Gespräch mit Bernhard Waldenfels

Peter Leusch:
Herr Waldenfels, in Ihrem letzten Buch "Der Stachel des Fremden" zitieren Sie mehrfach die Hauptfigur von Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigen­schaf­ten". Und ohne Eigenschaften bedeutet in die­sem Fall einen Menschen ohne letzte Bindungen, ohne letzte und tiefe Wurzeln in Beruf, Familie, Partei oder in einer Weltanschau­ung. Ist das der Prototyp des Philosophen heute, bzw was verstehen Sie unter Philosophieren heute?
Bernhard Waldenfels:
Die Philosophie ist angetreten als eine Gesamt- und Grundwissen­schaft, die also alles partielle Wissen in ein Gesamtwissen inte­grieren wollte und zugleich die Grundlagen legte, nach denen man alles Wissen zugleich auch kritisch zu betrachten hat.
Ich denke, daß diese Sichtweise, nicht erst heute, etwa im Zeichen der Postmoderne, sondern schon über lange Zeit hin im Schwinden ist, und zwar dann, wenn man nicht mehr, wie es die Griechen ta­ten, von einer umfassenden Ordnung, dem Kosmos, ausging, im Mit­telalter von einer Schöpfungsordnung, die teils griechisch gedacht war, aber auch wieder eine Gesamtordnung ausmachte - da war der Philosoph sozusagen der Funktionär dieser Gesamtordnung, oder ein "Funktionär der Menschheit", wie Husserl es formuliert hat.
Wenn es aber so ist, daß Ordnungen ihre kontingenten Bedingungen haben, daß es nicht die Ordnung gibt, die in der Natur oder einer Schöpfung verankert ist, sondern es immer Spielräume von Ordnung gibt, dann ändert sich auch die Funktion der Philosophie, um Musil zu zitieren, den Sie erwähnt haben, er sagt an einer Stelle sehr schön in Bezug auf den neuzeitlichen nominalistischen Gott: Auch Gott denkt im Potentialis, er denkt: die Welt, die ich geschaffen habe, könnte auch eine andere sein.
Das ist sehr genau formuliert, das Moment der Kontingenz in den Ordnungen: Sie könnte auch eine andere sein - was wäre denn der Philosoph, der immer noch behauptet: Es kann nur diese sein.
Und damit ergibt sich das Problem: Ist der Philosoph ganz ortlos? Kann er sich bloß anpassen an faktische Ordnungen? Oder welche Funktion hat er dann? Ich denke eine Funktion, die auch Musil mit im Auge hat, wäre die, daß der Philosoph sehr aufmerksam, kommen­tierend, analysierend die Grenzen der Ordnung untersucht, die je­weils gleichzeitig oder nacheinander im Laufe der Geschichte auf­treten, weil ich denke, daß die Grenzen der Ordnung, das was nicht in der Ordnung Platz findet, auch zur jeweiligen Ordnung gehört. 
Manfred Köhler:
Ja, also Horizont, Grenze, auch Möglichkeit vor allem - das sind ja bevorzugte Themen der Phänomenologie. Und Sie kommen ja auch von der Phänomenologie her. Man kann, denke ich sagen, daß die Wurzeln Ihres Philosophierens dort liegen. Sie  haben 1967 sich habilitiert mit einer Arbeit über die Sozialphilosophie Husserls: "Das Zwischenreich des Dialogs". Was bedeutet für Sie die Phänome­nologie als einer beson­deren Art des Philosophierens, auch heute, gerade heute?
Bernhard Waldenfels:
Die Phänomenologie Husserls bedeutete einen Durchbruch gegenüber einer doch relativ erstarrten Universitätsphilosophie, die sehr von Kant her bestimmt war, d.h. man hatte gewisse Grundgerüste, auch Betrachtungsgesichtspunkte, nach denen man das Denken, Han­deln und die Kultur betrachtet hat, das waren eigentlich Schemata, die nicht wirklich produktiv aus der Erfahrung gewonnen wurden.
Auf der anderen Seite gab es diesen ungeheuren Berg an Gelehrsam­keit, der auch aus dem 19.Jh. stammt, wo die Philosophie zu er­sticken drohte, unter ihrer eigenen Geschichte, - ein Problem, das uns ja heute auch noch begleitet: das Problem des Historismus, auch dagegen versuchte Husserl anzugehen.
Und gegen diese Möglichkeiten setzte Husserl diesen so naiv und einfach klingenden Satz: Zurück zu den Sachen!
"Zurück zu den Sachen" - das klingt außerordentlich naiv, aber es ist zunächst einmal eine Befreiung des Blicks. Für mich hatte diese Maxime von Husserl immer etwas Anarchisches gehabt: Laß den Blick nicht einfach gängeln durch die Schemata, die anerzogen sind, und sei es über Jahrhunderte hin, sondern versuche das, was du erfährst immer wieder neu zu formulieren!
Peter Leusch:
Sie haben sich neben der Phänomenologie, die einen kritischen re­flektierenden Blick auf die Phänomene wirft, mit dem Marxismus be­schäftigt, der ebenfalls einen Blick auf den falschen Schein der Dinge richtet, in denen ja auch die gesellschaftliche Ordnung steckt. Sie haben als Mitheraus­­geber einer Reihe von Bänden 'Phänomenologie und Marxismus' firmiert. Wie sehen Sie heute die Situation des Marxismus? Viele sagen, nach dem Niedergang der "realsozia­listischen" Gesellschaftsordnungen sei auch der Marxis­mus tot.
Bernhard Waldenfels:
Phänomenologie und Marxismus, so wie ich es aufgefaßt habe, auch die meisten meiner Kollegen, bedeutet nicht den Versuch einer Syn­these oder Versöhnung, sondern die Konstituierung eines Problem­feldes, wo für mich immer das Interessante von Anfang war, daß die Phänomenologie Husserls auf ähnliche Probleme gestoßen war wie Marx, und zwar dort, wo Husserl sich der Vorstellung noch hingab, man könne die Geschichte in einer Gesamtvernunft, in einer Gesamt­teleologie vereinen, Europa sozusagen als der bevorzugte Ort der Vernunft, da ist eine gewisse Paralelle zu dem, was Husserl ver­sucht hat, auch er versucht einen bevorzugten Ort in der Ge­schichte zu finden, sozial gesehen das Proletariat, das ja nicht bloß eine soziologische Kategorie war, sondern, wie Lukacs vor al­lem noch herausgearbeitet hat, eine geschichtsphilosophische Funk­tion hatte: Vertreter der Menschheit zu sein.
Ich denke, das Unglück des Marximus ist, daß er erstens überhaupt eine Staatsphilosophie wurde, - das ist Husserl gottseidank nicht passiert, auch Kant ist es nicht passiert, nicht einmal Hegel - er ist zur Staatsphilosophie geworden, und das andere, er hat zu gut reüssiert, der Marxismus ist daran erlegen, daß er zu gut Erfolg gehabt hat. Viele Philosophen, die nicht realisiert wurden, wurden vor solch einem Desaster bewahrt, bei Marx war es die Probe aufs Exempel.
Und ein weiteres wäre, was die Geschichtsbetrachtung angeht. Es wird im Westen und im Osten interessanterweise immer wieder defi­niert: der Mensch ist ein Mängelwesen. Eine Definition, die wir schon im Dialog Protagoras von Platon finden, Herder hat es aufge­griffen, Gehlen hat es aufgegriffen, es klingt inzwischen wie ein anthropologisches Dogma, und Marx ist auch davon bestimmt.
Ich denke, daß das eine völlig falsche Perspektive ist, ich denke, man muß sagen - das ist näher bei Nietzsche -, daß der Mensch von vornherein ein Überflußwesen ist, wenn man nur die einfachsten Ge­rätschaften betrachtet, auch Kleidung, Wohnung, - wenn man all dies betrachtet, so findet man immer ein Moment des Überschusses, es ist nie eine bloße notwendige Funktionalität, sondern es sind immer bestimmte Formelemente im Spiel, - wenn Sie so wollen ästhe­tische, jetzt nicht als abgehobene Elemente, sondern als Ingredi­enzen in der Herstellung von nützlichen Dingen.
Peter Leusch:
Wenn also Marx den Menschen als Mängelwesen gesetzt hat, und die realsozialistischen Gesellschaften tasächlich sehr damit beschäf­tigt waren, die Mängel, also die Bedürftigkeit der Menschen zu be­wältigen, aber auch zu verwalten, und in einer Mängelwirtschaft gescheitert sind; und wenn man auf der anderen Seite sich den Ka­pitalismus anschaut, der neben der Versorgung von Bedürfnissen, eben auch diese Fülle an neuen Bedürfnisse an Überflüssen erzeugt, also mit Hobbes gesprochen auch diese individuellen Triebs- und Antriebskräfte angekurbelt hat:
Ist der Kapitalismus nicht nur liberaler und anarchischer, sondern auch der anthropologischen Bestimmung des Menschen näher?
Bernhard Waldenfels:
Es hängt wohl damit zusammen, daß man versucht hat mit dieser so­zialistischen Moral, die egoistischen Antriebe aufzuheben, aber das setzt eine völlig falsche Totalitätserwartung voraus. Ich denke, wenn es eine Möglichkeit gibt, den Zyklus von Selbstbefrie­digung und Selbstbehauptung, Selbsterhaltung zu durchbrechen, so müßte es anders aussehen: Wenn es nicht das Ganze sein kann, was dann? Und das was ich Überfluß genannt habe, meine ich nicht bloß als Überschuß an Möglichkeiten - ich denke das ist ein ganz ent­scheidender Gesichtspunkt - aber auch ein Überschuß an Ansprüchen.
Ich denke, eine Möglichkeit ist die, daß man, selbst wenn man mit begrenzten Ordnungen rechnet, immer die Momente des Außerordentli­chen bleiben, das Außerordentliche ist das, was ausgeschlossen ist durch eine Ordnung, aber als Anspruch damit keineswegs erloschen ist.
Manfred Köhler:
Von dem her, was Sie jetzt gesagt haben, ist es einleuchtend, daß Sie sich eher für das Produktive an Prozessen der Entklammerung und Entbindungen von Ordnungen interessieren. Die klassische Phi­losophie des Abendlandes im großen und ganzen ist mehr an Ordnung, mehr an Ganzheit, an Totalisierung interessiert, deshalb können wir auch froh sein, daß so wenig davon praktisch geworden ist.
Sie unterscheiden die klassische Ordnung von einer modernen Ord­nung. Worin würden Sie den Unterschied zwischen klassischer und moderner Ordnung sehen? Sie haben ein Buch geschrieben 'Ordnung im Zwielicht'?
Bernhard Waldenfels:
Ich mache grob, idealtypisch, wie Max Weber sagen würde, die Un­terscheidung zwischen einer klassischen und einer modernen Form der Ordnung. Unter der klassischen Form einer Ordnung des Lebens, der Wirklichkeit, auch der Natur, der Geschichte, verstehe ich eine Ordnung, in der alle Möglichkeiten sich auf die Dauer ver­wirklichen können, also eine umfassende Ordnung, wo wenn alles gutgeht, alle Möglichkeiten entfaltet werden können.
Und unter moderner Ordnung verstehe ich genau dies, daß die Ord­nung selbst kontingente Momente enthält - in diesem weiten Sinne: die Ordnung, die wir haben, könnte auch eine andere sein. Es heißt nicht, es könnte jede andere sein, d.h. heißt nicht Beliebigkeit, wie man so rasch assoziiert, sondern es bedeutet einen gewissen Spielraum, der sich eröffnet. Modernität bedeutet eine Entfaltung, Vervielfachung von Möglichkeiten, mit Foucault kann man von einer verstreuten Vernunft sprechen: Die Vernunft ist nicht mehr eine, ist zentriert an einer Stelle, sondern es gibt Rationaltitäten, Vernunftmöglichkeiten in der Vielfalt, die miteinander konfligie­ren, aber nicht zusammenkommen.
Was ist mit der Vielfalt, wie dort eine Beliebigkeit vermeiden?
Ich denke, was heute unter Postmoderne so laut wird, ist ein Re­flex dieser Situation, daß die Öffnung von Möglichkeiten keinerlei Verbindlichkeit schafft. Wir haben eine Vielfalt von Möglichkei­ten, mit denen wir spielen können, eine Vielfalt von Stilen. Vieles was wir heute finden, würde ich nennen einen Historismus ohne historischen Sinn.
Manfred Köhler:
Da möchte ich gerne anschließen. Sie haben sich ja auch einmal mit den ganzen Problemen der Musealisierung, des Museums in einem Text beschäftigt, in dem Sie dann sich auch beziehen auf Ausführungen von Herrn Lübbe, der ja in Bezug auf den Ordnungsschwund und diese Vervielfältigung von Möglichkeiten von einer Notwendigkeit der An­bindung an Traditionen spricht, um eben den Menschen, das men­schliche Leben zu entlasten. Musealisierung, Museumsboom, Ausstel­lungen, die Scharen von Menschen anziehen, als ein Ausdruck dieser ganzen Situation. Was für ein Verhältnis zur Geschichte wäre heute sinnvoll?
Bernhard Waldenfels:
Die Gegenwart kann nur begrenzt verarbeiten. Wenn also eine Über­flut an Informationen und Resten, Reliquien auf uns einströmt, be­deutet das doch eine Verschüttung der Kräfte. Aber vielleicht sollte ich es noch etwas schärfer sagen: Hinter nicht nur der Mu­sealisierung, sondern auch der Orientierung auf die Geschichte hin, steckt doch der Versuch, die Frage eines Vakuums eines Ord­nungsschwundes zu lösen im Rückgriff auf unsere Tradition, die eu­ropäische Tradition.
Ein anderer Ausweg wäre vielleicht der, daß man die Tradition überhaupt gar nicht als bloßes Reservoir oder gar als Berufungsin­stanz nimmt, sondern als einen Arbeitsbereich, wie etwa ein Maler es tut. Wenn Cezanne Poussin kopiert, so geht er nicht zurück auf eine Tradition, die er kanonisiert, sondern er geht zurück auf Problemlagen, die ähnliche sind für ihn, er setzt sich auseinander mit einer Tradition, d.h. die Tradition ist ein Arbeitsfeld.
Peter Leusch:
Sie haben die Neutralisierung angesprochen gegenüber der Tradi­tion, wenn man sie zu einem beliebigen Konsumgegenstand macht. Das bedeutet ja immer, daß man mögliche Differenzen, d.h. Andersheiten ausschließt.
Und dieses Problem des Anderen, also der Andersheit des Anderen, ist ja etwas, was in der neuzeitlichen Philosophie immer zu kurz gekommen ist. Sie war immer sehr egozentrisch ausgerichtet, schon seit Descartes' cogito, d.h. der Andere wurde immer vom Ego her verstanden, d.h. als eine - wie Sie einmal geschrieben haben - "Doublette".
Sie thematisieren die Andersheit des Anderen, das Fremde, Ihr Buch heißt "Der Stachel des Fremden". Wie kann die Philosophie heute diese Andersheit ansprechen, ohne sie wieder anzueignen?
Bernhard Waldenfels:
Ich denke, das ist eine Problematik, die in der Gegenwart auf vielfache Weise laut wird; ich denke, daß man an das Fremde nur herankommt, wenn man auf indirekte Weise darüber spricht, indem man es aufzeigt nicht als einen Gegenstand, ein Etwas, das dann von anderen unterschieden wird und schon eingeordnet wird, sondern das Fremde ist für mich zunächst einmal das, worauf wir antworten, ohne daß wir schon sagen könnten, was das ist, worauf wir antwor­ten.
Warum hören Sie ein Musikstück von Bach immer wieder, wenn Sie es schon - in Anführungszeichen - 'kennen'? Es muß offenbar in diesem Hören doch etwas sein, was sich nicht einfach aneignen läßt. Es muß etwas daran sein, was nicht einfach zu verstehen ist, einzu­ordnen ist in einen Verständnis- oder einen Verständigungshori­zont, sonst wäre nicht denkbar, daß man immer wieder zum selben Musikstück oder zu dem selben Bild zurückkehrt.
Wenn ich von Fremdheit spreche, spreche ich nicht immer von den Anderen nur, sondern zunächst und immer auch von der Fremdheit in mir selbst. Freud sagt, ich bin nicht Herr im eigenen Haus. Das heißt auch: Es gibt einen Fremden in uns selbst im Sinne von An­sprüchen, denen wir nie gerecht werden.
Peter Leusch:
Ich denke, Sie haben vielleicht auch den Titel Ihres Buches 'Der Stachel des Fremden' bewußt so gewählt, daß angesprochen wird:
ein Fremdes, das geht mich einerseits von außen an, aber insofern der Stachel in meinem Fleisch sitzt, ist es immer auch eine Stelle in mir selbst, die anspricht, also eine Fremdheit in mir selbst, und daß man diese Idee von Selbstbesitz, daß man sich selbst völ­lig besitzt und im Griff hat, aufgeben müßte.
Bernhard Waldenfels:
Ja, in der Tat, das denke ich. Also die Vorstellung eines Selbst­besitzes ist der modernen Tradition ja doch verknüpft mit dem Sub­jektbegriff. Der Subjektbegriff, wie er sich entwickelt hat, etwa seit Descartes, bedeutet doch, daß das Ego, das 'Ich-denke' sich in den Mittelpunkt rückt und, indem es bestimmte Scheidungen vor­nimmt, etwa die zwischen der Aktion und der Passion - was mir von außen zustößt, was ich selber tue -, die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem, das, was meinen Vertrautheitsbereich be­trifft, und das, was davon ausgeschlossen ist. Oder die Unter­scheidung von Autonomie, also von Gesetzen, die wir uns selbst ge­ben, und Heteronomie, Gesetze, die von außen her stammen.
Das macht die Subjektivitätstheorie aus, daß die Aktion, die Ei­genheit, die Autonomie, die Selbstgesetzgebung stark gemacht wird und übersteigert wird. Und deshalb bedeutet Akzentuierung der Fremdheit zugleich auch eine Kritik am Subjekt als einem Zentrum der Aneignung, der Aneignung der eigenen Möglichkeiten, Aneignung der Welt. Und ich bin immer erstaunt, wie selbstverständlich das Wort 'Aneignung' heute noch benutzt wird.
Manfred Köhler:
Ein seiner selbst mächtiges Subjekt oder zumindest ein Subjekt, das seiner selbst mächtig sein will, wird - denke ich dann - in diesem Maße dann auch nicht in der Lage sein, Fremdheit in sich zuzulassen, insofern als es sich immer auch in seiner eigenen Identität verschließen wollen muß. Desgleichen eine Erfahrung, die totalisieren will, die ihre eigene Ganzheit sucht, auch nicht. Zu­gespitzt formuliert: Jede Form des Verstehens, des Begreifens wäre thematisierbar als eine Form der Wegschaffung von Fremdheit. Wenn Verstehen, Begreifen immer auch die Wegschaffung, und vor allem die Wegschaffung von Fremdheit ist, wenn jede Kommunikation, die auf einen Konsens aus ist, sei es der Konsens mit sich selbst in der Erfahrung, sei es der Konsens mit dem Anderen, immer auch die Wegschaffung des Anderen in der Kommunikation bedeutet, wie ist dann überhaupt Kommunikation möglich, oder was wäre zu erfinden oder zu suchen als eine Art der Vermittlung, die das Eigene nicht immer gegen das Andere setzt und das Andere nicht immer dem Eige­nen opfern muß?
Bernhard Waldenfels:
Man muß zurückgehen auf eine Ebene, wo jemand auf Fragen antwor­tet. Ich denke, das ist meine Hypothese, woran ich arbeite, daß man alles Reden und Handeln als ein Antworten verstehen kann, ein Antworten auf etwas.
Eine Äußerung, die ich mache, wird nicht von mir frei erfunden oder gewählt, sondern sie erwacht in einer Situation, angeregt durch eine Äußerung eines Anderen oder, wie gesagt, durch eine anonyme Vorgabe. Das Reden ist ein Antworten auf. Und wenn Sie Frage und Antwort nehmen, es besteht kein Konsens zwischen Frage und Antwort. Aber es bestehen schon Probleme anderer Art dort, also Sie können eine Antwort vermeiden, ich denke, eine Frage kann ein Blick auch sein, der auf Sie kommt, Sie können wegschauen, Sie können weghören, Sie können sich entziehen, indem Sie antworten, es gibt alle möglichen Weisen zu antworten, die noch nichts zu tun haben damit, ob Ihre Äußerung, die Sie machen, wahr oder falsch ist, oder ob sie berechtigt ist oder nicht.
Und ich denke, wenn man von dieser Situation ausgeht, wird man auch nicht ein Subjekt, das bestimmte Äußerungen macht, zunächst mal annehmen können, sondern das Erste wäre nicht ein Zusammen­spiel von Subjekten, sondern ein Sprach-, Gesprächsfeld, soziales Feld, auch als Handlungsfeld zu denken, indem jemand auftritt, in­dem er auf jemand anderen antwortet. Ich nenne das 'responsive Ra­tionalität', also eine Vernünftigkeit, die sich im Antworten ent­wickelt und nicht erst auf der Ebene der Kommunikation.
Peter Leusch:
Die Philosophie im 20. Jahrhundert in ihren ganz unterschiedlichen Strömungen konvergiert ja doch ganz eigenartig im Thema der Spra­che. Und Sie selber haben jetzt auch nochmal ein Modell geliefert einer, ich nenne es mal, Philosophie des Gesprächs. Wie würden Sie selber Ihr Modell vergleichen einer solchen responsiven Rationali­tät mit dem, was etwa Habermas mit seiner kommunikativen Rationa­lität vorlegt?
Bernhard Waldenfels:
Die Theorie der Kommunikativen Rationalität ist ja auf gewisse Weise auch ein Konfliktbeilegungsunternehmen, also der Diskurs tritt dann in kraft, wenn man nicht nur sich mißversteht, sondern auch bestimmte Aussagen oder Handlungsvorschläge macht, bzw. Re­geln folgt, die nicht allgemein akzeptiert sind. Nun gibt es aber Konflikte auf einer viel elementareren Stufe, wo man sich nicht uneinig ist, weil der Eine über dasselbe dieses sagt und der An­dere jenes, sondern wo man überhaupt nicht über dasselbe spricht. Ich denke, ein eklatantes Beispiel ist der Konflikt etwa mit dem Irak, wo man irgendwie hilflos mit einem Abschreckungsmodell gear­beitet hat. Das setzt minimal voraus, daß der mögliche Tod im Krieg annähernd das Gleiche bedeutet wie bei uns. Und es stellt sich plötzlich heraus, daß zumindest in öffentlichen Erklärungen viele Irakis sagen, es gibt ein Kismet, Gott hat durchaus vorgese­hen, wann wir sterben oder nicht, und wenn wir früher sterben, als tapfere Krieger, kommen wir in einen Himmel.
Also nicht mal die Abschreckung funktioniert, weil das, was als erschreckend und zu fürchten und zu vermeiden ist, schon verschie­den aussieht. Da helfen überhaupt keine allgemeinen Diskurse, das Sich-einigen auf allgemeine Regeln, weil schon die Erfahrungsfel­der, die Argumentationsfelder derart verschieden sind. Wittgenstein sagt an einer Stelle, welche Argumente zählen, das zeigt, in welcher Lebensform wir uns bewegen.
Peter Leusch:
Ja, ich wollte Sie noch fragen, ganz konkret, wie Sie die Rolle des Intellektuellen sehen und was mit der philosophischen Rede passiert, wenn sie für die Medien aufgenommen und aufbereitet wird.
Bernhard Waldenfels:
Ja, die Gefahr, daß man von den Medien verschluckt wird, dage­gen gibt es kein Allheilmittel, vielleicht eines: daß man nicht zu thesenhaft spricht, so daß man die Schlagwörter an die Wand heften kann. Eine Taktik des Philosophen wäre vielleicht die indirekte Redeweise, die das, was ins Spiel zu kommen hat, ent­faltet, mit einem Bein in der Normalität, mit dem anderen drau­ßen. Das ist eigentlich der Standort des Philosophen, der mir am sympathischsten ist. Macht man das Spiel gar nicht mit, ver­dient man überhaupt kein Gehör, macht man es total mit, macht man sich überflüssig. Eine Möglichkeit wäre, halb im System drin, halb nicht, Sokrates hat dieses schöne Adjektiv von Platon bekommen, er sei der Atopos, der Ortlose, obwohl er in Athen auf den Markt ging. Vielleicht ist das durchaus eine Mög­lichkeit für den Philosophen, sich nicht draußen zu halten, aber auch nicht einfach mit den Wölfen zu heulen.