Gespräch mit
Bernhard Waldenfels
Peter Leusch:
Herr
Waldenfels, in Ihrem letzten Buch "Der Stachel des Fremden" zitieren
Sie mehrfach die Hauptfigur von Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften".
Und ohne Eigenschaften bedeutet in diesem Fall einen Menschen ohne letzte
Bindungen, ohne letzte und tiefe Wurzeln in Beruf, Familie, Partei oder in
einer Weltanschauung. Ist das der Prototyp des Philosophen heute, bzw was
verstehen Sie unter Philosophieren heute?
Bernhard Waldenfels:
Die
Philosophie ist angetreten als eine Gesamt- und Grundwissenschaft, die also
alles partielle Wissen in ein Gesamtwissen integrieren wollte und zugleich die
Grundlagen legte, nach denen man alles Wissen zugleich auch kritisch zu
betrachten hat.
Ich denke,
daß diese Sichtweise, nicht erst heute, etwa im Zeichen der Postmoderne,
sondern schon über lange Zeit hin im Schwinden ist, und zwar dann, wenn man
nicht mehr, wie es die Griechen taten, von einer umfassenden Ordnung, dem
Kosmos, ausging, im Mittelalter von einer Schöpfungsordnung, die teils
griechisch gedacht war, aber auch wieder eine Gesamtordnung ausmachte - da war
der Philosoph sozusagen der Funktionär dieser Gesamtordnung, oder ein
"Funktionär der Menschheit", wie Husserl es formuliert hat.
Wenn es aber
so ist, daß Ordnungen ihre kontingenten Bedingungen haben, daß es nicht die Ordnung gibt, die in der Natur oder
einer Schöpfung verankert ist, sondern es immer Spielräume von Ordnung gibt,
dann ändert sich auch die Funktion der Philosophie, um Musil zu zitieren, den
Sie erwähnt haben, er sagt an einer Stelle sehr schön in Bezug auf den
neuzeitlichen nominalistischen Gott: Auch Gott denkt im Potentialis, er denkt:
die Welt, die ich geschaffen habe, könnte auch eine andere sein.
Das ist sehr
genau formuliert, das Moment der Kontingenz in den Ordnungen: Sie könnte auch
eine andere sein - was wäre denn der Philosoph, der immer noch behauptet: Es
kann nur diese sein.
Und damit
ergibt sich das Problem: Ist der Philosoph ganz ortlos? Kann er sich bloß
anpassen an faktische Ordnungen? Oder welche Funktion hat er dann? Ich denke
eine Funktion, die auch Musil mit im Auge hat, wäre die, daß der Philosoph sehr
aufmerksam, kommentierend, analysierend die Grenzen der Ordnung untersucht,
die jeweils gleichzeitig oder nacheinander im Laufe der Geschichte auftreten,
weil ich denke, daß die Grenzen der Ordnung, das was nicht in der Ordnung Platz
findet, auch zur jeweiligen Ordnung gehört.
Manfred Köhler:
Ja, also
Horizont, Grenze, auch Möglichkeit vor allem - das sind ja bevorzugte Themen
der Phänomenologie. Und Sie kommen ja auch von der Phänomenologie her. Man
kann, denke ich sagen, daß die Wurzeln Ihres Philosophierens dort liegen. Sie haben 1967 sich habilitiert mit einer Arbeit
über die Sozialphilosophie Husserls: "Das Zwischenreich des Dialogs".
Was bedeutet für Sie die Phänomenologie als einer besonderen Art des
Philosophierens, auch heute, gerade heute?
Bernhard Waldenfels:
Die
Phänomenologie Husserls bedeutete einen Durchbruch gegenüber einer doch relativ
erstarrten Universitätsphilosophie, die sehr von Kant her bestimmt war, d.h.
man hatte gewisse Grundgerüste, auch Betrachtungsgesichtspunkte, nach denen man
das Denken, Handeln und die Kultur betrachtet hat, das waren eigentlich
Schemata, die nicht wirklich produktiv aus der Erfahrung gewonnen wurden.
Auf der
anderen Seite gab es diesen ungeheuren Berg an Gelehrsamkeit, der auch aus dem
19.Jh. stammt, wo die Philosophie zu ersticken drohte, unter ihrer eigenen
Geschichte, - ein Problem, das uns ja heute auch noch begleitet: das Problem
des Historismus, auch dagegen versuchte Husserl anzugehen.
Und gegen
diese Möglichkeiten setzte Husserl diesen so naiv und einfach klingenden Satz: Zurück zu den Sachen!
"Zurück
zu den Sachen" - das klingt außerordentlich naiv, aber es ist zunächst
einmal eine Befreiung des Blicks. Für mich hatte diese Maxime von Husserl immer
etwas Anarchisches gehabt: Laß den Blick nicht einfach gängeln durch die
Schemata, die anerzogen sind, und sei es über Jahrhunderte hin, sondern versuche
das, was du erfährst immer wieder neu zu formulieren!
Peter Leusch:
Sie haben
sich neben der Phänomenologie, die einen kritischen reflektierenden Blick auf
die Phänomene wirft, mit dem Marxismus beschäftigt, der ebenfalls einen Blick
auf den falschen Schein der Dinge richtet, in denen ja auch die
gesellschaftliche Ordnung steckt. Sie haben als Mitherausgeber einer Reihe
von Bänden 'Phänomenologie und Marxismus' firmiert. Wie sehen Sie heute die
Situation des Marxismus? Viele sagen, nach dem Niedergang der "realsozialistischen"
Gesellschaftsordnungen sei auch der Marxismus tot.
Bernhard Waldenfels:
Phänomenologie
und Marxismus, so wie ich es aufgefaßt habe, auch die meisten meiner Kollegen,
bedeutet nicht den Versuch einer Synthese oder Versöhnung, sondern die
Konstituierung eines Problemfeldes, wo für mich immer das Interessante von
Anfang war, daß die Phänomenologie Husserls auf ähnliche Probleme gestoßen war
wie Marx, und zwar dort, wo Husserl sich der Vorstellung noch hingab, man könne
die Geschichte in einer Gesamtvernunft, in einer Gesamtteleologie vereinen,
Europa sozusagen als der bevorzugte Ort der Vernunft, da ist eine gewisse
Paralelle zu dem, was Husserl versucht hat, auch er versucht einen bevorzugten
Ort in der Geschichte zu finden, sozial gesehen das Proletariat, das ja nicht
bloß eine soziologische Kategorie war, sondern, wie Lukacs vor allem noch
herausgearbeitet hat, eine geschichtsphilosophische Funktion hatte: Vertreter
der Menschheit zu sein.
Ich denke,
das Unglück des Marximus ist, daß er erstens überhaupt eine Staatsphilosophie
wurde, - das ist Husserl gottseidank nicht passiert, auch Kant ist es nicht
passiert, nicht einmal Hegel - er ist zur Staatsphilosophie geworden, und das
andere, er hat zu gut reüssiert, der Marxismus ist daran erlegen, daß er zu gut
Erfolg gehabt hat. Viele Philosophen, die nicht realisiert wurden, wurden vor
solch einem Desaster bewahrt, bei Marx war es die Probe aufs Exempel.
Und ein
weiteres wäre, was die Geschichtsbetrachtung angeht. Es wird im Westen und im
Osten interessanterweise immer wieder definiert: der Mensch ist ein Mängelwesen. Eine Definition, die wir schon im
Dialog Protagoras von Platon finden, Herder hat es aufgegriffen, Gehlen hat es
aufgegriffen, es klingt inzwischen wie ein anthropologisches Dogma, und Marx
ist auch davon bestimmt.
Ich denke,
daß das eine völlig falsche Perspektive ist, ich denke, man muß sagen - das ist
näher bei Nietzsche -, daß der Mensch von vornherein ein Überflußwesen ist,
wenn man nur die einfachsten Gerätschaften betrachtet, auch Kleidung, Wohnung,
- wenn man all dies betrachtet, so findet man immer ein Moment des
Überschusses, es ist nie eine bloße notwendige Funktionalität, sondern es sind
immer bestimmte Formelemente im Spiel, - wenn Sie so wollen ästhetische, jetzt
nicht als abgehobene Elemente, sondern als Ingredienzen in der Herstellung von
nützlichen Dingen.
Peter Leusch:
Wenn also
Marx den Menschen als Mängelwesen gesetzt hat, und die realsozialistischen
Gesellschaften tasächlich sehr damit beschäftigt waren, die Mängel, also die
Bedürftigkeit der Menschen zu bewältigen, aber auch zu verwalten, und in einer
Mängelwirtschaft gescheitert sind; und wenn man auf der anderen Seite sich den
Kapitalismus anschaut, der neben der Versorgung von Bedürfnissen, eben auch
diese Fülle an neuen Bedürfnisse an Überflüssen erzeugt, also mit Hobbes
gesprochen auch diese individuellen Triebs- und Antriebskräfte angekurbelt hat:
Ist der
Kapitalismus nicht nur liberaler und anarchischer, sondern auch der
anthropologischen Bestimmung des Menschen näher?
Bernhard Waldenfels:
Es hängt
wohl damit zusammen, daß man versucht hat mit dieser sozialistischen Moral,
die egoistischen Antriebe aufzuheben, aber das setzt eine völlig falsche
Totalitätserwartung voraus. Ich denke, wenn es eine Möglichkeit gibt, den
Zyklus von Selbstbefriedigung und Selbstbehauptung, Selbsterhaltung zu
durchbrechen, so müßte es anders aussehen: Wenn es nicht das Ganze sein kann,
was dann? Und das was ich Überfluß genannt habe, meine ich nicht bloß als
Überschuß an Möglichkeiten - ich denke das ist ein ganz entscheidender
Gesichtspunkt - aber auch ein Überschuß an Ansprüchen.
Ich denke,
eine Möglichkeit ist die, daß man, selbst wenn man mit begrenzten Ordnungen
rechnet, immer die Momente des Außerordentlichen bleiben, das Außerordentliche
ist das, was ausgeschlossen ist durch eine Ordnung, aber als Anspruch damit
keineswegs erloschen ist.
Manfred Köhler:
Von dem her,
was Sie jetzt gesagt haben, ist es einleuchtend, daß Sie sich eher für das
Produktive an Prozessen der Entklammerung und Entbindungen von Ordnungen
interessieren. Die klassische Philosophie des Abendlandes im großen und ganzen
ist mehr an Ordnung, mehr an Ganzheit, an Totalisierung interessiert, deshalb
können wir auch froh sein, daß so wenig davon praktisch geworden ist.
Sie
unterscheiden die klassische Ordnung von einer modernen Ordnung. Worin würden
Sie den Unterschied zwischen klassischer und moderner Ordnung sehen? Sie haben
ein Buch geschrieben 'Ordnung im Zwielicht'?
Bernhard Waldenfels:
Ich mache
grob, idealtypisch, wie Max Weber sagen würde, die Unterscheidung zwischen
einer klassischen und einer modernen Form der Ordnung. Unter der klassischen
Form einer Ordnung des Lebens, der Wirklichkeit, auch der Natur, der Geschichte,
verstehe ich eine Ordnung, in der alle Möglichkeiten sich auf die Dauer verwirklichen
können, also eine umfassende Ordnung, wo wenn alles gutgeht, alle Möglichkeiten
entfaltet werden können.
Und unter
moderner Ordnung verstehe ich genau dies, daß die Ordnung selbst kontingente
Momente enthält - in diesem weiten Sinne: die Ordnung, die wir haben, könnte
auch eine andere sein. Es heißt nicht, es könnte jede andere sein, d.h. heißt nicht Beliebigkeit, wie man so rasch
assoziiert, sondern es bedeutet einen gewissen Spielraum, der sich eröffnet.
Modernität bedeutet eine Entfaltung, Vervielfachung von Möglichkeiten, mit
Foucault kann man von einer verstreuten Vernunft sprechen: Die Vernunft ist
nicht mehr eine, ist zentriert an einer Stelle, sondern es gibt
Rationaltitäten, Vernunftmöglichkeiten in der Vielfalt, die miteinander
konfligieren, aber nicht zusammenkommen.
Was ist mit
der Vielfalt, wie dort eine Beliebigkeit vermeiden?
Ich denke,
was heute unter Postmoderne so laut wird, ist ein Reflex dieser Situation, daß
die Öffnung von Möglichkeiten keinerlei Verbindlichkeit schafft. Wir haben eine
Vielfalt von Möglichkeiten, mit denen wir spielen können, eine Vielfalt von
Stilen. Vieles was wir heute finden, würde ich nennen einen Historismus ohne
historischen Sinn.
Manfred Köhler:
Da möchte
ich gerne anschließen. Sie haben sich ja auch einmal mit den ganzen Problemen
der Musealisierung, des Museums in einem Text beschäftigt, in dem Sie dann sich
auch beziehen auf Ausführungen von Herrn Lübbe, der ja in Bezug auf den
Ordnungsschwund und diese Vervielfältigung von Möglichkeiten von einer
Notwendigkeit der Anbindung an Traditionen spricht, um eben den Menschen, das
menschliche Leben zu entlasten. Musealisierung, Museumsboom, Ausstellungen,
die Scharen von Menschen anziehen, als ein Ausdruck dieser ganzen Situation.
Was für ein Verhältnis zur Geschichte wäre heute sinnvoll?
Bernhard Waldenfels:
Die
Gegenwart kann nur begrenzt verarbeiten. Wenn also eine Überflut an
Informationen und Resten, Reliquien auf uns einströmt, bedeutet das doch eine
Verschüttung der Kräfte. Aber vielleicht sollte ich es noch etwas schärfer
sagen: Hinter nicht nur der Musealisierung, sondern auch der Orientierung auf
die Geschichte hin, steckt doch der Versuch, die Frage eines Vakuums eines Ordnungsschwundes
zu lösen im Rückgriff auf unsere Tradition, die europäische Tradition.
Ein anderer
Ausweg wäre vielleicht der, daß man die Tradition überhaupt gar nicht als
bloßes Reservoir oder gar als Berufungsinstanz nimmt, sondern als einen
Arbeitsbereich, wie etwa ein Maler es tut. Wenn Cezanne Poussin kopiert, so
geht er nicht zurück auf eine Tradition, die er kanonisiert, sondern er geht
zurück auf Problemlagen, die ähnliche sind für ihn, er setzt sich auseinander
mit einer Tradition, d.h. die Tradition ist ein Arbeitsfeld.
Peter Leusch:
Sie haben
die Neutralisierung angesprochen gegenüber der Tradition, wenn man sie zu
einem beliebigen Konsumgegenstand macht. Das bedeutet ja immer, daß man
mögliche Differenzen, d.h. Andersheiten ausschließt.
Und dieses
Problem des Anderen, also der Andersheit des Anderen, ist ja etwas, was in der
neuzeitlichen Philosophie immer zu kurz gekommen ist. Sie war immer sehr
egozentrisch ausgerichtet, schon seit Descartes' cogito, d.h. der Andere wurde
immer vom Ego her verstanden, d.h. als eine - wie Sie einmal geschrieben haben
- "Doublette".
Sie
thematisieren die Andersheit des Anderen, das Fremde, Ihr Buch heißt "Der
Stachel des Fremden". Wie kann die Philosophie heute diese Andersheit
ansprechen, ohne sie wieder anzueignen?
Bernhard Waldenfels:
Ich denke,
das ist eine Problematik, die in der Gegenwart auf vielfache Weise laut wird;
ich denke, daß man an das Fremde nur herankommt, wenn man auf indirekte Weise
darüber spricht, indem man es aufzeigt nicht als einen Gegenstand, ein Etwas,
das dann von anderen unterschieden wird und schon eingeordnet wird, sondern das
Fremde ist für mich zunächst einmal das, worauf wir antworten, ohne daß wir
schon sagen könnten, was das ist, worauf wir antworten.
Warum hören
Sie ein Musikstück von Bach immer wieder, wenn Sie es schon - in
Anführungszeichen - 'kennen'? Es muß offenbar in diesem Hören doch etwas sein,
was sich nicht einfach aneignen läßt. Es muß etwas daran sein, was nicht
einfach zu verstehen ist, einzuordnen ist in einen Verständnis- oder einen
Verständigungshorizont, sonst wäre nicht denkbar, daß man immer wieder zum
selben Musikstück oder zu dem selben Bild zurückkehrt.
Wenn ich von
Fremdheit spreche, spreche ich nicht immer von den Anderen nur, sondern
zunächst und immer auch von der Fremdheit in mir selbst. Freud sagt, ich bin
nicht Herr im eigenen Haus. Das heißt auch: Es gibt einen Fremden in uns selbst
im Sinne von Ansprüchen, denen wir nie gerecht werden.
Peter Leusch:
Ich denke,
Sie haben vielleicht auch den Titel Ihres Buches 'Der Stachel des Fremden'
bewußt so gewählt, daß angesprochen wird:
ein Fremdes,
das geht mich einerseits von außen an, aber insofern der Stachel in meinem
Fleisch sitzt, ist es immer auch eine Stelle in mir selbst, die anspricht, also
eine Fremdheit in mir selbst, und daß man diese Idee von Selbstbesitz, daß man
sich selbst völlig besitzt und im Griff hat, aufgeben müßte.
Bernhard Waldenfels:
Ja, in der
Tat, das denke ich. Also die Vorstellung eines Selbstbesitzes ist der modernen
Tradition ja doch verknüpft mit dem Subjektbegriff. Der Subjektbegriff, wie er
sich entwickelt hat, etwa seit Descartes, bedeutet doch, daß das Ego, das
'Ich-denke' sich in den Mittelpunkt rückt und, indem es bestimmte Scheidungen
vornimmt, etwa die zwischen der Aktion und der Passion - was mir von außen
zustößt, was ich selber tue -, die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem,
das, was meinen Vertrautheitsbereich betrifft, und das, was davon
ausgeschlossen ist. Oder die Unterscheidung von Autonomie, also von Gesetzen,
die wir uns selbst geben, und Heteronomie, Gesetze, die von außen her stammen.
Das macht
die Subjektivitätstheorie aus, daß die Aktion, die Eigenheit, die Autonomie,
die Selbstgesetzgebung stark gemacht wird und übersteigert wird. Und deshalb
bedeutet Akzentuierung der Fremdheit zugleich auch eine Kritik am Subjekt als
einem Zentrum der Aneignung, der Aneignung der eigenen Möglichkeiten, Aneignung
der Welt. Und ich bin immer erstaunt, wie selbstverständlich das Wort
'Aneignung' heute noch benutzt wird.
Manfred Köhler:
Ein seiner
selbst mächtiges Subjekt oder zumindest ein Subjekt, das seiner selbst mächtig
sein will, wird - denke ich dann - in diesem Maße dann auch nicht in der Lage
sein, Fremdheit in sich zuzulassen, insofern als es sich immer auch in seiner
eigenen Identität verschließen wollen muß. Desgleichen eine Erfahrung, die
totalisieren will, die ihre eigene Ganzheit sucht, auch nicht. Zugespitzt
formuliert: Jede Form des Verstehens, des Begreifens wäre thematisierbar als
eine Form der Wegschaffung von Fremdheit. Wenn Verstehen, Begreifen immer auch
die Wegschaffung, und vor allem die Wegschaffung von Fremdheit ist, wenn jede
Kommunikation, die auf einen Konsens aus ist, sei es der Konsens mit sich selbst
in der Erfahrung, sei es der Konsens mit dem Anderen, immer auch die
Wegschaffung des Anderen in der Kommunikation bedeutet, wie ist dann überhaupt
Kommunikation möglich, oder was wäre zu erfinden oder zu suchen als eine Art
der Vermittlung, die das Eigene nicht immer gegen das Andere setzt und das
Andere nicht immer dem Eigenen opfern muß?
Bernhard Waldenfels:
Man muß
zurückgehen auf eine Ebene, wo jemand auf Fragen antwortet. Ich denke, das ist
meine Hypothese, woran ich arbeite, daß man alles Reden und Handeln als ein
Antworten verstehen kann, ein Antworten auf etwas.
Eine
Äußerung, die ich mache, wird nicht von mir frei erfunden oder gewählt, sondern
sie erwacht in einer Situation, angeregt durch eine Äußerung eines Anderen
oder, wie gesagt, durch eine anonyme Vorgabe. Das Reden ist ein Antworten auf.
Und wenn Sie Frage und Antwort nehmen, es besteht kein Konsens zwischen Frage
und Antwort. Aber es bestehen schon Probleme anderer Art dort, also Sie können
eine Antwort vermeiden, ich denke, eine Frage kann ein Blick auch sein, der auf
Sie kommt, Sie können wegschauen, Sie können weghören, Sie können sich
entziehen, indem Sie antworten, es gibt alle möglichen Weisen zu antworten, die
noch nichts zu tun haben damit, ob Ihre Äußerung, die Sie machen, wahr oder
falsch ist, oder ob sie berechtigt ist oder nicht.
Und ich
denke, wenn man von dieser Situation ausgeht, wird man auch nicht ein Subjekt,
das bestimmte Äußerungen macht, zunächst mal annehmen können, sondern das Erste
wäre nicht ein Zusammenspiel von Subjekten, sondern ein Sprach-,
Gesprächsfeld, soziales Feld, auch als Handlungsfeld zu denken, indem jemand
auftritt, indem er auf jemand anderen antwortet. Ich nenne das 'responsive Rationalität', also eine
Vernünftigkeit, die sich im Antworten entwickelt und nicht erst auf der Ebene
der Kommunikation.
Peter Leusch:
Die
Philosophie im 20. Jahrhundert in ihren ganz unterschiedlichen Strömungen
konvergiert ja doch ganz eigenartig im Thema der Sprache. Und Sie selber haben
jetzt auch nochmal ein Modell geliefert einer, ich nenne es mal, Philosophie des Gesprächs. Wie würden
Sie selber Ihr Modell vergleichen einer solchen responsiven Rationalität mit
dem, was etwa Habermas mit seiner kommunikativen Rationalität vorlegt?
Bernhard Waldenfels:
Die Theorie
der Kommunikativen Rationalität ist ja auf gewisse Weise auch ein
Konfliktbeilegungsunternehmen, also der Diskurs tritt dann in kraft, wenn man
nicht nur sich mißversteht, sondern auch bestimmte Aussagen oder
Handlungsvorschläge macht, bzw. Regeln folgt, die nicht allgemein akzeptiert
sind. Nun gibt es aber Konflikte auf einer viel elementareren Stufe, wo man
sich nicht uneinig ist, weil der Eine über dasselbe dieses sagt und der Andere
jenes, sondern wo man überhaupt nicht über dasselbe spricht. Ich denke, ein
eklatantes Beispiel ist der Konflikt etwa mit dem Irak, wo man irgendwie
hilflos mit einem Abschreckungsmodell gearbeitet hat. Das setzt minimal
voraus, daß der mögliche Tod im Krieg annähernd das Gleiche bedeutet wie bei
uns. Und es stellt sich plötzlich heraus, daß zumindest in öffentlichen
Erklärungen viele Irakis sagen, es gibt ein Kismet, Gott hat durchaus vorgesehen,
wann wir sterben oder nicht, und wenn wir früher sterben, als tapfere Krieger,
kommen wir in einen Himmel.
Also nicht
mal die Abschreckung funktioniert, weil das, was als erschreckend und zu
fürchten und zu vermeiden ist, schon verschieden aussieht. Da helfen überhaupt
keine allgemeinen Diskurse, das Sich-einigen auf allgemeine Regeln, weil schon
die Erfahrungsfelder, die Argumentationsfelder derart verschieden sind.
Wittgenstein sagt an einer Stelle, welche Argumente zählen, das zeigt, in
welcher Lebensform wir uns bewegen.
Peter Leusch:
Ja, ich
wollte Sie noch fragen, ganz konkret, wie Sie die Rolle des Intellektuellen
sehen und was mit der philosophischen Rede passiert, wenn sie für die Medien
aufgenommen und aufbereitet wird.
Bernhard Waldenfels:
Ja, die
Gefahr, daß man von den Medien verschluckt wird, dagegen gibt es kein
Allheilmittel, vielleicht eines: daß man nicht zu thesenhaft spricht, so daß
man die Schlagwörter an die Wand heften kann. Eine Taktik des Philosophen wäre
vielleicht die indirekte Redeweise, die das, was ins Spiel zu kommen hat, entfaltet,
mit einem Bein in der Normalität, mit dem anderen draußen. Das ist eigentlich
der Standort des Philosophen, der mir am sympathischsten ist. Macht man das
Spiel gar nicht mit, verdient man überhaupt kein Gehör, macht man es total
mit, macht man sich überflüssig. Eine Möglichkeit wäre, halb im System drin,
halb nicht, Sokrates hat dieses schöne Adjektiv von Platon bekommen, er sei der
Atopos, der Ortlose, obwohl er in Athen auf den Markt ging. Vielleicht ist das
durchaus eine Möglichkeit für den Philosophen, sich nicht draußen zu halten,
aber auch nicht einfach mit den Wölfen zu heulen.