, der sinnlich ist, der gleichsam eine Brücke
zwischen Mensch und Gegenstand und Welt schlägt. Es ist kein irrationaler
Begriff, im Mimetischen sind durchaus rationale Elemente drin, nur ist das
Mimetische mehr oder etwas Anderes, nämlich das, was das Sinnliche einschließt
im Unterschied zur Rationalität, jetzt verstanden als zweckrationales
Verhältnis zur Welt.(...) Aber der entscheidende Punkt ist der: sich dem Fremden
ähnlich machen; oder um das noch zu erzählen, wie das in dieser Geschichte
ist: Da ist ein Maler, ein chinesischer Maler, der in sein Bild verschwindet,
als er es fertig gemalt hat. Und wenn Sie das mal als Metapher nehmen für das,
was hier gemeint ist, der mimetische Prozeß, der den Menschen dazu führt von
sich selbst abzusehen, über seine Ich-Grenzen hinauszutreten, sich auf etwas
einzulassen, also in diesem Fall etwa auf die Figurationen eines Bildes."
2.Sprecher:
Das
Rationale und das Mimetische bezeichnen demnach entgegengesetzte Verhältnisse
zum Anderen. Das Rationale ist ein begriffliches Erfassen und zielt auf die
Vereinahmung des Anderen für selbstgesetzte Zwecke. Das Mimetische hingegen
verwandelt sich selbst ein Stück weit dem Anderen an: sich auf den Anderen einzulassen
bedeutet eben den Anderen in sich hineinzulassen.
Mimetisch
verhält sich der Mime, der Schauspieler. Die Rolle, die er erlernt und spielt,
ist eine Fremdheit, in die er sich einleben muß. Er gibt der fremden Gestalt in
sich einen Raum. Er versteht den Anderen, indem er ihn in sich lebendig werden
läßt. Und das ist dann nicht nur Nachahmung, sondern - wie man auch sagen
könnte - eine Vorahmung, denn Gestalten wie Hamlet oder Othello existieren
ansonsten nur in der Literatur.
1.Sprecher:
Mimesis ist
Identifikation mit dem Anderen aber zugunsten der Fremdheit, damit gerade das
Gegenteil dessen was landläufig unter Identifikation verstanden wird, wo man
sich im Anderen nur spiegeln will und die wirkliche Andersheit des Anderen
bekämpft oder ignoriert. Wo das Andere reduziert wird auf das Selbst.
Und das ist
dann das Selbst-Verständliche.
Neue
Zugangsweisen zur Welt suchen heißt: man muß sich mit dem Selbstverständlichen
anlegen. Die menschliche Erfahrungsfähigkeit läßt sich nur retten, wenn man
die Fremdheit zuläßt, das Fremdwerden der Welt und das Fremdwerden seiner
selbst. Die Vielzahl der Stimmen muß nicht aufgehen in einer letzten Übereinstimmung.
2.Sprecher:
Ein solches
Plädoyer für Pluralismus auch in unserem Innenleben, - "Demokratie in
uns" sozusagen - richtet sich gegen die klassische Vorstellung von
Subjektivität als einem Ich, das sich selbst besitzt und im Griff hat. Die
Frühromantik hat eine Vorstellung von Subjektivität entwickelt, deren Reichtum
gerade daraus erwuchs, daß man sich selber entgeht, daß man sich nicht gehört.
Ein solches Plädoyer richtet sich auch gegen die gewaltsamen Vereinfachungen
der Welt, gegen die Reduktion von Komplexität. Umgekehrt läge eine Chance
darin, selber immer komplexer zu werden, eigene Vielschichtigkeit aufkommen zu
lassen, um es so - mimetisch wiederum - mit dieser komplizierten und
widersprüchlichen Welt aufzunehmen.
O-Ton,
Kamper:
"Also:
so kompliziert werden in seinem Denken, wie die Welt schon kompliziert ist, der
Tendenz nach, würde uns dazu bringen, vielleicht etwas mehr zu verstehen. Und
das bedeutet zugleich, (...) daß die Menschen eine dunkle Stelle in ihrem eigenen
Wesen haben, die sie nicht kennen. Und das hat etwas mit ihrer Schöpferkraft zu
tun, mit ihrer Produktivität, die, wie ja jeder weiß, körperlich und geistig
vorhanden ist, deren Auswirkungen und Rückwirkungen wir aber noch nicht recht
verstehen."