O-Ton, Rachel Salamander:

Als ich Hans Jonas kennen lernte, war das Hauptthema für ihn die Verant­wor­tung für unsere moderne Welt, …die Ethik für die technologische Zivilisation, und das war der Inbegriff des Buches „Das Prinzip Verantwortung“, dafür ist er gefeiert worden, zwar eine späte Anerkennung, aber immerhin war es ja, wie Hannah Arendt sagte, das Buch, das der liebe Gott mit ihm, Hans Jonas, im Sinne hatte.

 

Sprecherin:

Rachel Salamander, die Münchener Publizistin und Herausgeberin der Literarischen Welt, erzählt wie sie den deutsch-jüdischen Philosophen Hans Jonas kennen lernte, der 1979 mit dem Werk "Das Prinzip Verantwortung" beinahe über Nacht weltbekannt wurde. Weder Verleger noch Autor, noch irgendwer sonst hatten erwartet, dass dieses Buch eine solche Resonanz finden würde. Habent sua fati libelli - Bücher haben ihre Schicksale. Und manchmal reißen sie auch den Verfasser  mit in ihren Lauf.

 

Sprecher:

Als das Werk erschien, war Hans Jonas schon 76 Jahre alt. Bis dahin kannte man ihn nur in akademischen Fachkreisen als Religionsphilosoph. Doch sein „Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“, wie das Werk im Untertitel hieß, entsprach nicht allein dem Geist der Zeit, es bemühte sich vielmehr um eine tiefgehende Analyse und eine philosophische Antwort auf die Gefahren der Technik für Mensch und Welt.

 

O-Ton, Rachel Salamander:

Dieses Buch war grundlegend, es beherrschte unsere Gespräche und … an der Aktualität hat sich gar nichts geändert, und ich würde eher sagen, Hans Jonas fehlt uns, man kann ihn gar nicht hoch genug einstufen, er fehlt uns heute in den eher aufgeregten Debatten, über die Gentechnologie, …weder eine Technologiefeindlichkeit, noch eine Fortschrittsgläubigkeit – die Ausgewogenheit zwischen beiden Positionen zeichnete Hans Jonas aus.

 

Sprecherin:

Hans Jonas wurde im Laufe der 80er Jahre immer häufiger zu Vorträgen und Gesprächen, zu Seminaren und Gastprofessuren nach Deutschland eingeladen. 1987 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 1992 verlieh ihm die Freie Universität Berlin die Ehrendoktorwürde, ein Jahr bevor er, fast 90 Jahre alt, in seinem Haus in der Nähe von New York starb.

 

Sprecher:

Sein Werk lebt weiter, genauso wie die Probleme fortbestehen, auf die es reagiert. 1998 entstand an der FU Berlin das Hans-Jonas-Zentrum, offen für Wissenschaftler, Studenten und Interessierte, die im Sinne von Hans Jonas Fragen der Ethik in einen Dialog bringen mit verschiedenen Disziplinen und Anwendungsbereichen, vor allem in der Medizin, der Ökonomie und der Pädagogik. Die Initiative für das Hans-Jonas Zentrum ging von Dietrich Böhler aus, Professor für praktische Philosophie und Ethik an der FU Berlin.

 

Sprecherin:

Heute, 10 Jahre nach Jonas’ Tod stellt sich allerdings angesichts der rasanten technologischen Entwicklung - man denke nur an die Entschlüsselung des menschlichen Genoms - die Frage, ob Jonas’ Werk in seinen theoretischen Annahmen nicht schon überholt ist.

Dietrich Böhler:

 

O-Ton, Dietrich Böhler

Natürlich ist die Entwicklung ungeheuer rasant. Das ist aber dasjenige, was Jonas gleich thematisiert hat. So dass seine Problemanalyse heute nach wie vor relevant ist. Die hatte – um nur einen Aspekt jetzt herauszugreifen - gleich das Augenmerk auf die ungeheure Akzeleration der technologischen Entwicklung gelegt; und zweitens auf die kumulativen Effekte, die diese Entwicklung durch den massenhaften Gebrauch von Technologien, die auch längst in die Lebensge­wohnheiten eingegangen sind, hat,  … Zum ersten Mal kommt auf die Mensch­heit das Problem einer Verantwortung für ihre eigene Zukunft hinzu, ob über­haupt künftig Menschheit noch existiert und wenn ja, wie sie existiert, - dafür ist jetzt erstmals die Menschheit verantwortlich, sie kann das durch die Technolo­gien gewährleisten, eine solche Zukunft – und wir sind auf solche Technologien angewiesen, das hat Jonas immer gesagt, er war nie ein Feind der Technologie. … Aber wir können eben durch die Technologien die Zukunft der Erde und die Zukunft der Moral gefährden, ja sogar unmöglich machen … und das bloße So-weiter-machen, hat er immer gesagt, ist schon so gefährlich.

 

Sprecher:

Die Schattenseiten des ungehemmten Fortschritts sind sichtbar geworden.

Den Segnungen  und Errungenschaften der Technik, die wir nicht missen möchten, stehen unübersehbar ihre negativen lebensbedrohenden Wirkungen gegenüber: Die Technik hat buchstäblich Berge versetzt und Flüsse umgeleitet, sie hat dabei aber auch Wälder vernichtet und natürliche Lebensräume zerstört. Moderne Verkehrsmittel überwinden Zeit und Raum, doch ihre Abgase verseuchen unsere Lebenselemente Wasser und Luft.  Die Technik sichert unser Dasein vor den Gewalten der Natur, aber die technischen Energien, die wir um unserer Bequemlichkeit willen immer maßloser in Anspruch nehmen, bedrohen das klimatische Gleichgewicht unseres Planeten.

 

Sprecherin:

Biowissenschaften und Gentechnologie versprechen erhöhte Therapiechan­cen für bislang unheilbare Leiden - man denke Erbkrankheiten oder an Aids und Alzheimer -; doch Eingriffe ins Erbgut bergen un­übersehbare Risiken. Nicht nur die Fortexistenz des Menschen, auch seine Würde ist in Gefahr.

Die Technik ist ambivalent, sie trägt einen Januskopf, wie Hans Jonas selber in einem Vortrag ausführt:

 

O-Ton, Hans Jonas:

Die Schwierigkeit ist die: Nicht nur wenn die Technik böswillig, d. h. für böse Zwecke missbraucht wird, sondern selbst, wenn sie gutwillig für ihre eigentlichen und höchst legitimen Zwecke eingesetzt wird, hat sie eine bedrohliche Seite an sich, die langfristig das letzte Wort haben könnte. … Das Risiko des Zuviel ist immer gegenwärtig in dem Umstand, dass der angeborene Keim des „Schlechten“ d,. des Schädlichen, gerade durch das Vorantreiben des Guten, d.h. Nützlichen, mitgenährt und zur Reife gebracht wird. Die Gefahr liegt mehr im Erfolg als im Versagen – und doch ist der Erfolg nötig unter dem Druck der menschlichen Bedürfnisse. Eine angemessene Ethik der Technik muss sich auf diese innere Mehrdeutigkeit des technischen Tuns einlassen.

 

Sprecher:

Ohne Technik könnten wir wohl kaum überleben, doch mit ihr drohen wir unterzugehen. Wie sollen wir uns in diesem Dilemma verhalten, wie mit den ungeheuren Möglichkeiten umgehen? Günther Anders, einer der ersten Philosophen, der grundlegend über Technik nachgedacht hat, sieht uns in der Rolle des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nun nicht mehr gebändigt bekommt. Die Technik sei uns buchstäblich über den Kopf gewachsen.

 

Sprecherin:

Auch die philosophische Reflexion der Technik hinkt ihrem Gegenstand hinterher. Eine Reihe von Annahmen gilt es zu revidieren:

Erstens galt die Technik bisher als verlängerter Arm des Menschen, als Werkzeug, über das das menschliche Subjekt nach Belieben verfügt. Aber die Technik bildet heute kein einzelnes Organ, sondern eine wissenschaftlich-technische Welt, in der wir leben.

Zweitens kommt insbesondere den Hochtechnologien Atomkraft, Mikroelektronik und Biotechnologie eine Eigendynamik zu; sie zeitigen Nebeneffekte und Spätfolgen, die keiner zu überschauen vermag.

 

Sprecher:

Drittens beschränkt sich Technik nicht auf einen materiellen Komplex, einen großen Maschinenpark, sondern sie geht einher mit einer entsprechenden technologischen Denkweise, der Zweckrationalität.

Das zweckrationale Denken, wie vor allem Max Horkheimer erklärte, beurteilt die Probleme einzig nach dem Gesichtspunkt der Machbarkeit. Wozu kann ich eine Sache verwenden? Wie kann ich Ziele erreichen? - lauten die Leitfragen eine solchen Denkens. Aber die Ziele selber werden nicht infrage gestellt. Probleme der Begrün­dung und der moralischen Rechtfertigung sind in einem solchen zweck­rational-technologischen Diskurs von vornherein ausgeblen­det.

 

Sprecherin:

Die technologische Rationalität ist von sich her unfähig, dem techni­schen Handeln eine moralische Grenze zu setzen und ihm normative Maßstäbe vorzuordnen. Deshalb ist der Ruf immer lauter geworden, der Tech­nik von außen, normative Grenzen zu setzen.

 

Zitator:

„Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden.“

 

Sprecherin:

Mit diesem pathetischen Satz beginnt Jonas sein Hauptwerk, um sodann sehr nüchtern weiterzufragen:  Ist denn die Ethik überhaupt den neuen Herausforderungen gewachsen? Hat sie die räumlichen und zeitlichen Horizonte, um das neue Amt einer moralischen Anleitung und normativen Kontrolle der Technik auszuüben?

Jonas hat daraufhin die überkommene Ethik kritisch in Augenschein genommen:

 

O-Ton, Hans Jonas:

Thema sittlicher Besinnung war, wie man sich von Mensch zu Mensch stellt, individuell oder auch kollektiv politisch, aber das blieb in der menschlichen Sphäre, und im wesentlichen in der Gegenwart, … und jeder Bauer der seinen Hof bestellte, und jeder Handwerker, der seinen Betrieb liebt, dachte, dass das seinen Kindern zu gute kommen sollte, und die würden schon sehen, dass es wieder ihren Kindern zu gute kommen sollte usw, so von Generation zu Generation, sehr kurzfristig. So wie es dem Menschen normalerweise zukommt, denn wer denkt schon – ganz naiv gesprochen – an kommende Jahrhunderte, wer würde das ohne ganz besondern Anlass tun? – Keiner von uns -  an unsere Kinder denken wir natürlich, wenn man alt wird, sogar an Enkel – aber die werden dann schon weitersehen, wie es geht.

 

Sprecher:

Jonas bezeichnet die moralische Lehre der Tradition als Nächsten-Ethik. Sie lehrt rechtes Verhalten gegenüber dem Mitmenschen im Hier und Jetzt. Ihr Blick richtet sich auf die typischen Lebenssituationen, privat und öffentlich, wo sich im Kontakt mit dem Anderen unmit­telbar erweist, ob ein Handeln als gut oder schlecht zu bewerten ist. Diese alte Ethik fordert, sich gegenüber dem Anderen recht zu verhalten, wie religiöse Gebote und ethische Imperative es vor­schreiben: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst", oder: "Tue An­deren, wie Du wünschtest, dass sie dir tun", oder: "Behandle Deinen Mitmenschen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als einen Zweck in sich selbst."

 

Sprecherin:

Alles sittliche Handeln ist auf zwischenmenschliche Gegenwart be­zogen. Die Zukunft, vor allem jenseits der eigenen möglichen Le­bensspanne, kommt dabei nicht in Betracht. Das ist kein Manko der traditionellen Ethiken. Die Macht menschlichen Handelns war viel zu gering, die Reichweite viel zu kurz, als dass man über zukünf­tige Folgen zu spekulieren brauchte. Das wäre müßig oder sogar vermessen gewesen. Ebenso wenig befaßt sich traditionelle Ethik mit einer besonderen Rücksichtnahme auf die Natur. Denn die Natur sorgte für sich selbst; sie war ohnedies viel mächtiger als der Mensch, und es war im Gegenteil bitter nötig, alle Klugheit und die begrenzten technischen Mittel zusammenzunehmen, um ihren Ge­walten menschliche Lebensmöglichkeiten abzutrotzen.

 

Sprecher:

Die traditionelle Ethik, so Jonas' Fazit, ist jedoch völlig unzu­reichend und defizitär im Hinblick auf die neue Problemlage. Sie hat für die weitreichenden Dimensionen technischen Handelns keine Kategorien. Jonas selbst hat den Versuch unternommen, diese Mängel zu revidieren und  eine neubestimmte Ethik für die technologische Zi­vilisation vorgelegt. In ihrem Zentrum steht - so auch der Titel seines Hauptwerks - "Das Prinzip Verantwortung".

 

Sprecherin:

Verantwortung ist – in der Philosophie - eine relativ junge Kategorie, die erst im 20. Jahrhundert relevant wurde. Die traditionelle Ethik operiert mit dem Begriff der Gesinnung. Gesinnung meint, dass es beim moralischen Handeln auf eine untadelige Einstellung und auf hehre Motive ankommt. Aber dieses Gesinnungs­prinzip hat sich gerade in der Geschichte der Wissenschaft und der Technik als hilflos und sogar gefährlich naiv herausgestellt. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Nobelpreisträger Otto Hahn, dem die Kernspaltung gelang, und der am Tage von Hiroshima erklärte, diese Konsequenz habe er aber nicht gewollt.

 

Sprecher:

Einer Ethik, die sich auf die Idee der Verantwortung stützt, gelten guter Wille und edle Motive als nicht ausreichend. Vielmehr muss ein Handeln, das moralisch gerechtfertigt sein will, unbedingt die möglichen Folgen seines Tuns bedenken und in seine Entscheidung einbeziehen.

Hans Jonas entwickelt mit dem Prinzip Verantwortung aber keine veränderte Ethik im Sinne neuer Werte, sondern neuer Dimensionen, die von der alten Ethik nicht berücksichtigt worden sind.

Sprecherin:

Gegenüber der traditionellen Ethik der Nähe entwirft Jonas eine Ethik der Fernverantwortung. Ethisch-verantwortliches Verhalten muß Fern­horizonte gewinnen, es muß das Zukünftige ge­nauso bedenken wie das räumlich Entfernte. Und die Beschränkung überkommener Ethik auf den nächsten Mitmenschen, hat Jonas erwei­tert, indem er ein Verantwortungs­bewusstsein gegenüber der gesamten Menschheit und auch gegenüber der Natur postuliert. Hans Jonas hat dem alten kantischen Imperativ eine neue zeitgemäße Version gegenübergestellt. Er lautet:

 

Zitator:

"Handle so, dass die Wirkungen deiner Hand­lungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden"

 

Sprecherin:

In der gegenwärtigen Ethik-Debatte plädieren fast alle Teilnehmer für das Modell einer Verantwortungsethik. Doch der Begriff der Verantwortung ist keineswegs eindeutig, und es bestehen - gerade auch was die Idee der Zukunftsverantwortung von Jonas anbelangt - er­hebliche Mißverständnisse.

 

Sprecher:

Es gibt auf der einen Seite einen kausalistischen Verantwortungs­begriff: In diesem Sinne ist zum Beispiel der Statiker für die Stabilität der Brücke vor der Allgemeinheit verantwortlich, die Pharmafirma ist verantwortlich für das Medikament, das sie auf den Markt gebracht hat. Jeder kann für die Folgen seines Tuns verant­wortlich gemacht werden und muß gegebenenfalls im juristischen Sinne dafür haften. Dieser kausalistische Verantwortungsbegriff richtet sich primär auf die Vergangenheit und bezieht sich auf begangene Taten, für die man moralisch einzuste­hen hat.

 

Sprecherin:

Es gibt jedoch noch einen zweiten Begriff von Verantwortung, den der Fürsor­gepflicht. Und diesen zweiten Begriff hat Jonas seiner Zukunftsverant­wor­tung unterlegt und am Paradigma der Eltern und des Staatsmannes entfaltet.

 

O-Ton, Hans Jonas:

Die Verantwortung eines Piloten in einem Verkehrsflugzeug für seine Passagiere beginnt, wenn diese Passagiere das Flugzeug besteigen, und endet, wenn man landet, und dann hat er weiter keine Verantwortung mehr für sie, dann gehen sie in nichts mehr an. Und so ist es mit sehr vielen wohl definierten Verantwortungen, die aus Kontrakt- oder Kompetenzverhältnissen entstehen, aus besonderen Berufsverhältnissen, wir haben limitierte Verantwortungen, das sind die meisten die wir haben, für Eltern aber gibt es keine Ferien vom Elterntum. meine ich.

 

Sprecher:

Die Verantwortung der Eltern für das Kind, schreibt Jonas, ist das "zeitlose Urbild aller Verantwor­tung". Eltern sind für ihr Kind nicht einfach deshalb verantwort­lich, weil sie es in die Welt gesetzt haben, - das wäre noch ein­mal Verantwortung gedacht nach dem rückwärtsgewandten Verursa­cherprinzip - Eltern sind vielmehr verantwortlich für das Kind, einfach weil das Kind sie braucht.

 

Sprecherin:

Das Recht des hilflosen Kindes geht unbedingt voran und nimmt die Handlungsmacht der Eltern in die Pflicht. Nicht allein aus Liebe, sondern schon weil das Kind von ihnen abhängig ist, müssen sie ihre Macht zum besten des Kin­des einsetzen. Diese Verantwortungsidee folgt der Maxime: Aus Macht erwächst Pflicht. Und die Verpflichtung beschränkt sich nie auf die Gegenwart, Fürsorge bezieht immer schon die Zukunft ein.

 

O-Ton, Hans Jonas:

Bei der elterlichen sowohl wie bei der politischen Verantwortung geht es nicht nur darum, von Stunde zu Stunde den Notwendigkeiten des Augenblicks zu entsprechen, - das Kind ist hungrig zu bestimmten Zeiten, muss seine Mahlzeiten bekommen, die Flasche oder die Brust, dann muss es aufs Töpfchen, dann muss es schlafen – sondern es ist von Anfang an da die Voraussicht, dass daraus ein Mensch werden soll, eine Person, die mit sich selbst leben kann, mit der Welt leben kann, die Freundschaften schließen kann, die friedlich sein kann, aber sich auch durchsetzen kann, wenn es nötig ist usw – man möchte ein geglücktes Menschenwesen hervorbringen. Dieses Hervorbringen beginnt mit der Erzeugung, aber dann mit der Erziehung und in der elterlichen Verantwortung wird es zu einer permanenten Aufgabe, in die die Zukunft immer eingeschlossen ist.

 

Sprecherin:

Elterliche Fürsorge ebenso wie die Verantwortung des Staatsmannes richtet den Blick nach vorn, sie setzt dem Handeln selber Ziele und weiß sich verantwort­lich nicht nur für das, was getan, sondern noch mehr für das, was zu tun ist.

Übertragen auf die Ethik der Zukunftsverantwortung: Das ungeheure technische Handlungsvermögen des modernen Menschen legt ihm  moralische Fürsorge­pflicht auf. Alles was wir technisch ge­fährden, müssen wir moralisch schützen: menschliche und außer­menschliche Natur, gegenwärtiges und zukünftiges Leben, die Fortexistenz der Gattung Mensch ebenso wie seine Würde.

 

Sprecher:

Kann jedoch - so ließe sich einwenden - die postulierte Moral in dem Maße  nachwachsen, wie das technische Können ins Überdimensionierte ent­wachsen ist? Günther Anders, der Alters- und Studiengenosse von Hans Jonas, für den Philosophieren gleichfalls bedeutete, gegen die apokalyptischen Gefahren anzudenken, glaubte nicht, dass eine neu begründete Ethik helfen könnte. Er wählte den entschlossenen Sprung von der philosophischen Erkenntnis ins öffentlich-politische Engagement.

 

Sprecherin:

Beide jedoch, Anders ebenso wie Jonas, - und hier wird das gemein­same Erbe jüdischer Unheilsprophetie deutlich - bauen auf die hellsichtig machende Kraft der Angst und auf die warnende Funktion von düsteren Zukunftsbildern. Hans Jonas erklärt:

 

Zitator:

An die Stelle der Liebe zum höchsten Gut, das der Mensch sich in seinem Tugendstreben selber zum Ziele setzen kann, muß heute die Furcht vor dem größten Übel treten. Eine gewisse negative Motivie­rung der Moral ist heute nötig geworden. Wenn es zum Beispiel um die Erwärmung des ganzen Planeten geht oder um die Wüstenbil­dung ganzer Teile der Erde, so kann jeder sozusagen mit den Augen der Phantasie vor sich sehen, was das bedeuten würde.

 

Sprecherin:

Allerdings bleibt fraglich, warum Menschen sich von mög­lichen Gefahren in Furcht versetzen lassen sollten, die in weiter Ferne liegen. Das Los späterer Generationen oder das künftige Ge­schick des Planeten Erde - warum sollte es ein Angstgefühl auslö­sen?

 

Sprecher:

Jonas meint denn auch kein Fürchten, das mich spontan und ohne mein Zutun befällt, sondern eine geistige Furcht, in die eine be­sondere kognitive Anstrengung eingeht. Diese Art von Furcht braucht zwei Begleiter: den Verstand, der sich systematisch kundig macht über mögliche gefährliche Fernwirkungen bestimmter Techno­logien, und die Einbildungskraft, die diese Gefahren in anschauli­che, Betroffenheit weckende Bilder übersetzen soll.

 

Sprecherin:

Jonas nennt das die Heuristik der Furcht. Die Furcht ist also ein ethisches Suchprinzip, sie hilft Gefahren aufzuspüren und gefähr­dete Werte allererst ins Bewußtsein zu rücken. So wie man um den Wert der Gesundheit erst weiß, wenn diese nicht mehr selbstver­ständ­lich ist, so soll die Sondierung der gentechno­logischen Ge­fahren, die Schreckensvision des geklonten Menschen,  über die Würde des Subjekts beleh­ren. Jonas schreibt:

 

Zitator:

"Wir wis­sen erst was auf dem Spiele steht, wenn wir wissen, dass es auf dem Spiele steht."

 

Sprecherin:

In diesem Sinne gilt, es Szenarien zu entwickeln, in denen die denkbaren Folgen neuer Technologien, vor allem ihre Risiken durchgespielt und möglichst anschaulich vor Augen gerufen werden. Dabei müssen nicht nur erhoffte Vorteile und befürchtete Nachteile gegeneinander abgewogen werden, die Risiken eines Schadens sollten generell kalkulierbar bleiben.

 

Sprecher:

Denn eine perfekte Technik gibt es nicht. Den Menschen unterlaufen bei der Anwendung immer wieder Fehler, auch wenn die Sicherungs- und Kontrollsysteme noch so ausgeklügelt scheinen. Und in einer komplexen Welt kann jede Technik mit Effekten überraschen, die sich so nicht antizipieren ließen.

Dietrich Böhler, Ethik-Professor an der FU Berlin, fordert deshalb nur solche Techniken zuzulassen, deren Einsatz auch im Falle eines Fiaskos zu verkraften sei.

 

O-Ton, Dietrich Böhler:

Wir machen ständig de facto Fehler, und deshalb dürfen wir nur fehlervereinbare Technologien haben, und nur fehlervereinbare Beschlüsse treffen. Daraus folgt für mich auch, dass die Atomenergie nicht legitimierbar ist, es ist eine Technologie, die auch in der Entsorgungszeit über Hunderte von Generationen hinweg keinen Fehler in der Entsorgung haben darf. Das ist keine fehlerfreundliche Technik, keine Technik die es uns noch erlaubt, Fehler zu machen. Und ebenso dürfen wir hier in den Fragen der Gentechnologie, dort wo es um menschliches Leben und menschliche Würde geht, nur solche Beschlüsse herbeiführen, die fehlerhaft sein könnten, um noch verantwortet werden zu können.

 

Sprecher:

‚Das Prinzip Verantwortung’ von Hans Jonas prägt wie kein anderes Werk die Debatten um die Ethik der Technik bis in die Gegenwart hinein. Jonas’ Konzeption bildete sich am Ende eines langen Denkweges, ebenso gingen die Erfahrungen eines schwierigen Lebensweges in sie ein - das Schicksal eines aus Deutschland vor den Nazis geflohenen Juden.

 

Sprecherin:

Hans Jonas wurde 1903 als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten in Mönchengladbach geboren. Die Stadt ehrt den einst vertriebenen Mitbürger in diesem Jahr durch eine Reihe von Veranstaltungen: Es gibt unter anderem ein Symposion, Vorträge, Lesungen, ein Konzert in der Synagoge und  einen Philosophie-Wettbewerb für weiterführende Schulen in NRW.

 

Sprecher:

Aus Jonas’ Leben erfahren wir viele neue Einzelheiten von ihm selbst. Jonas hat Rachel Salamander, die sich als Publizistin und als Buchhändlerin in besonderer Weise der Literatur zum Judentum widmet, in einer langen Reihe von Gesprächen sein Leben erzählt. Rachel Salamander formte aus dem Wortlaut von 33 Tonbändern, jedes 90 Minuten lang, unter Auslassung der Fragen  behutsam eine Autobiographie, die im April auf dem Buchmarkt erschienen ist, unter dem Titel: „Hans Jonas’ Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander“.

Rachel Salamander gibt wieder, wie Hans Jonas seine Herkunft und sein Elternhaus beschrieben hat.

 

O-Ton, Rachel Salamander:

Er stammte wie die meisten aus dieser bildungsbürgerlich-jüdischen Schicht . aus einem eher assimilierten Elternhaus; nur - bei Jonas war es so, dass dennoch noch eine Anbindung an das orthodoxe traditionelle Judentum bestand, man ging in die Synagoge, man wusste noch von jüdischen Bräuchen, was in den anderen Elternhäusern oft gar nicht mehr der Fall war, und das wurde auch gepflegt. Der Vater war durchaus patriotisch, gehörte auch zu dem ‚Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens’. Hans Jonas nahm aber schon früh eine gegensätzliche Position an, wovon er auch ganz stolz erzählt hat: er schloss sich nämlich der zionistischen Bewegung an. Was ihn später vor dem Schlimmsten bewahrte.

 

O-Ton, Hans Jonas:

Ich war jüdisch, um uns herum, die Nachbarn waren überwiegend katholisch …, und dass einem schon einmal nachgerufen wurde:  „Jüd“, - das kam vor, ich kann nicht sagen, dass ich es sehr tragisch genommen habe, aber es hat etwas in mir erzeugt, einen starken Abwehrstolz. Ich hatte von meinem Vater ein jähzorniges Temperament geerbt, … Ich erinnere mich noch wie einer meiner Klassenkame­raden, mit dem ich übrigens sehr gut stand, zu anderen sagte: „Seid vorsichtig mit dem Hans Jonas, wenn ihr den kriegt, der haut gleich los.“ Er hatte erfahren, dass bei irgendeinem Witz, der gemacht worden, gar nicht so sehr böse, über meine Vorväter mich eine blinde Wut überkam und ich, der ich eigentlich zu den kleinen in der Klasse gehörte, dann mit solcher Wut losschlug, dass die andere Seite zurückschrak, das habe ich später gemerkt im Leben, dass ein gesunder Zorn manchmal etwas sehr Gutes ist.

 

Sprecherin:

Hans Jonas studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte, zunächst in Freiburg bei Edmund Husserl, dann in Berlin und Heidelberg, schließlich in Marburg bei Martin Heidegger und Rudolf Bultmann. Heidegger, dessen Stern damals aufging, zog ihn wie und viele andere in seinen Bann. Jonas lernte Karl Löwith kennen und Hannah Arendt, mit der ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Jonas promovierte bei Heidegger über den antiken Geist der Gnosis.

 

Sprecher:

Nach der Machtergreifung Hitlers erkannte Jonas sehr bald, dass er in Deutschland nicht bleiben konnte. 1934 verließ er seine Heimat mit dem Gelöbnis, so Jonas „nie wiederzukehren außer als Soldat einer siegreichen Armee.“ Er ging über England nach Palästina. Dort trat er in die jüdische Brigade der britischen Armee ein und kämpfte im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler. Zusammen mit den alliierten Truppen kehrte er bei Kriegsende für kurze Zeit nach Deutschland zurück.

 

O-Ton, Hans Jonas:

Wie ich nach Mönchengladbach kam, ich wusste nicht, was mit meiner Mutter geschehen war, nur dass sie deportiert worden war nach Osten, und ins Ghetto nach Lietzmannstadt, der deutsche Name für Lodz. Durch das Rote Kreuz bekam ich während des Krieges noch einmal Nachricht, dass sie dort sei, und ich hatte immer noch die schwache Hoffnung, vielleicht treffe ich sie wieder, wenn alles vorbei ist. Ich kam nach Gladbach, da gab es ein jüdisches Gemeindezentrum, ein temporäres provisorisches, wo Flüchtlinge sich einfanden und wo man Auskunft bekommen konnte. Ich ging dahin, da war eine Frau in mittleren Jahren mit ihrer Tochter, die heil zurückgekommen waren. Sie waren auch in Lodz, im Ghetto. Und ich wandte mich an sie und nannte meinen Namen, und da brach sie in Tränen aus: sie hatte meine Mutter gekannt in Lodz, und sagte, sie ist 1942 nach Auschwitz weiterverschickt worden.

 

O-Ton, Rachel Salamander:

Es endete mit den Nationalsozialisten auch bei der Familie Jonas das Kapitel der deutsch-jüdischen Geschichte: die Sprache ist mit ihnen ausgewandert, das Bildungsgut, das die Juden so gut beherrschten wie kaum einer in Deutschland selbst. Hans Jonas hat noch spät in seinem Alter mit 89 zitieren können, was wir alle schon gar nicht mehr können: Schiller und Goethe rauf und runter, Heine, er konnte Abendgesellschaften unterhalten mit memoriertem deutschen Bildungsgut aus Literatur, aus Musik, aus der Kunst überhaupt, das war schon faszinierend,– obgleich er viele Jahre schon in der Emigration war, viele Jahre in fremden Sprachen geschrieben, gelehrt hat und gelesen hat, hatte er sich in seiner Sprache ein Stück Deutschland mit rheinischer Färbung aufbewahrt, was wir kaum noch kennen gelernt haben. Ich hatte, das Glück noch einige von diesen zur Emigration gezwungenen Menschen kennen zu lernen, dieses Deutschland ist mit den Nationalsozialisten verschwunden und mit dem Tod der jetzt im Ausland lebenden Emigranten auch.

 

 

Sprecherin:

Nach dem Krieg ließ sich Hans Jonas in Israel nieder, dem Land seiner Wahl. Aber seine Situation dort gestaltete sich schwierig. Der Unabhängigkeitskrieg Israels zwang ihn erneut vom Schreibtisch an die Front. Angemessene akademische Positionen boten sich auch in der Folgezeit nicht, da die Philosophie-Lehrstühle mit Scholem und Buber prominent besetzt waren, außerdem bereitete es ihm, der sehr bewusst mit der Sprache umging, große Mühe, seine Vorlesungen auf Hebräisch oder Englisch auszuarbeiten.

 

Sprecher:

Als ihn 1949 ein Ruf auf eine Professur in Kanada erreichte, nahm er an und übersiedelte mit seiner Frau Lore zuerst nach Montreal, dann nach Ottawa. 1955 wechselte er nach New York, wo er bis zu seiner Emeritierung 1976 an der New School for Social Research Philosophie lehrte.

Die Zeit nach dem Krieg bedeutete für Jonas auch eine Neuorientierung in seinem Denken. Martin Heidegger, von dessen Philosophie er geprägt war, hatte sich in seiner Freiburger Rektoratsrede den Nazis angedient. Und auch nach dem Krieg blieb Heidegger jede Erklärung zu seiner Verstrickung schuldig, das Wort blieb aus, auf das Jonas wie viele andere in Deutschland vergeblich warteten.

 

O-Ton, Hans Jonas:

Es war eine Enttäuschung, die sich nicht nur auf die Person bezog, sondern auf die Kraft der Philosophie, Menschen vor so etwas zu bewahren. Dass die Philosophie nicht die Kraft hatte, Heidegger zu schützen, vor diesem Irrweg – das empfand ich damals fast wie ein Fiasko der Philosophie, eine welthistorische Blamage, ein Bankrott der Philosophie. Das durfte nicht sein: Alles Mitläufertum, alles Umfallen, alle Gleichschalterei - überall konnte man teils Dummheit, Verblendung, Schwäche, Feigheit und was nicht alles anführen, aber dass der bedeutendste, originalste philosophische Denker meiner Zeit da mit macht, das war ein ungeheurer Schlag für mich.

 

Sprecher:

Nach dem Krieg emanzipierte sich Jonas auch in seiner eigenen philosophischen Ausrichtung von Heidegger. Er hielt Heidegger vor, dass dieser zwar ständig von der Seinsvergessenheit gesprochen, aber darüber selber die Natur vergessen habe.

 

Sprecherin:

Jonas’ Denken suchte nach einer Brücke über jene Kluft zwischen Geist und Natur, Bewusstsein und Körper, Subjekt und Objekt, in der sich die neuzeitliche Philosophie seit Descartes eingerichtet hatte. In dieser Aufspaltung war jeder Wert dem menschlichen Subjekt vorbehalten, und nur das Subjekt konnte dem Gegenüber Wert zusprechen, während die andere Seite, die Natur, an sich keinen Wert besaß, sie war nur Materie, bloßes Material, mit dem der Mensch beliebig verfahren kann. 

In diesem Konzept diagnostizierte Jonas die Wurzel des modernen Nihilismus:

 

Zitator: 

Der Natur der Dinge ist keine Würde für sich selbst geblieben. Alle Würde gehört dem Menschen: was keine Ehrfurcht gebietet, darüber kann geboten werden, und alle Dinge sind zum Gebrauch.

 

Sprecherin:

Aber erst Naturwissenschaft und Technik setzen diese philosophische Selbstermächtigung des Menschen auf Kosten der Natur in die Tat um. 

Deshalb – so Jonas - bedürfen sie einer ethischen Zügelung, wie er sie im Prinzip Verantwortung entwarf.

 

Sprecher:

Um jedoch nicht im abstrakten Appell stecken zu bleiben ließ Hans Jonas 1985 eine Aufsatzsammlung Zur Praxis des Prinzips Verantwortung – so der Untertitel – folgen. Hier konzentrierte er sich auf die Bereiche der Humanbiologie und der Medizin, wo die philosophische Ethik in eine konkrete Auseinandersetzung mit den neuen medizinisch-technischen Möglichkeiten treten soll. Auf diesem Feld fanden und finden gegenwärtig die heftigsten Diskussionen statt: über Hirntod und Organbanken, Retortenbabys und Leihmütter, über Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik, und über die Klonierung von Mensch und Tier. 

 

Sprecherin:

Diese Themen aufzugreifen und konkret zu diskutieren, versucht die Gruppe Ethik und Medizin im Dialog, die sich im Hans Jonas-Zentrum gebildet hat. Sie wird geleitet von Horst Gronke.

 

O-Ton, Horst Gronke:

Es ist heute auf einmal, auf einen Schlag möglich, nicht nur in das menschliche Erbgut einzugreifen, … sondern Menschen am Leben zu erhalten, deren Hirnfunktionen nicht mehr arbeiten. Das ist heute mit der modernen Technologie auf einen Schlag möglich. Und nun stehen wir vor dem ethischen Problem, vor der ethischen Herausforderung. …  Da gibt es Bedürftige, die Organe benötigen zum Überleben. Es besteht auch in den USA, in Europa in unterschiedlicher Weise, in Spanien weniger, in Deutschland mehr Organknappheit, je nach Bewusstseinslage der Gesellschaft, dann fragt man sich: Wenn ein Patient, dessen Herzkreislaufsystem nur noch arbeitet, dessen Hirnfunktionen ausgesetzt haben, eigentlich spürt der doch nichts mehr, eigentlich könnte man dessen Organe direkt entnehmen und dem anderen bedürftigen Patienten einpflanzen. Diese neuen Möglichkeiten entstehen, die dann die ethische Frage aufwerfen: Darf man so etwas? Darf man – wie Jonas sagt – „am lebenden Leichnam Organe entnehmen“?

 

Sprecher:

Die Diskussion um den Hirntod hat Hans Jonas in Amerika seit den späten 60er Jahren kritisch verfolgt und seine Einsprüche mehrfach formuliert.

Hirntod bedeutet medizinisch, dass die Gesamtfunktionen des Groß- und des Kleinhirns dauerhaft erloschen sind, so dass Atmung und Herztätigkeit nur maschinell aufrechterhalten werden können. Wenn der Patient in ein irreversibles Koma gefallen ist, nähert sich der Tod unaufhaltsam. Der Mensch liegt im Sterben.  

In dieser Hinsicht hat die Festsetzung des Hirntodes eine humane Seite, die Jonas bejaht. Denn die rechtliche Anerkennung des Hirntodes gestattet den Ärzten eine sinnlose, maschinelle Verlängerung des Zustandes zu unterlassen. So dass der Patient in Würde sterben kann.

 

Sprecherin:

Aber die rechtliche Festlegung auf den Hirntod, wie sie 1997 mit dem Transplantationsgesetz auch in Deutschland vollzogen wurde, hat auch eine andere problematische Seite. Die Transplantationsmedizin kann nun, sofern eine Erlaubnis zur Organentnahme vorliegt, über den Hirntoten verfügen, und – so Jonas „den auf der Schwelle von Leben und Tod festgehaltenen Leib ungehindert nutzen.“

 

O-Ton, Horst Gronke:

Die Position von Jonas, auf seinem ethischen Fundament aufruhend, besagt, dass das menschliche Leben an sich Menschenwürde verdient, und zwar in jeder Lage – … Und dann hat eben auch dieses menschliche Sein, das in dem Stadium ist, dass die Hirnfunktionen nicht mehr arbeiten, aber die Herzkreislauffunktionen noch arbeiten, werthaftes Sein. Das ist nun umstritten, - auch Hans Jonas ist nicht davon ausgegangen, dass seine Position die richtige ist, in dieser Frage,. … Wenn es aber nun dennoch ernsthaften Streit gibt, … dann sagt Jonas, im Zweifelsfalle sollte man für den Patienten sprechen, für das Recht des betroffenen Patienten, dann kann man nicht eine Definition des menschlichen Todes festlegen. Das überschreitet menschliches Vermögen und überschreitet auch die Sinngrenzen der Vernunft, man mutet sich mehr zu, als man eigentlich verantworten kann.

 

Sprecher:

Der Hirntote geht über eine Schwelle, vom Leben hinüber in den Tod. Ins Leben zurück kann er nicht mehr, seine Gehirnfunktionen – das Höchstentwickelte im Menschen -  haben ausgesetzt, aber ist er deswegen

schon völlig empfindungslos? Nicht wenige Mediziner bestätigen Jonas’ Zweifel von fachlicher Seite, indem sie auf die verbliebenen Vitalfunktionen hinweisen: Der Hirntote hat Stoffwechsel, er macht spontane Bewegungen, so genannte Lazaruszeichen, vor allem reagiert er auf Schmerzreize mit Blutdruckanstieg.

 

Sprecherin:

Ist der Hirntote tatsächlich schon einem Leichnam gleichzusetzen?

Die Diskussion um den Hirntod rührt an die Frage, was unter Menschsein versanden wird, - und das ist im letzten keine medizinische, sondern eine anthropologische Frage.  Hier wird deutlich, dass im Horizont der biowissenschaftlichen und medizinischen Möglichkeiten die alten philosophischen Fragen nach dem Sinn von Leben und Tod, nach dem Begriff der menschlichen Person, ihrer Integrität und Würde neue Brisanz erhalten.

 

Sprecher:

Im letzten Jahrzehnt, also nach Jonas’ Tod  ist auch die andere Grenze des Lebens - Geburt, Schwangerschaft, Zeugung – in den Brennpunkt der Auseinandersetzung gerückt. Weitgehend einig ist man sich noch – zumindest in Europa – über ein Klonverbot des Menschen. Aber an anderer Stellte drohen Dammbrüche, vor allem in der Stammzellforschung. Jonas hat solche Entwicklungen prognostiziert und hat, wie Dietrich Böhler erläutert, ein ethisches Kriterium zur Orientierung auf dem schwierigen Terrain vorgeschlagen.

 

O-Ton, Dietrich Böhler

Hans Jonas hat ein Kriterium ins Spiel gebracht: Das Ganze der Interessen anderer, das dürften wir nicht verletzen. Und wenn es um das Leben geht, dann ist das Ganze der Interessen anderer im Spiel, und das dürften wir nicht aufs Spiel setzen. Es kann jetzt strittig sein, bei der Stammzellenforschung, auch bei der Präimplantationsdiagnostik, wann beginnt menschliches Leben. Oder wenn man sich darauf einigt, dass vielleicht alle sagen, menschliches Leben beginnt zum Zeitpunkt der Nidation, dann bleibt noch strittig und ist gegenwärtig strittig: ab wann ist das Leben schutzwürdig? Wann also greift Menschenwürde? Wann müssen wir diesem werdenden menschlichen Leben Menschenwürde zubilligen? Also Unverfügbarkeit. - Wann dürfen wir nicht über es verfügen?

 

Sprecherin:

Die unterschiedlichen Annahmen über den Beginn des menschlichen Lebens, ob mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle oder erst mit der Einnistung der befruchteten Eizelle im Uterus – sind in diesem Falle nicht entscheidend, wohl aber das Kriterium, ab wann dem werdenden Leben uneingeschränkter Schutz zusteht, oder wie man seinen Wert gegebenenfalls im Konflikt mit dem Lebensinteresse anderer, etwa dem der Mutter, gewichtet.

 

Sprecher:

Darüber wird in den verschiedenen Ethik-Gremien, die inzwischen an mehreren Stellen und in unterschiedlicher Zusammensetzung eingerichtet wurden, gestritten. An prominentester Stelle im Nationalen Ethikrat, ein Gremium aus Naturwissenschaftlern, Medizinern und Juristen, Philosophen und Theologen, das der Bundeskanzler vor zwei Jahren installierte, aber auch in der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ die wiederum vom Deutschen Bundestag eingesetzt wurde und ihren Abschlussbericht vor einem Jahr vorlegte.

 

O-Ton, Horst Gronke:

Wenn Sie die Argumente des Nationalen Ethik-Rates sich anschauen, und der Enquete-Kommission zur modernen Medizin - derjenigen in der letzten Legislaturperiode, es gibt jetzt eine neue Enquete-Kommission - dann sehen Sie, dass zu den Statusfragen des Embryos jede Seite gute Argumente hat, es gibt das Potentialitätsargument: Ja, es ist ein potentielles menschliches Leben, darum hat es auch schon Menschenwürde, - und die Gegenposition, die genau sagt. Potentialität ist nicht wirklich ein gutes Argument, da gibt es andere Überlegungen, die man anstellen kann. Also auf beiden Seiten gute Argumente, die stehen sich vor allem in der Argumentation des Nationalen Ethikrates gegenüber, und es kommt am Ende wie üblich zu einem Mehrheits- und einem Minderheitsvotum, ohne dass diese Diskussion wirklich vertieft und weitergeführt wird.

 

Sprecherin:

Es handelt sich dabei keineswegs um hypothetische Fragen.

Die Stammzellforschung operiert mit so genannten pluripotenten Zellen, d.h. Zellen, die man aus Embryonen oder auch – allerdings schwieriger - aus dem Zellgewebe von Erwachsenen gewinnt. Pluripotente Stammzellen haben die Eigenschaft, sich in ganz verschiedene Zellen und Zellarten differenzieren zu können, allerdings nicht mehr in einen vollständigen menschlichen Organismus. Man nimmt an, aus solchen Stammzellen unter geeigneten Bedingungen Gewebe aller Art, auch Organe heranzüchten zu können, und erhofft sich neue Therapiechancen für bislang unheilbare Krankheiten.

 

Sprecher:

Aber die Gewinnung embryonaler Stammzellen ist mit der Zerstörung des Embryos verbunden. Man kann jene befruchteten Eizellen, die bei der Herbeiführung einer künstlichen Schwangerschaft nicht mehr gebraucht werden, also gleichsam übrig bleiben, zur Gewinnung von Stammzellen nutzen. Doch da bietet sich schon der nächste Schritt an: Man könnte Eizellen einzig zu dem Zweck befruchten, also im Labor menschliches Leben erzeugen, um es gezielt biotechnisch auszubeuten – und genau dieses Szenario zeichnet sich ab.

 

Sprecherin:

In Deutschland ist die Herstellung menschlicher embryonaler Stammzellen durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Zugleich hat man sich aber jüngst im Stammzellgesetz ein Hintertürchen geöffnet, um den Anschluß an die internationale Forschung und deren spätere profitable Verwertung nicht zu verpassen. Der Import von embryonalen Stammzellen, die in ihrem Land vor dem Jahr 2002 gewonnen wurden, ist zu besondern Forschungszwecken genehmigt.

 

O-Ton, Dietrich Böhler

In der Stammzellforschungsdiskussion und auch in der Präimplantationsdiagnostikdiskussion gibt es in der Tat einen Dammbruch. International und inzwischen auch bei uns national. So einen Kompromiss zwischen dem Prinzip Verantwortung und dem Sich-anschließen an die Verwertung von getötetem menschlichen Leben. Und ein solcher Kompromiss ist eben dann kein Kompromiss mehr, sondern ist letztlich eine Entscheidung weg vom Prinzip Verantwortung. Das macht mir Sorge, …

Das Ziel leuchtet allen ein, Kinder haben, wunderbar, aber das Mittel wird nicht verantwortungsethisch streng diskutiert, und eine schwammige Ethik er guten Ziele verdrängt den Diskurs, die kritische Prüfung der Mittel im Blick auf ihre Verantwortbarkeit. Das ist ein erstaunlicher Rückfall des moralischen Bewusstseins, und der harmoniert natürlich bestens mit den massiven Interessen, nicht nur jener Möchtegern-Eltern – sie könnten sich ja auch ein Kind adoptieren – sondern die Interessen ganzer Industriezweige dahinter, und auch unser Bundeskanzler hat sehr naiv den Standpunkt vertreten, wir müssten hier doch Anschluss an die technologische Forschung und Praxis in der Welt finden.

 

Sprecher:

Jonas mahnte zu einer radikalen Selbstbeschränkung der Wissenschaft und stellte die "Idee einer freiwilligen Selbstzensur" in sensiblen Bereichen zur Diskussion, d.h. einen Verzicht auf das technische Machbare und einen Respekt vor der Unverfügbarkeit jedes Menschenwesens. Sein Vorschlag eines Forschungsstopps scheint zumal im globalisierten Wettstreit von Wissenschaft und Wirtschaft wenig aussichtsreich. Aber er verweist auf das Dilemma des modernen Denkens, auf den Bruch zwischen Mensch und Natur.

 

Sprecherin:

Jonas’ Ethik enthält schon ein anderes Verständnis der Natur, in der ihr wieder Eigenwert zuerkannt wird.  Das impliziert eine Kritik an der Einseitigkeit der naturwissenschaftlichen Sicht. Für Jonas bedeutet dies keine Verwerfung und Abschaffung der Naturwissenschaften; vielmehr erkennt er ihre Leistungen und Erkenntnisse ausdrücklich an - freilich nur als Ausgangsbasis des Wissens, hinter die eine philosophische Sicht der Natur zwar nicht zurückfallen, über die sie sehr wohl aber hinausgehen muß.

 

Sprecher:

Die fällige Revision des Naturverständnisses unternahm Jonas in dem Schriftenband Organismus und Freiheit, der jetzt unter dem Titel Das Prinzip Leben neu veröffentlicht ist

Hans Jonas begründet darin den Wert der Natur  ganz unmodern, nämlich im metaphysischen Rückgriff auf die Naturphilosophie: Alles lebendige Sein, bezeugt dadurch, dass es lebt, seinen Wert. Weil es lebt, soll es leben. Und deshalb kommt dem Men­schen in dem Maße, wie er Leben technisch gefährdet, mora­lisch die Pflicht zu es zu hüten.

 

Sprecherin:

Logisch ist diese Begründung schwach und leicht angreifbar, weil sie von einem Sein auf ein Sollen, von einem Faktum auf eine Norm schließt. Umso stärker jedoch spricht philosophische Weisheit aus ihr, eine "Erfurcht vor dem Leben", wie Albert Schweitzer das ge­nannt hat.

Und wenn die Begründung in logischer Hinsicht schwach bleibt, so erwächst ihr doch in unserer Intuition eine mächtige Stütze.

 

O-Ton, Dietrich Böhler

Wir haben doch in Jahrtausenden des menschlichen Naturverhältnisses solche Intuitionen aufgebaut. ‚Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie Du den Schmerz!’ – das ist eine solche Intuition, die die Regel der Gegenseitigkeit, wie wir sie auch in Form der Goldenen Regel zwischen Menschen befolgen, nun überträgt auf unser Verhältnis zu einem Teil der Natur, nämlich zu den Tieren, …– die Tiere haben schon ein Selbstverhältnis, der Mensch hat ein sich auch sprachlich ausdrückendes Selbstverhältnis, … Wir können immer uns fragen, was hast Du denn da getan? Warum tust Du das? … Und hier ist das Verstehen sehr leicht, wo ein solcher Dialog schon da ist. Zu den Tieren ist es ein bisschen schwieriger. Wir können das Selbstverhältnis der Tiere nur hypothetisch und damit auch fehlerhaft nachkonstruieren, nachdem wir es zuvor mitempfunden, nachempfunden haben, dass wir aber ein Selbstverhältnis bei den Tieren haben, können wir aber nicht bestreiten, da hat doch jeder seine Intuitionen, wenn er einem Tier ins Auge schaut, wenn er ein Tier beobachtet, kann er nicht bestreiten, dass er da etwas versteht, was das Tier braucht, oder was in dem Tier vorbeigeht.

 

Sprecher:

Im Umgang mit dem Tier, in der Art und dem Ausmaß der Tierversuche, spiegeln sich die hypertrophen Ansprüche des Menschen gegenüber aller anderen Natur. Jonas empfahl der modernen Gesellschaft,  die antiken Tugenden der "Enthaltsamkeit" und der "Mäßigkeit" neu zu interpretieren, und stellte sie dem Prinzip Verantwortung an die Seite.

 

Sprecherin:

Technik bedeutet zwar immer, in die Natur einzugreifen. Da die Rolle des Menschen nicht absolut festgelegt ist, ist dies gerechtfertigt, wahrscheinlich sogar notwendig. Ein grundsätzlicher Verzicht auf die Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technik scheint deshalb ausgeschlossen. Aber es gilt wohl zu überlegen, zu welchem Preis man jeweils auf einem Weg fortschreitet und in die Natur, in- und außerhalb des Menschen, eingreift.

 

Sprecher:

Zur humanen Existenz gehört die Unverfügbarkeit des Lebens hinzu. Menschenwürde ist gerade auch dadurch charakterisiert, daß das Leben etwas Faktisches hat, etwas, das man gerade nicht nach Belieben drehen und wenden kann. Wollte man überall in die Grundlagen des eigenen Daseins eingreifen, - wenn auch mit der Absicht nachzubessern – so würde man paradoxerweise die menschliche Existenz entwerten.

 

O-Ton, Hans Jonas:

Unsere so völlig enttabuisierte Welt muss angesichts ihrer neuen Machtarten frei­willig neue Tabus aufrichten. Wir müssen wissen, dass wir uns weit vor­ge­wagt haben und wieder wissen lernen, dass es ein Zu-weit gibt. Das Zu-weit   be­ginnt bei der Integrität des Menschenbildes, das für uns unantastbar sein soll­te. Nur als Stümper könnten wir uns daran versuchen, und selbst Meister dürften wir doch nicht sein. Wir müssen wieder Furcht und Zittern lernen und - selbst ohne Gott - die Scheu vor dem Heiligen. Diesseits der Grenze, die es setzt, bleiben Aufgaben genug.