O-Ton, zwei Kinder

- Woher kommen die Buchstaben, werden die beim Bürgermeister erfunden, der sagt, dieses Zeichen zum Beispiel ist das ‘A’ oder dieses ist das ‘N’, habe ich mich schon öfters gefragt.

- Ich frage mich immer, wieso heißt der Tisch ‘Tisch’?

- Ich weiß, weil die Tische vom Tischler gemacht werden.

- Und woher kommt ‘Tischler’?

- Das Wort?

- Ja, wie ‘Mädchen’, woher kommt ‘Mädchen’?

 

Sprecherin:

Caroline und Lukas, zwei siebenjährige Kinder, sinnen gemeinsam über den Ursprung der Sprache nach, eine der großen Fragen der Kultur und Menschheitsgeschichte.

Kinder sind neugierig. Sie entdecken die Welt mit frischen Augen. Nichts ist ihnen selbstverständlich. Alles dünkt ihnen neu, rätselhaft und erklärungsbedürftig. Deshalb stellen sie Fragen über Fragen. Nach Gott und der Welt. Nach den nächstbesten ebenso wie nach den letzten Dingen: 'Warum kriegen die Menschen eigentlich Haare?' 'Wie kommen die Wörter in meinen Kopf?' 'Und weiß die Katze, daß sie eine Katze ist?'

 

Sprecher:

Ein Kind kann mehr Fragen stellen, als zehn Weise beantworten können, sagt der Volksmund. Kinder bohren den Erwachsenen sprichwörtlich Löcher in den Bauch: Alles soll man ihnen erklären, begründen und auseinanderlegen.

Für Kinder, aber ebenso für Erwachsene gilt: Die Frage, nicht die Antwort ist das Ferment des Geistes. Die Frage öffnet das Tor zu Wahrheit und neuem Wissen.

 

Musik (Eingangslied der) Sesamstraße - "Der, die, das - wer, wie, was - wieso, weshalb, warum - wer nicht fragt, bleibt dumm ..."

 

Sprecherin:

Von den Er­wachsenen werden die Äußerungen aus dem Kindermund meist als naiv belächelt und abgetan.  Eltern geht die ewige Fragerei irgendwann auf die Nerven. Viele glauben auch, Kinder besäßen noch nicht die geistige Reife, um mit ihnen schwierige Themen zu erörtern. Aber es gibt einige Philosophen und Pädagogen, die hier ganz anderer Meinung sind, die es für möglich, ja sogar für geboten halten, mit Kindern zu philosophieren. Zu ihnen gehört die österreichische Philosophin Daniela Camhy.

 

O-Ton, Daniela Camhy:

Das sind meistens sehr grundlegende Fragen, über die Erwachsene vielleicht gar nicht mehr nachdenken. Kinder hinterfragen etwas, das für uns selbstverständlich ist. ... Wir kennen alle die Warum-Fragen, die Kinder immer wieder stellen, oder die Frage 'Was ist ...?' 'Was ist ein Traum?' - 'Was ist Zeit?' Mein Sohn hat einmal gefragt: 'Was ist die Ferne?'... Und wir haben lange über die Ferne gesprochen und wir sind dann auf Raum und Zeit gekommen, und da war er eigentlich noch sehr klein. ... Da werden Kinder meistens unterschätzt, daß sie vieles noch nicht verstehen oder nicht begreifen. Und mir kommt es so vor, daß wir Erwachsene den Kindern nicht richtig zuhören, und ich glaube, das ist erst einmal ein sehr wichtiger Punkt, den Kindern zuzuhören und sie als Gesprächspartner ernstzunehmen, das ist eine Vorstufe zum Philosophieren. Man merkt oft, daß die Fragen von Kindern belächelt werden - 'Ist das nicht lieb, was er oder sie gefragt oder gesagt hat?' - Aber daß sich ein Gespräch entwickelt, wirklich ein Dialog zwischen Erwachsenen und Kindern, daß ist eigentlich nicht so häufig.

 

Sprecher:

Gespräche über metaphysische Fragen führt Daniela Camhy nicht nur mit ihren eigenen Kindern. Die österreichische Philosophin aus Graz ist eine Pionierin. Inspiriert von amerikanischen Vorbildern begann sie schon in der ersten Hälfte der achtziger Jahre mit Kindern zu philosophieren, zum Beispiel in einem Gesprächskreis mit Grundschülern über das Thema Denken und Gedanken:

 

O-Ton, Kinder zusammen mit Daniela Camhy:

-Ich bin neugierig was ihr unter Denken versteht und unter Gedanken. Was glaubt ihr, ist denn eigentlich das Denken? - Eine schwere Frage.

- Ich glaube, das ist ein Kontakt zwischen Geist und Körper.

- Zum Beispiel, wenn ich nicht ganz sicher bin, was ich mache, dann denke ich erst über die Sache nach und dann mache ich es mit meinem Körper. Also wenn ich eine Geschichte schreibe, denke ich zuerst nach, wovon sie handeln soll, und die Sätze, die ich bilden will, und dann schreibe ich sie erst hin.

- Ist Nachdenken dasselbe wie Denken? (Daniela Camhy)

- Ja, aber immer wenn ich nachdenke und über etwas anderes noch nachdenke, dann kommen mir so viele Gedanken in den Kopf, daß sich bei mir alles -durcheinanderkommt, und dann muß ich wieder nachdenken, was ich gerade sagen wollte.

- Für mich wäre es fad, wenn ich die ganze Zeit nur über eine einzige Sache nachdenke.

 

Sprecherin:

Daniela Camhy liefert den Kindern nicht vermeintlich überlegene Ansichten oder fertige Standpunkte. Vielmehr fragt sie nach und regt auf diese Weise die Kinder an, ihre Gedankengänge weiterzuführen und zu präzisieren.

 

O-Ton, Kinder zusammen mit Daniela Camhy:

- Meinst Du, das ist gleichzeitig, was man denkt und was man redet? (Daniela Camhy)

- Ja.

- Das muß nicht sein. man kann ja auch denken, ohne daß man redet.

- Was glaubt ihr, woher kommen die Gedanken? (Daniela Camhy)

- Aus dem Kopf.

- Aus dem Kopf, Laurenz? (Daniela Camhy)

- Aus dem Gehirn.

- Nein, ich glaube, daß die Gedanken eine Mischung aus Verstand und Eigenschaften, also wie jemand ist, die Persönlichkeit und Geist und Gehirn ist, also einfach eine Mischung aus verschiedenen Sachen, die jemand hat.

- Aber das ist ja dann praktisch auch eine eigene Sache.

 

Sprecherin:

Kinder entdecken die Welt mit einem unbefangenen Geist. Ihr Denken gerät spontan in Bewegung, wo das des Erwachsenen oft im Korsett von Routine und Konvention gefangensitzt. Kinder schauen und spekulieren, fragen und wundern sich. In der Haltung des Staunens und Sich-Wunderns über Welt, wie sie für Kinder charakteristisch ist, erkannte Aristoteles jedoch den Grundantrieb des Philosophie­rens. Er schreibt:

 

Sprecher:

"Denn Verwundern war den Men­schen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens. Indem sie sich anfangs über das unmittelbar Auffällige verwunderten, dann allmählich fortschritten und auch über Größeres sich in Zweifel einließen, z.B. über die Erscheinungen an dem Mond, der Sonne und den Gestirnen."

 

Sprecherin:

In der unbekümmerten Fähigkeit zu staunen und die Dinge von Grund auf zu befragen, besteht eine Nähe zwischen Kindheit und Philosophie, erklärt Detlef Horster, Professor für Philosophie an der Universität Hannover.

 

O-Ton: Detlef Horster

In der Philosophie ist das so, daß man etwas zurücktritt aus dem Alltag, heraustritt aus dem Alltag und denkt über das All­täglich-Selbstverständliche nach. Die Kinder sind immer noch darüber verwundert, was ihnen alltäglich begegnet, darüber sind die Erwachsenen gar nicht mehr verwundert. Und deswegen sind die Kinder auch so unbefangen und fragen über etwas, was sie wissen wollen, was ihnen begegnet nach. Also, warum heißt der Stuhl ‘Stuhl’? - Etwas was den Erwachsenen im Alltag überhaupt nicht überrascht, für den ist Stuhl ‘Stuhl’, der denkt darüber überhaupt nicht nach. Die Kinder kommen in die Welt hinein, die müssen die Welt erfassen, die müssen sich ihr Weltbild erar­bei­ten, will ich einmal sagen.

Ich kann mich erinnern an eine Situation, da muß ich ungefähr vier Jahre alt gewesen sein und habe am Fenster gestanden, da kam ein Pferdefuhrwerk vorbei, da bin ich hineingegangen in die Wohnung und habe zu meiner Mutter gesagt, das Pferd, das gerade vorbeigegangen ist, hat gelacht. Das sagte meine Mutter: ‘So ein Quatsch, Pferde können überhaupt nicht lachen.’ Also so typisch, wie Erwachsene dann mit diesen Kinderfragen umgehen, ich hatte tatsächlich so etwas gesehen wie ein Lächeln über dem Gesicht des Pferdes und wollte mich einfach mit jemandem austauschen.

 

Sprecher:

Durch Erfahrungen mit seinen eigenen Kindern angeregt organi­sierte Detlef Horster an der Glocksee-Schule in Hannover mehre­re Philosophieprojekte mit Kindern und Jugendlichen. Er disku­tier­te mit ihnen über die alten Grundfragen der Philosophie: Wer bin ich? Was ist Glück? Was ist die Bestimmung des Men­schen?

Während die 15jährigen sich stärker für die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins interessierten, setzten sich die Jüngeren intensiv mit dem Thema der persönlichen Identität auseinander, mit der Frage: Wie unterscheide ich mich von anderen, auch wenn ich denselben Namen trage?

 

O-Ton, Detlef Horster:

Und diese philosophischen Fragen, die Kinder stellen, die sind so genau gestellt, z.B. das Kind, das nach dem Problem der Iden­tität fragt, stellt diese Frage mit einer derartigen Schär­fe, daß man als Philosoph es relativ leicht hat, darauf zu ant­worten, darauf einzugehen und ein Gespräch mit ihm zu führen.

Ich erinnere mich, daß ein Kind einmal gefragt hat, als wir mit unserem einjährigen Kind irgendwo in Urlaub gekommen sind, daß ein fünfjähriges Kind gefragt hat: ‘Heißt die Kathrin denn auch noch Kathrin, wenn sie groß ist?’ - Also die Frage, ob man mit dem Wachsen auch die Identität, die sich ja mit dem Namen ver­bindet oder im Namen ausdrückt, auch verändert. Oder Bloch hat mir einmal erzählt, daß sein Sohn, als ich mit Bloch über Kin­derphilosophie sprach, daß sein Sohn in Amerika ihn einmal ge­fragt hat - da muß der kleine Jan Robert Bloch etwa fünf Jahre alt gewesen sein - ‘Papa, was ist Zeit?’ Und das ist eine Fra­ge, die auch die Philosophen nicht sofort beantworten kön­nen. ... Bloch hat den Kleinen darauf verwiesen, er solle doch seine Mutter fragen, und die Mutter wußte auch keine Antwort. Da kommt er also zu Bloch zurück, der kleine Jan Robert, und sagt: ‘Ich habe die Mutter gefragt, die weiß auch nicht, was Zeit ist, aber ich könnte mir vorstellen, daß Zeit eine Uhr ohne Zeiger ist.’

 

Musik: Die Zeit (Lied von Stefan Suhlke)

 

O-Ton, 10jährige Kinder im Dialog, 1.Sequenz:

- Zum Beispiel die Schulstunden, die vergehen auch nicht im Flug, aber wenn man gar nicht auf die Uhr guckt, dann vergehen sie wie im Flug.

- Wenn man mit einer Freundin zusammenspielt, dann vergeht die Zeit ganz schnell, weil man nicht daran denkt, und ist es sehr schön, dann guckt man nicht auf die Uhr, wenn man auf die Freundin wartet, dann denkt man, ‘Mensch, das dauert ja ewig.’

 

Sprecherin:

In Frankfurt machen sich 10jährige Kinder einer vierten Grund­schulklasse Gedanken über das Thema der Zeit. Sie sprechen über Zeiterleben und Menschsein, über Augenblick und Ewigkeit. Mit dem Phänomen Zeit geht man tagtäglich routiniert um, und doch bleibt ihr Wesen ein ungelöstes metaphysisches Rätsel. Alltags­wissen und philosophische Erkenntnis klaffen weit auseinander. Schon Augustinus bekannte: ‘Was also ist die Zeit? Solange mich niemand danach fragt, weiß ich es; doch fragt man mich und soll ich es erklären, so weiß ich es nicht.’

Die philosophische Frage nach der Zeit scheint unlösbar. Gleich­wohl ist es sinnvoll, ja sogar notwendig, sie zu stellen, weil sie mit jener anderen Frage, mit dem Rätsel der mensch­lichen Existenz, fest verwoben ist.

 

Musik: Die Zeit (Lied von Stefan Suhlke)

 

O-Ton, 10jährige Kinder im Dialog, 2.Sequenz:

- Mein erster Sommer, das war, wo ich geboren bin.

- Der erste Sommer von einem selbst ist eigentlich gar nicht der erste. Zum Beispiel die Zeit liegt immer weiter zurück, die Eltern hatten einen ersten Sommer, die Großeltern, die Tanten und die Onkels und Kusinen, also das war eigentlich gar nicht der einzig erste Sommer von der ganzen Welt, sondern eigentlich nur der, den man selbst erlebt hat als erster.

- Also ich glaube den ersten Sommer, den muß es schon irgend­wann einmal gegeben haben, weil alles  muß ja irgendwann einmal angefangen haben. Aber irgendwie ist es auch wieder komisch, daß es irgendwie einen ersten gab, irgendwie ist es so, als hätte es gar nicht angefangen, als wäre es immer schon gewesen.

- Es ist ein richtiges Geheimnis, das kann man fast gar nicht beantworten, wann der erste Sommer war und wie er entstanden ist.

 

 

Sprecher:

‘Wenn ich mich frage’, sagte Einstein zu Franck, ‘woher es kommt, daß gerade ich die Relativitätstheorie gefunden habe, so scheint es an folgendem Umstand zu liegen: Der normale Er­wachse­ne denkt nicht über die Raum-Zeit-Problematik nach. Al­les, was darüber nachzudenken ist, hat er nach seiner Meinung bereits in der frühen Kindheit getan. Ich dagegen habe mich derart langsam entwickelt, daß ich erst anfing, mich über Raum und Zeit zu wundern, als ich bereits erwachsen war.’

 

Musik: Die Zeit (Lied von Stefan Suhlke)

 

O-Ton, 10jährige Kinder im Dialog, 3.Sequenz:

- Ich denke mir, daß jeder anders meint, wie die Zeit begonnen hat, ich meine, daß es schon immer die Zeit gab, weil ich jetzt denke, Gott hat die Welt geschaffen und der Gott brauchte ja auch dafür Zeit, also irgendwie muß es auch schon die Zeit vorher gegeben haben.

 

 

Sprecherin:

In ihrem Gespräch über Zeit treiben Grundschulkinder Philosophie, während das Fach normalerweise erst in der Oberstufe angeboten wird. Gegen dieses außergewöhnliche Unternehmen und gegen das Konzept der Kinderphilosophie überhaupt regen sich aber auch Bedenken. El­tern haben Sorge, ihr Kind zu überfordern und in unnötige Grübeleien hineinzutreiben. Sie fürchten, es vorzeitig mit Problemen zu belasten und ihm so den Genuß einer unbeschwerten Kindheit zu verder­ben.

 

Sprecher:

Doch hinter dem Einwand und den gutgemeinten elterlichen Vertröstungen - ‘Das erkläre ich dir, wenn du größer bist’ - verbirgt sich nicht selten Unsicherheit. Das fragende Kind konfrontiert den Erwachsenen mit verdrängten eigenen Ängsten und moralischen Zweifeln, vor allem wenn es sich um metaphy­sische Fragen handelt - ‘Wo war ich, bevor ich in Mamas Bauch war?’ ‘Und wohin geht das Pferd, wenn es stirbt.’ - Viele El­tern erleben die Fragen ihrer Kinder wie eine Prüfungs­situa­tion, der sie auszuweichen suchen, anstatt sich gemeinsam mit dem Kind auf das philosophische Abenteuer des Nachdenkens einzulassen.

 

Sprecherin:

Nicht nur Eltern sträuben sich gegen den Gedanken, man könne mit Kindern metaphysische Themen erörtern. Einwände kommen auch von Wissenschaftlern und Lehrern. Sie berufen sich vor allem auf den Schweizer Psychologen Jean Piaget, der mit seinen Arbeiten zur geistigen Entwicklung des Kindes den Forschungsstand prägte. Piaget definierte bestimmte Stufen, die das Denken des Kindes durchläuft. Bis zum siebten Lebensjahr hat sich das Kind demnach zwar eine hohe Sprachkompetenz angeeignet, aber es vermag die Welt nur aus seiner eigenen Perspektive wahrzunehmen. In diesem Egozentris­mus, so Piaget, verschwimmt noch die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Welt. Das Kind projiziert sich selbst auf seine gesamte Umgebung, alles erscheint ihm beseelt; des­halb sind ihm Tiere und Pflanzen in dieser Phase so nah. Mit zunehmendem Alter überwindet das Kind dieses magische Denken und nähert sich dem rationalen Realismus der Erwachsenen an.

 

Sprecher:

Piagets Zuordnung bestimmter Fähigkeiten zu be­stimm­ten Reifungsphasen ist jedoch in der Forschung schon län­ger umstritten. Kritik und relativierende Einschätzungen erfuhr Piaget sogar aus den Reihen seiner eigenen Schüler. Auch Daniela Camhy protestiert gegen das starre Entwicklungsschema, nach dem Piaget zufolge die Kindheit verläuft.

 

O-Ton, Daniela Camhy:

Mir fällt da ein Beispiel ein, daß er sagt, daß die Kinder egozentrisch sind und daß sie sich gar nicht so in einen hineinversetzen - sie können sich nicht in einen anderen Menschen hineinversetzen, wenn sie klein sind - das heißt klein, so bis 6 Jahre. Und da fällt mir ein Beispiel ein, daß Gareth Matthews in seinem Buch erwähnt. Ein Vater fragt seinen Sohn: 'Willst du nicht eine Banane essen?' Und der Sohn sagt: 'Nein, ich möchte keine Banane.' Und nach einiger Zeit fragt der Vater wieder: 'Willst Du nicht doch eine Banane essen?' - Und da sagt der kleine Bub  mit vier Jahren: 'Wenn Du ich wärest, würdest Du auch keine Banane mögen.'

... Ich glaube Kinder werden sehr oft unterschätzt, was Erwachsene machen: Entweder belächeln sie die Kinder, finden das sehr lieb und sehr nett, oder sie wollen Erklärungen, sie wollen dem Kind alles erklären, und hören gar nicht zu, was das Kind darüber denkt, und welche Vorstellungen, welche Gedanken Kinder haben - und ich glaube, die Gedanken und das Denken von Kindern kennenzulernen, und da die Kinder abzuholen, wo sie selbst mit ihren Gedanken sind, und das weiterzuspinnen, da beginnt das Philosophieren.

 

Sprecher:

Im philosophischen Gespräch sind Kinder keine gleichartigen, wohl aber gleichrangige, nämlich ernstzunehmende Dialogpartner. Diese Sicht des Kindes ist auch in der Tradition der Philosophie selber nicht üblich. Meist wertete man die Kindheit als bloße Vorstufe zum wirklichen Menschsein der Erwachsenen. Aristoteles erkannte zwar, daß die Philosophie mit dem Staunen anhebt, aber die Kinder erachtete er nicht als vollwertige menschliche We­sen. Da sie ihre Erkenntniskräfte noch nicht entwickelt hätten, seien sie ihren Gefühlsregungen hilflos ausgeliefert. Kinder sind deshalb seiner Ansicht nach nicht einmal glücksfähig, was sie erleben könnten, so heißt es bei ihm, entspräche der animalischen Zufriedenheit schlafender Hunde.

 

Sprecherin:

Es gab allerdings auch schon sehr früh eine Gegenposition in der Philosophiegeschichte: Epikur empfand Hochachtung vor den Kindern und riet, sie möglichst früh mit den Lehren der Philo­sophie bekannt zu machen. Bei Epikur heißt es:

 

Sprecher:

"Weder soll der junge Mensch zögern zu philosophieren, noch der alte des Philosophierens überdrüssig werden. Denn weder ist jemand noch nicht alt genug noch zu alt für das, was die Seele gesunden läßt. Wer sagt, das Alter, in dem man philosophieren solle, sei noch nicht erreicht oder schon vorbei, sagt das gleiche wie der, der behauptet, daß das Alter, um glücklich zu sein, noch nicht erreicht bzw schon vorüber sei."

 

Lied

 

Sitz einfach nur herum Dideldideldum
Will nicht reden und nicht spielen
Vielmehr allerhand ausprobieren
Denken und phantasieren

Verlaufe mich in meinem Kopf
bin kein armer Tropf
So vieles gibt es zu entdecken
Muß es in mir wecken

Sitz einfach nur herum Dideldideldum
Will nicht reden und nicht spielen
Vielmehr allerhand ausprobieren
Denken und phantasieren

 

(Von der CD: Wie kommen die Fragen in den Wald?
Ein musikalischer Spaziergang für Kinder und Erwachsene

E-Mail: kontakt@schreikoenig.de)

 

 

Sprecherin:

Von Epikur führt eine Linie über Montaigne und Locke zu Jean Jacques Rousseau, der die Kinder als vollwertige vernunftbe­gabte Wesen anerkannte und der Überzeugung Bahn brach, daß die Kindheit wie jede andere Lebensphase ihren Wert in sich selbst trägt und unwiederholbare Erfahrungsmöglichkeiten besitzt.

 

Sprecher:

Allerdings neigten viele Dichter und Denker in der Nachfolge Rousseaus dazu, die Kindheit zu romantisieren und den Kindern wegen ihrer Nähe zum Ursprung, zur Natur, eine philosophische Genialität zuzuschreiben.

Um mit Kindern zu philosophieren, muß man sie aber nicht unbe­dingt in dieser Weise idealisieren. Denn es geht nicht darum, den Kindern eine tiefe ursprüngliche Wahrheit anzudichten, wohl aber darum, ihnen ein eigenes Denken zuzutrauen.

 

Sprecherin:

Das tut zum Beispiel der amerikanische Philosoph Gareth B.  Matthews, der seit vielen Jahren in den USA, in England und hin und wieder auch in Deutschland mit Kindern philosophiert. In Berlin sprach er mit  9- bis 11jährigen Kindern über das Thema 'Können Blumen glücklich sein?'

 

O-Ton, 9- bis 11jährige Kinder im Gespräch mit Gareth B. Matthews:

- Ich meine eigentlich, daß Blumen nicht fühlen können, weil sie ja nicht so wie Menschen Gefühle haben.

- Ja, ich glaube, daß sie fühlen können, weil wenn man ihnen kein Wasser gibt, dann lassen sie auch die Blüten und Blüten­blätter hängen, sie würden auch verdursten wenn man ihnen kein Wasser gibt genau wie Menschen.

- Also Durst haben sie bestimmt, die Blumen meinst Du? (Matthews)

- Also Durst haben sie vielleicht, weil sie vielleicht die Kraft vom Wasser brauchen, damit sie frisch werden, aber ich glaube nicht, daß es denen irgendwie wehtut.

- Die fühlen schon etwas, weil die Blume eine äußere Schicht hat, aber auch die ganzen inneren Schichten wie der Mensch das Fleisch, die Muskeln und die Haut hat, und daher dies auch fühlen könnte, nur vielleicht hat sie keine Nerven, und darum würde sie, wenn es ganz laut ist, nicht eingehen wie der Mensch Ohrenschmerzen oder Kopfschmerzen würde die Blume keine Blü­tenschmerzen kriegen.

- Gibt es da Beweise? (Matthews)                                                                                                     

- Also wenn man einen Baum anschneidet, dann kommt da manchmal Harz heraus, und wenn Du einen Menschen mit dem Messer an­piekst, dann blutet er auch, dann tut es ihm auch weh, dann könnte man ja sagen, der Baum hat jetzt einen Ast, und das ist der Arm, der Harz kommt dann eben statt des Blutes aus dem Baum heraus, und es tut ihm genauso stark weh.

- Wir haben jetzt Margeriten, die haben wir einmal geschenkt gekriegt, auf dem Balkon sind die immer nur so zehn bis fünf­zehn Zentimeter groß, aber jetzt sie zwanzig bis dreißig Zen­timeter groß geworden im Garten?

- Sind sie jetzt glücklich? (Matthews)

- Ja.

- Was gehört eigentlich dazu, zum Glücklichsein? (Matthews)

- Naja, daß sie immer viel Erde haben und Licht und eben Wasser.

- Also bei mir zum Glücklichsein, daß ich alles habe, Familie, Wohnung, daß ich mich gut verstehe.

- Ist das ein Gefühl, daß Du hast oder? (Matthews)

- Ja, das ist schon Gefühl.

- Den ganzen Tag lang, oder? (Matthews)

- Ja, manchmal verstehe ich mich ja auch mit anderen nicht so gut und dann bin ich nicht so glücklich.

- Und wie ist es mit Tieren, können die alle glücklich sein? (Matthews)

- Ja, Tiere können auch glücklich sein?

- Und wie ist es mit einem Roboter? (Matthews)

 

Sprecher:

Gareth B. Matthews gilt als Meister im Philosophieren mit Kin­dern. Matthews versucht sich in die Gedankenwelt der Kinder hineinzuversetzen, er belehrt nicht, sondern hört zu. Statt sie mit Antworten oder fertigen Lösungen zu füttern, stellt er be­hut­sam, aber geschickt Rückfragen. Diese Rückfragen regen die Kinder dazu an, ihre Gedanken weiter zu denken, zu präzisieren und zu begründen, Implikationen und Konsequenzen aufzuspüren.

 

Sprecherin:

Auf diese Weise fördert Matthews Prozesse der Aufklärung, ganz im Sinne Kants: er macht den Kindern Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Im Gespräch über die Frage ‘Was ist Glück?’ stellen die Kinder Vergleiche an zwischen Pflanzen, Tieren, Menschen und Robotern. Dabei klären sie bestimmte Merkmale des Menschseins. Die Kinder treiben philosophische Anthropologie.

 

O-Ton, 9- bis 11jährige Kinder im Gespräch mit Gareth B.  Matthews, Fortsetzung:

- Roboter können nichts fühlen, die können auch nicht denken, es ist ja nur eine Maschine.

- Gefühle hat er nicht, aber denken könnte er schon, wenn Du ihm was zu denken gibst.

- Er funktioniert ja mit Strom und ist auf irgendeine Sache spezialisiert. Bei dem Computer, wenn man ihn mit Daten füt­tert, kann er schon was rechnen und denken, aber Gefühle hat er nicht. Wenn Du irgendwo drauf haust, tut es ihm nicht weh. Also das fühlt der gar nicht, er geht vielleicht kaputt, aber fühlen tut er das nicht.

- Ist das wichtig, daß man lebendig ist, um Gefühle zu haben? (Matthews)

- Die Wand, die kann ja keine Gefühle haben.

- Und ist es ausgeschlossen, daß ein Roboter lebendig sein könnte? (Matthews)

- Ja, zum Lebendigsein brauchst Du auch ein Gehirn, Du mußt richtig denken können, und auch daß Du Dich  bewegst von al­lein, und der Roboter, der wird von Menschen gebaut, daß er sich bewegen kann, und Menschen sind von Natur aus so, daß sie ein Gehirn haben und sich von allein bewegen können.

- Ein Roboter baut der Mensch, eine Blume, die wächst von Natur aus, wo man eigentlich sagen müßte, was ist die Natur, ob die auch gebaut ist, oder ob die nicht gebaut ist, die kommt ja auch von irgendwo her. Einen Roboter muß man speichern, der be­wegt sich nicht von allein. Der kann ja auch keine Kinder krie­gen.

- Ja, ist das wichtig, daß ein Wesen Kinder kriegen kann, ge­hört das zum Lebendigsein? (Matthews)        

- Ja. Also eine Pflanze, die macht Samen, Menschen und Tiere kriegen Kinder.

- Man muß sich ja irgendwie fortsetzen.

 

Sprecher:

Neben Gareth B. Matthews leistete noch ein anderer amerikani­scher Philosoph Pionierarbeit auf dem Gebiet der Kinderphilo­sophie: 1974 gründete Matthew Lipman in New Jersey das Institut zur Förderung der Kinderphilosophie. Lipman, lange Zeit Profes­sor für Logik und Philosophie an der Columbia University in New York, war während der sechziger Jahre in seinen Seminaren auf­ge­fallen, daß seine Studenten nicht schlüssig argumentieren konn­ten. Logisches Denken müsse aber, so Lipman, ebenso früh­zei­tig geübt werden wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Lipman ent­wickelte Förderprogramme, die auf große Resonanz stießen. Sein neu gegründetes Institut bot Kurse zur Lehrerweiterbildung an, erstellte umfassende Curricula und gab philosophische Kin­der­bücher heraus, die jedoch keine theoretischen Abhandlungen enthielten, sondern aus lauter Geschichten bestanden, die All­tags­situationen von Kindern aufgreifen.

 

Sprecherin:

Die österreichische Philosophin Daniela Camhy gehörte zu den ersten, die Lipmans Impulse aufnahmen und in den deutschsprachigen Raum trugen. Nachdem sie selbst in Lipmans Institut eine theoretische Ausbildung absolviert und praktische Unterrichtserfahrungen an verschiedenen Schulen in Amerika gesammelt hatte, gründete Daniela Camhy 1984 in Graz die Österreichische Gesellschaft für Kinderphilosophie. Ziel der Gesellschaft ist es, die Persönlichkeit und Denkentwicklung von Kindern zu fördern, und zwar nicht beschränkt auf Eliten, sondern in der ganzen Breite des sozialen Spektrums. Daniela Camhy dazu selbst:

 

O-Ton, Daniela Camhy:

Jeder der Interesse hat, kann sich an uns wenden, seien es Eltern, Lehrer, Kinder, Jugendliche ... da kommen sehr viele Anfragen. Wenn es Probleme gibt in einer Schule, wenn Eltern Probleme haben, wir machen z.B. auch Wochenendseminare für Eltern und Kinder, da kommen schon manchmal so Anfragen: 'Wir haben einen Todesfall in der Familie, können Sie dieses Wochenende mit meinem Kind über Tod sprechen.'  - Da  möchte ich vielleicht sagen, da ist auch eine falsche Erwartung bei den Erwachsenen ... Wir sprechen immer nur Ideen und Gedanken an, die von den Kindern kommen. Der Auslöser ist eine Geschichte, es kann aber auch ein Bild sein, oder ein Comic oder die Frage eines Kindes. Und das wäre ein Auslöser für ein philosophisches Gespräch, für das Philosophieren, und es ist nicht so, daß man jetzt sagt: 'So an diesem Wochenende sprechen wir über Tod.' - Und wir Erwachsene geben das Thema vor. Wenn es von den Kindern oder einem Kind angesprochen wird, dann wird es zum Thema, aber es wird nicht sozusagen künstlich herbeigeführt.

 

Sprecher:

Vielerorts trifft die neue Kinderphilosophie auf eine bestimmte Erwartungshaltung, die zu Mißverständnissen führt. Man nimmt an, daß hier - mit den Mitteln der Philosophie - eine neue Variante von Psychotherapie betrieben werden soll. Aber Psychologie und Philosophie sind klar zu trennen, da sie auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Der philosophische Diskurs folgt dem Bestreben, über die besonderen Meinungen hinauszukommen, er will das, was für alle gilt, das Allgemeine, fassen und auf den Begriff zu bringen. Dagegen trachtet die Psychologie - vor allem in ihrer psychotherapeutischen Anwendung - danach, das Individuelle zu verstehen und ihm in seiner Besonderheit gerecht zu werden. Daniela Camhy verdeutlicht den Unterschied an einem Beispiel:

 

O-Ton, Daniela Camhy:

Ein Psychologe würde vielleicht, wenn es um einen Streit zwischen zwei Freunden geht, fragen: 'Wie geht es Dir? wie fühlst Du Dich?' - Während ein Philosoph fragt: 'Was ist ein Freund? Was ist Freundschaft?' -  Das ist eine ganz andere Ebene, bei der mehrere Menschen ihre Meinung sagen können. - 'Wie fühlst Du Dich?' - da kann nur ein Mensch über seine Gefühle sprechen. Aber sich überhaupt zu überlegen, was ein Freund, was Freundschaft ist, da können alle mitsprechen. Und ich kann natürlich dem anderen sagen: 'Nein das stimmt nicht!' - da jeder eine andere Vorstellung von dem Begriff Freundschaft hat. Und das spannende ist natürlich, wenn die verschiedenen Ideen und Gedanken aufeinandertreffen, daß man vielleicht - und insofern kann es dann zu einer Problemlösung führen - daß man vielleicht einen Gedanken faßt, der von einer ganz anderen Richtung kommt und daß man ansonsten selbst nie ... das Problem von einem anderen Blickpunkt gesehen hätte.

 

Sprecherin:

1990 gründete die österreichische Gesellschaft für Kinderphilosophie auf Initiative von Daniela Camhy ein eigenes Institut, um Aktivitäten zu organisieren und Kräfte zu bündeln. Trotz des auch internationalen Renommés muß das Institut um seine finanzielle Weiterexistenz fürchten. Neben der kargen staatlichen Unterstützung mangelt es vor allem privaten Sponsoren. Denn finanzstarke Industrie- und Wirtschaftsunternehmen sind in Österreich nicht so präsent wie in Deutschland. Trotzdem hat das Institut in Graz eine Reihe von Projekten auf den Weg gebracht und eine Infrastruktur in Sachen Kinderphilosophie geschaffen.

 

O-Ton, Daniela Camhy:

Wir haben eine Bibliothek, auch eine Videothek aufgebaut, sehr viele Studenten wenden sich an unser Institut, weil sie eine Hausarbeit oder Dissertation schreiben, Eltern kommen mit ihren Eltern, verschiedene Berufsgruppen, wie Logopäden oder Krankenschwestern, Psychologen oder Ärzte wenden sich an uns, ... wir sind in der Erwachsenenbildung tätig, machen verschiedene Projekte, wir hatten zwei größere Forschungsprojekte, Förderung der Denk- und Persönlichkeitsentwicklung von Volks-, Haupt- und AHS-Schülern - AHS ist die allgemeinbildende höhere Schule in Österreich - und jetzt haben wir eine Studie gemacht für das Bundesministerium Wissenschaft und Verkehr ... 'Kann das Philosophieren mit Kindern eine Strategie gegen Fremdenfeindlichkeit sein?' - Das war die Frage, denn wir haben gemerkt, daß beim Philosophieren  - wenn Kinder aus verschiedenen Ländern ... ganz bunt zusammengewürfelt sind, wirklich eine Atmosphäre von Toleranz entstanden ist, daß jeder geachtet wurde, nicht mehr ausgelacht wurde, so ein Respekt voreinander. Das ist aufgefallen in verschiedenen Schulen, und deswegen haben wir diese Studie auch versucht zu machen.

 

Sprecher:

Auch in anderen Ländern bildeten sich seit Mitte der achtziger Jahre verschiedene Initiativen der Kinderphilosophie. In der Schweiz baute Eva Zoller in Altikon bei Zürich eine Dokumentationsstelle für Kinder- und Alltagsphilosophie auf. In Deutschland machte vor allem der Berliner Erziehungswissenschaftler Hans-Ludwig Freese auf sich aufmerksam. Er schrieb unter anderem ein Buch mit dem provozierenden Titel Kinder sind kleine Philosophen. Seit über einem Jahrzehnt leitet er philosophische Gesprächskreise mit interessierten Kindern im Alter von 8 bis 14 Jahren. Und in Hamburg arbeitet seit 1984 die Philosophin Barbara Brüning auf diesem Gebiet. In einem Arbeitsraum der Universität versammelt sie alle 14 Tage einen Kreis 8- und 9jähriger Kinder.

 

O-Ton, Barbara Brüning:

Als Olaf mit seiner Mutter nach Hause kam, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Nachbar Schmitt stand im Garten vor der großen alten Birke, neben ihm stand eine Motorsäge. ‘Was machen Sie denn da?’  schrie Olaf. ‘Sie wollen doch wohl nicht die alte Birke...’ ‘Das geht Dich gar nichts an...’ (ausgeblendet)

 

Sprecherin:

Barbara Brüning liest die Geschichte von einem Baum vor, der gefällt werden soll, weil er die Terrasse des Eigentümers ver­schattet. Danach fordert sie die Kinder auf, miteinander da­rüber nachzudenken und zu diskutieren, ob Herr Schmitt den Baum in seinem Garten absägen darf.

 

O-Töne, verschiedene Kinder, 1. Sequenz:

- Das kann man doch gar nicht machen. Der Baum ist doch für sich selbst, er ist doch selbst ein Lebewesen, er lebt ja prak­tisch mit Wasser und Sonne wie wir auch.

- Aber Herr Schmitt steht nicht so in der Erde herum, das ganze Leben.

- Der Baum nimmt alles durch die Wurzel, und der Mensch nimmt es durch den Mund, und der Baum, der fühlt ja gar nicht, das ist schon ein bißchen anders. Das kann man schon unterscheiden.

- Der Baum gibt uns ja auch Sauerstoff, deshalb soll man ihn nicht fällen.

- Und außerdem, wie er stand, sagte er ja: Der Baum ist sein Eigentum, da müßte es ja eigentlich heißen, daß der Baum über­haupt nichts dafür kann, daß er da steht, daß der Schmitt ihn dahin gepflanzt hat, also hat der Schmitt auch selber schuld, daß der Baum das Licht auf seiner Terrasse wegnimmt.

 

Sprecher:

Ausgehend von dem konkreten Konfliktfall, den die Geschichte er­zählt, bestimmen die Kinder Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Pflanze und Mensch sowie ihre wechselseitigen Bezieh­ungen. Dabei stoßen sie auf den ökologischen Grundgedanken, daß der Mensch ein Teil der Natur ist, und ebenso auf das ethische Prinzip: Aus Macht erwächst Verantwortung. Das Gespräch dreht sich schließlich um die Frage, ob dem Baum d.h. der Natur ein gleiches unveräußerliches Existenzrecht zuzuerkennen sei wie dem Menschen.

 

O-Töne,  verschiedene Kinder, 2.Sequenz:

- Und der Baum ist eigentlich genauso ein Lebewesen, der Baum hat Blätter. Und dann gibt er auch Sauerstoff  ab, und der Mensch atmet ihn eben ein.

- Die Pflanze hilft uns zu leben, und wir helfen der Pflanze zu leben, weil sie unseren verbrauchten Sauerstoff kriegt, und wir kriegen neuen.

- Die ganzen Pflanzen würden auch ohne uns wachsen. Guck mal, vor zigtausend Jahren gab es noch gar keine Menschen, da wuchsen auch Tausende von Pflanzenarten herum, also brauchen die Pflanzenarten uns gar nicht.

- Also ich würde sagen: Ein Baum hat dieselbe Würde wie ein Mensch dazusein. Weil: Das kann ich jetzt auch nicht beschrei­ben, da müßte ich jetzt länger nachdenken. Nur, ich finde: Ein Baum hat dieselbe Würde wie ein Mensch. Nur, es ist eben von Natur aus so, daß der Mensch ein größeres Gehirn hat als der Baum und sich bewegen kann, davon ist er aber nicht unbedingt vorteilhafter. Der Baum ist eigentlich viel schlauer als ein Mensch. Er zerstört seine Umwelt nicht, er reguliert eigentlich nur seine Umwelt, und der Mensch, der ganz im Gegensatz zu Dinosauriern - ja die waren ganz schön lange Herrscher - der Mensch zerstört seine ganze Umwelt selber.

 

Sprecherin:

Die Kinder diskutieren fast eine Stunde lang. Auch sie können das grundlegende moralische Dilemma nicht auflösen, daß Bäume, obgleich sie ebenfalls Lebewesen sind, vom Menschen gebraucht und abgeholzt werden - schließlich stellen wir aus Holz unsere Möbel her - aber sie gelangen in ihrer Diskussion zu einer differenzierten Beurteilung, welche Zwecke es rechtfertigen, daß man Bäume fällt und welche nicht. Daß der Schatten des Baumes seinen Besitzer ärgere, hält als Grund ihrer argumen­tativen Prüfung nicht stand. Zwei Kinder schlagen schließlich eine Lösung des Konflikts vor, die Kreativität verrät.

 

O-Ton, verschiedene Kinder, 3.Sequenz:

- Ich würde sagen, wieso muß Du Dich denn unbedingt auf Deine Terrasse legen, Du hast doch schon so einen schönen hohen Baum, warum legst Du Dich denn nicht auf den hohen Baum drauf, da hast Du erstens schöne Sonne und zweitens wunderbare Aussicht. 

- Oder einfach ein Baumhaus drauf bauen.

 

Sprecher:

Das philosophische Gespräch der Kindergruppe ist sehr auf­schluß­reich. Es bezeugt die Sensibilität der Kinder für die Verletzlichkeit alles Lebendigen. Vor allem Tiere erhalten ihr direktes und intensives Mitgefühl. Die Gesprächsäußerung eines Kindes ‘Bäume seien genauso Lebewesen wie Menschen’ würde von Erwachsenen als naiv belächelt und dieses abqualifizierende Urteil erhielte sicherlich die Unterstützung der modernen Wis­senschaft. Die Entwicklungspychologie Piagets sähe in der Äuße­rung einen neuerlichen Beleg für den unreifen animistischen Charakter des kindlichen Denkens, das sich die Natur als be­seelt vorstellt und deshalb nicht realitätsgerecht sei.

 

Sprecherin:

Aber müßte man die Kritik angesichts der fortschreitenden Natur­zer­störung nicht umkehren und gegen die Entwicklungspychologie und die herrschende Rationalität selber richten: Descartes hat den neuzeitlichen Menschen zum Herrn und Eigentümer der Natur er­klärt. Zu jeder Herrschaft gehört Distanz und Kälte gegenüber dem Beherrschten. Und eine solche Distanz und Gleichgültigkeit des Menschen gegenüber der Natur bildet einen Grundzug der modernen Rationalität, die jeder Heranwachsende internalisiert.

 

Sprecher:

Kinder haben diese Distanzierung noch nicht vollzogen, sie spüren noch eine gewisse Verwandtschaft zu Tier und Pflanze, diese Nähe macht ihr Denken gleichzeitig zu einem Fühlen. Das bedeutet jedoch noch keinen Mangel an Logik, sondern vielmehr eine positive Qualität der Urteilskraft: ethisch-moralische Fragen werden nicht allein mit dem Verstand entschieden, son­dern auch mit dem Herzen.

Eine Urteilskraft, in der Kopf und Herz, Wissen und Gefühl zusammenwirken fordert auch Detlef Horster, Philosoph in Hannover, mit Blick auf die nationalsoziastische Katastrophe der deutsche Geschichte.

 

O-Ton, Detlef Horster:

Das ist auch das Ziel des Philosophierens mit Kindern, daß sie selbständig über bestimmte Wertvorstellungen nachdenken können, und daß sich bestimmte Wertvorstellungen verfestigen bei ihnen, wenn sie selbständig darüber reflektiert und nachgedacht haben, und das ist ja etwas, was man beim Philosophieren mit Kindern tut. Daß das dann auf diese Art und Weise zu ihrem eigenen Selbst wird, das ist auch die Zielvorstellung. Mein Lehrer Gustav Heckmann der 1945 hier in Hannover an der Pädagogischen Hochschule angefangen hat, mit Jugendlichen zu philosophieren, die ihre Sozialisation im Nationalsozialismus erfahren hatten, und er hat dann erlebt, daß die ganz bestimmte Werte hatten, z.B. den Wert der Kameradschaft, und er hat sie dann gefragt, wo ist euch dieser Wert der Kameradschaft schon einmal lebendig entgegentreten. Und die haben viele Beispiele erzählt und haben sie sich genau angeguckt und kamen dann darauf, daß dieser Wert der Kameradschaft für die Machtbedürfnisse der Nationalsozialisten zurechtgebogen war und daß nirgendwo tatsächlich echte Kameradschaft erlebt hatten. Und das hat die hellhörig gemacht, über diesen Weg kann man etwas bewirken und nicht darüber, daß man sagt: Paßt mal auf, ihr müßt jetzt davon ablassen und euch demokratischen Werten zuwenden.

 

Sprecherin:

Heute gibt es eine Überfülle an Faktenwissen, an naturwis­sen­schaflichen Erkenntnissen und technischen Möglichkeiten, aber ein Manko an ethischer Reflexion. Und ebenso mangelt es an einem philosophischen Nachdenken, das Zusammenhänge herstellt und das Ganze in den Blick nimmt. An diesem klassischen Mandat der Philosophie, über die Fakten hinaus nach dem Warum und Wozu zu fragen, sind die Konzepte der Kinderphilosophie orientiert. Sie möchten ein selbständiges kritisches Denken wecken, das nach Ansicht des Berliner Erziehungwissenschaftlers Hans-Ludwig Freese in der Schule eher unterdrückt denn gefördert wird.

 

O-Ton: Hans-Ludwig Freese:

Das glaube ich ja, daß wir in den Schulen zu viele Antworten geben, auf die die Kinder zunächst einmal gar keine Fragen hatten. Wir bombardieren die Schüler mit Antworten und stopfen ihren Kopf voll mit Wissen und mit Fakten, so daß zu wenig - das ist meine Grundübersetzung, inzwischen von beinahe jedem geteilt - in der Schule das Denken zur Geltung kommt, schon in den untersten Stufen der Schule wird zuwenig das Denken eingeübt und die Lust am Denken entfacht. Kinder verbinden mit Lernen nur Auswendiglernen und Hinnehmen und Fürwahrhalten, was andere ihnen beibringen, zuwenig die Frage: 'Woher wissen wir das alles, was wir wissen? Wie können wir gute Gründe angeben, dafür daß etwa eine Behauptung, die vorgibt, wahr zu sein, auch tatsächlich auch diesem Anspruch genügt?'

 

Sprecher:

Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen heißt gerade nicht, sie mit Philosophiegeschichte zu füttern, ihnen Theoriegebäude und Terminologien beizubringen, vielmehr geht es darum ihren Geist zu begleiten, in einem gemeinsamen Nachdenken. Oft sind es Dialog und Meinungsstreit, die weiterführen, wie schon Sokrates auf dem Athener Marktplatz demonstrierte.

 

O-Ton: Hans-Ludwig Freese:

Keine langen Texte, keine langen Belehrungen, wenn es um die Geschichte der Philosophie geht, ein oder zwei Fragmente der Vorsokratiker, Heraklit, Xenophanes oder Aussprüche von großen Weisen, die so schlechthin der Inbegriff des Weisen darstellen, von Sokrates, wenn man ihnen erzählt, daß Sokrates gesagt hat: ‘Reichtum ist Armut an Wünschen.’ - Das ist z.B. etwas, was Kinder neu erfinden, eine solche philosophische Einsicht, daß man sagt: 'Was macht den Menschen glücklich, was ist Zufriedenheit?' Und dann sinnen die darüber nach und kommen ins Gespräch. Und dann sagt der eine: 'Oh, wenn man ganz viel hat, ganz viel Geld hat.'  Und dann wird weiter gefragt, die Vor- und Nachteile, dann kommen sie in ein Gespräch, in diese Dynamik des Fragens und Antwortens bzw des Behauptens und Gegenbehauptens, dann zu differenzierteren Einsichten und Wahrheiten, dann wird plötzlich der Gedanke, daß Zufriedenheit eher darin besteht, nicht allzu viele Wünsche zu haben als alle Wünsche erfüllt zu bekommen - dann sagen die Kinder: 'Ah, das wäre schrecklich langweilig und man hätte immer nur die Sorge, daß man das erhalten könnte usw. Also solche ganz einfachen philosophischen Gedankenspiele, die sollen bei den Kindern so etwas wie Nachdenklichkeit erzeugen, eine zweite Sicht der Dinge, und das Gespräch miteinander, die Nötigung, die eigenen Gedanken in Worte zu fassen und sie zu verteidigen und Argumente zu finden, die die Position des Anderen schwächen - das sind alles philosophische Exerzitien und die haben manchmal auch tatsächliche Ergebnisse.

 

Lied

Dumme dumme Fragen gibt es nicht
Keiner, ja keiner macht sich lächerlich
Auch die Nachtgespenster Blicken
fragend durch die Fenster
Wer, wieviel, warum, wozu
Welche, wann, ob überhaupt

Welche Fragen darf ich stellen
Wie hoch sind die tollsten Wellen
Darf ich dich heut besuchen
Wie backt man einen Mamorkuchen

Auf welchen von den Sternen droben
Können Menschen auch noch wohnen
Gab es einen Mann im Mond
Und hätt´ sich der Besuch gelohnt

Refrain

(Von der CD: Wie kommen die Fragen in den Wald?
Ein musikalischer Spaziergang für Kinder und Erwachsene

E-Mail: kontakt@schreikoenig.de)

 

 

Sprecherin:

Die Frage ist der Lebensnerv der Philosophie, nicht die Ant­wort. Wittgenstein sagte einmal, er könne sich eine ganze Phi­lo­sophie nur aus Fragen vorstellen. Sie halten das Denken in Bewegung. Natürlich kommt es darauf an, die Fragen immer prä­ziser zu stellen, weiter zu fragen, vor allem im Gespräch. Indem man gemeinsam nachdenkt, abwägt und deutet, gelingt es wohl am ehesten, sich immer wieder neu in einer Welt zu orien­tieren, wo letzte Antworten nicht zu haben sind.

 

Sprecher:

Das Gespräch mit Kindern könnte auch das Bild der Philo­sophie wieder zurechtrücken. Nicht nur in der Universität, auch in der Öffentlichkeit wird Philosophie einseitig mit Philoso­phie­geschichte gleichgesetzt: mit einem Fundus schwieriger Sy­steme, unverständlicher Begriffe und einer Sammlung von Aussa­gen über die Welt. Natürlich gehört auch das zur Philosophie. Adorno sagte, sie sei ein Fach und ein Nicht-Fach zugleich. Ein Fach, insofern sie ebenso wie andere Disziplinen ihre eigene Ter­minologie, ihre Methoden, ihre Geschichte hervorgebracht hat; aber auch ein Nichtfach, insofern sie die Grenzen einer Disziplin übersteigt und kein abfragbares totes Wissen, sondern ein lebendiges Denken darstellt, das immer wieder neu anhebt.

Philosophieren bedeutet, sich auf ein geistiges Abenteuer einzulassen, dessen Ausgang sich nicht vorab bestimmen läßt. Das gilt auch für die Gespräche mit Kindern.

 

O-Ton: Hans-Ludwig Freese:

Es wäre falsch, wenn der Eindruck entstände, als ob es ein pä­dagogisches Wundermittel sei, daß wenn man mit Kindern philo­sophiert, sie zu klügeren, moralisch wacheren Menschen werden - natürlich passiert das auch, aber oft geht es auch daneben, oft werden Kinder dadurch auch frustriert und ge­langweilt. Für mich ist die Hauptnachricht, die diese Kinder­philosophie - das ist auch ein schreckliches Wort - an Eltern und Lehrer zu richten hat, daß Kinder eine bestimmte Geistig­keit schon immer mitbrin­gen, daß Kinder keine leeren Gefäße sind, in die man etwas hin­ein­füllen muß an eigenen Kenntnissen und Wissen, sondern daß Kinder fragende und suchende und den­kende Wesen sind, ... ich habe immer erlebt, daß Eltern eine andere Sichtweise und des­we­gen ein anderes Verhältnis zu ihren Kindern gewannen, als ihnen deutlich wurde, daß Kinder nach­denk­lich sind, daß Kinder auch in einer anderen Welt wurzeln als nur dem Hier und Jetzt, das haben Eltern mir immer wieder bestätigt, diese intellektuelle Hochschätzung, Hochachtung vor dem Denken des Kindes. Und auch das Interesse, das man an Kin­dern nimmt, mehr zu erfahren, wie sie sich Dinge zurechtlegen, wie sie sich die Welt erklären, was sie innerlich beschäftigt.

 

O-Ton: Lukas (7 Jahre) und seine Mutter:

- Ich habe mir schon öfters vorgestellt, was es hinter allen Sachen gibt, der Himmel kommt immer mehr, hat niemals ein Ende, ich weiß nicht wo der hinführt, würde ich gern einmal wissen. Aber so hoch können die Menschen mit keiner Rakete fliegen, nicht mal mit der längsten, die z.B. einen Kilometer in die Luft ragt. Oder acht Kilometer, trotzdem könnten die nicht so weit, um einmal das Ende zu finden.

- Du glaubst, die haben das Ende noch nicht gesehen.

- Nein, dann wären sie zurückgekehrt, und dann stände es bestimmt in der Zeitung. Ich glaube, der Himmel hat doch gar kein Ende, aber irgendwann muß er ein Ende haben.

 

Sprecherin:

Das philosophische Gespräch mit Kindern birgt auch eine Chance für die Erwachsenen selber. Wenn man sich auf die Fragen, Ein­fälle und selbstgebastelten Theorien des Kindes einläßt, kann man bisweilen auch das eigene Staunen wiederfinden über die Rät­sel der Welt und die Unergründlichkeit der menschlichen Exi­stenz. Es bietet sich hier die außerordentliche Gelegenheit, aus dem Gefängnis der Denkgewohnheiten auszubrechen und sich mit dem Kind auf freie Fahrt zu begeben, auf eine gemeinsame gei­stige Entdeckungsreise. Die Philosophie gilt als ernstes Geschäft. Aber auch wenn ihre Themen und Fragestellungen schwergewichtig sind, bereitet die philosophische Beschäftigung mit ihnen mitunter großes Vergnügen.