Gespräch mit
Herbert Schnädelbach
Peter Leusch:
Sie haben
eine Deformation in der Philosophie an Universitäten, auch an den Schulen
festgestellt, und zwar die Tendenz, daß die philosophischen Schriften, die
Klassiker, nur noch Texte sind zum Lesen und immer wieder Interpretieren. Und
daß die eigentlichen philosophischen Fragen und Probleme, die doch in diesen
Texten verhandelt werden, hinter dieser philologischen Textbeschäftigung ganz
untergehen.
Wird nicht
mehr philosophiert in der Philosophie?
Herbert
Schnädelbach:
Ja, diese
Tendenz ist ja nichts Neues, die zeigt sich schon sehr deutlich im
19.Jahrhundert. Das hängt damit zusammen, daß die Philosophie damals versucht
hat, aus ihrer Identitätskrise dadurch herauszukommen, daß sie sich als Geisteswissenschaft
verstanden hat. Und das heißt einmal als historisches Fach und dann eben auch
als Textwissenschaft. Wenn man also sich historisch mit den Gedanken
beschäftigt, die schon gedacht worden sind, und das heißt mit den Texten, in
denen sie niedergelegt sind, dann kann man sich auch in der Philosophie
wissenschaftlich fühlen. Während, wenn man versucht, sich selber Gedanken zu
machen, das so ein bißchen ein Geschäft ohne Netz und doppelten Boden ist.
Diese Tendenz ergibt sich also aus dem Versuch, mit dem Philosophieren etwas
Solides und Wissenschaftliches zu verbinden, und es ist eigentlich eine große
Versuchung, vor den aktuellen Fragen davonzulaufen und sich eben in die
Geisteswissenschaftlichkeit zu flüchten. Das ist die Tendenz, die ich versucht
habe zu beschreiben. Aber es wäre pauschal und ungerecht, zu sagen, daß in der
akademischen Philosophie nicht mehr philosophiert würde, zumal natürlich auch
gerade in der wissenschaftlichen Philosophie die Naivität nicht zugelassen ist,
als könne man ohne Kenntnisnahme der Tradition und unabhängig von einem
Dialog mit dem schon gedachten Denken sich so seine eigenen Gedanken machen.
Manfred Köhler:
Sie haben
in einer Streitschrift einmal geschrieben, der Zeitgeist sei Epikureer. Da
haben Sie dann auch geschrieben, daß heute das Gute keine metaphysische
Qualität mehr sei, sondern allenfalls eine positive Lustbilanz im
individuellen Leben.
Herbert
Schnädelbach:
Wenn man mal
so 20 Jahre zurückdenkt und das ein bißchen vergleicht, muß man heute sagen ,
daß sich unsere Jungen, auch intellektuellen, mit relativ bescheidenen
Lebenszielen zufrieden geben. Daß eigentlich der große Aufbruch zu den großen
Utopien eingeschlafen ist, nicht mehr stattfindet, gar nicht mehr ins Auge
gefaßt wird. Und daß man sich schon engagiert, aber das sind so mittelgroße
Ziele, für Umwelt oder auch in der Friedensbewegung. Aber das ist nicht mehr
dieses große revolutionäre Pathos. Und das bedeutet, soweit ich das
beobachten kann, auch für das private Leben, daß man sich mit relativ bescheidenen
Lebenszielen zufrieden gibt. Und daß man so lebt, daß man in einer erträglichen
Bilanz von Lust und Unlust herauskommt, in der dann vielleicht der
Lustgewinn ein bißchen überwiegt. Und das sind natürlich alles Kennzeichnungen
einer epikurischen oder epikureischen Ethik, die ja so ungefähr lautet: 'Lebe
im Verborgenen - was damals in der Spätantike hieß: engagiere Dich nicht im
Politischen - also: 'Lebe im Verborgenen und kultiviere deinen Garten'. Und
das finde ich heute sehr stark in den verschiedenen Subkulturen und in den
relativ begrenzten Zirkeln, in denen die meisten unserer jungen Menschen
leben.
Peter Leusch:
Aber könnte
man nicht doch eine gewisse Komplementarität darin ausmachen, daß die
Philosophie Tendenzen hat, sich zu sterilisieren, also in dieser
Selbstbeschäftigung; und auf der anderen Seite dann viele junge Leute, auch
Intellektuelle, sich davon dann absondern und sich eher so einer epikureischen
Idee der Lebenskunst hingeben, die lebenspraktischer orientiert ist.
Herbert
Schnädelbach:
Ich stimme
dem zu. Die Philosophie hat ja in den letzten 20, 30 Jahren einen
außerordentlichen Schub der Verwissenschaftlichung erlebt. Und
Verwissenschaftlichung heißt ja immer Anonymisierung und Spezialisierung. Also
je wissenschaftlicher eine Disziplin wird, umso weniger konkret ist sie. Umso
größer wird ihr Abstand zu dem realen Leben, wie es eben im Alltag erfahren
wird. Man kann sagen, daß die Philosophie selbst zur Zeit Heideggers trotz
ihrer esoterischen und schwer zugänglichen Sprache noch den Anspruch hatte,
uns als ganze Menschen zu betreffen. Das hat man damals existenziell genannt.
Und heute haben wir eben im Zuge dieser Verwissenschaftlichung eine immer weitergehende
Spezialisierung, eine immer mehr ausgeprägte Expertenkultur, auch in der
Philosophie. Da gibt es eben Menschen, die diskutieren eigentlich im
wesentlichen nichts anderes als Grundlegungsfragen der Ethik, andere machen
spezielle Logiken, und das führt in der Tat dazu, daß die Studierenden der
Philosophie häufig enttäuscht sind, weil sie die Erwartung haben, daß mit dem
Studium der Philosophie etwas verbunden ist, was sie selbst persönlich
betrifft. Diese Vermutung ist wohl richtig, daß je wissenschaftlicher, je
spezialisierter die akademische Philosophie wird, umso größer die Bedürfnisse
nach solchen überschaubaren dann auch kultivierbaren Lebenskreisen wird. Also
nach solchen epikureischen Gärten.
Manfred Köhler:
Und nicht
nur jetzt Bedürfnisse nach Überschaubarem, sondern auch - wir sind ja nicht
mehr ganze Menschen heute: diese Vervielfältigung der Möglichkeiten, diese
Pluralisierung von Lebenswelten, diese ganzen Welten, die sich da auftun,
kleine Welten, und die auch nicht mehr integrierbar sind. Ich meine, das Ganze
-, wie kann man das Ganze noch geltend machen, und auch den kritischen Sinn für
ein Ganzes.
Herbert
Schnädelbach:
Ja, das ist
die politische Gefahr, die ich darin sehe. Man kann sagen, je pluraler - ich
will nicht sagen: pluralistischer - je pluraler, also je vielfältiger unsere
Lebenswelt wird, umso mehr Individualität kann man ausbilden. Das kann man
einfach sehen, wenn man sich mal überlegt, welche Lebensperspektiven etwa
unsere Großväter hatten. Welche Möglichkeiten etwa die Frauen vor zwei Generationen
hatten. Also heute ist das Angebot ungeheuer vielfältig, natürlich häufig auch
mit Pannen und mit geringen Realisationschancen verbunden. Aber man kann
sagen, je spezieller und je individualistischer diese Lebenskultur wird, umso
problematischer wird dann der Bezug auf so etwas wie das Ganze, wie das
Gemeinwesen. Das Schicksal der Menschheit.
Peter Leusch:
Wenn man das
in philosophische Kategorien wieder, jetzt strengere, zurückversetzt:
Vielheit, Einheit - ist ja auch das Thema, das Sie beschäftigt. Wenn Sie die
letzten Arbeiten mit diesem Sammeltitel 'Vernunft und Geschichte' überschrieben
haben, dann benennt das ja sehr gut den Schwerpunkt Ihres philosophischen Arbeitens:
'Vernunft und Geschichte', mit diesem, ja doch sehr dialektischen 'und'
bringen Sie natürlich auch zwei Seiten zusammen, die man in der philosophischen
Tradition immer sehr strikt auseinandergehalten hat. Denn Vernunft, das verstand
man ja in der Aufklärung bei Kant immer als ein reines Vermögen, das bedeutet:
allgemein, notwendig und unwandelbar. Und hingegen die Geschichte galt immer
als der Schauplatz des Kontingenten und Individuellen, dort, wo man fast gar
nichts wissenschaftlich zusammenfassen kann. Wie wollen Sie Vernunft und
Geschichte verbinden?
Herbert Schnädelbach:
Ja, dieser
Buchtitel bezeichnet ja mehr ein Problem - wie Sie es gerade dargestellt haben
- als eine Lösung. Denn es ist ja klar, daß wir, wenn wir die
Geschichtlichkeit, unsere Geschichtlichkeit, wirklich begreifen wollen in
dieser Vielfalt, mit all diesen Zufälligkeiten, mit dem, was sich gegen wissenschaftliche
Systematisierung sträubt, da brauchen wir dazu eine ganze Menge Vernunft. Also
die Vernunft ist gerade auch die Fähigkeit, Vielfalt, Zufälligkeit
wahrzunehmen. Und umgekehrt ist es so, daß wir natürlich sagen müssen, daß
alles das, was wir uns als Vernunftvermögen zusprechen, - und das ist ja nicht
nur die wissenschaftliche Vernunft, nicht nur die Rationalität der Technik
oder der Wirtschaft,- daß das natürlich
selber Resultat eines geschichtlichen Ausdifferenzierungsprozesses ist. Die
Vernunft hat selbst eine Geschichte. Und das eigentliche Problem besteht ja
heute darin, daß wir nicht mehr die Möglichkeit haben, wie Hegel sich das noch
zugetraut hat, Vernunft und Geschichte in einem System zusammenzudenken, das
dann eigentlich sich als absolute Philosophie verstanden hat. Sondern wir
müssen selber so aus der Perspektive der Endlichkeit, der nicht
übersteigbaren Endlichkeit unseres Bewußtseins und auch unserer Diskurse, hier
versuchen, das irgendwie zusammenzubringen.
Manfred Köhler:
Denn es
ergeben sich zunächst mal einige Probleme. Ich denke, wenn man von einer
Vernünftigkeit des menschlichen Subjekts sprechen will und dies können müßte,
dann müßte man auch in der Geschichte oder in der Wirklichkeit irgendwie eine
Vernünftigkeit unterstellen, was ja gerade in diesem Jahrhundert, in dem wir
leben, zunehmend schwerer geworden ist. Weltkriege, Völkermord. Muß man nicht
eine Vernünftigkeit in irgend einer Weise der Geschichte annehmen, wenn man die
Vernünftigkeit des Menschen unterstellen möchte?
Herbert
Schnädelbach:
Genau das
muß man, wenn man eben die Vernunft selber auch als geschichtliche denkt. Ich
meine, wenn man noch in der glücklichen Lage ist der Aufklärungsphilosophie,
von der Sie vorhin gesprochen haben, wenn man noch so etwas glaubt vertreten zu
können wie eine allgemeine Menschenvernunft, die in der Geschichte unwandelbar
ist, dann hat man noch einen Standpunkt gewissermaßen außerhalb des
Geschichtlichen, und dann kann man sagen: "Na ja, die Unvernünftigkeit
der Menschen ist eigentlich etwas Zufälliges, im Prinzip ist doch die
tatsächliche Unvernunft kein Einwand gegen die Möglichkeit der Vernünftigkeit
der Menschen." Aber wenn Geschichte und Vernunft so ineinander sind, wie
man das wohl annehmen muß, bekommt man Schwierigkeiten.
Peter Leusch:
Das Problem
'Vernunft', also Universalität und Geschichte, also auch den zunächst mal
unabsehbaren Lauf der Ereignisse zusammenzubringen, zusammenzudenken, das hat
ja auch der Marxismus unternommen. Und man muß sich heute fragen, speziell
auch jetzt noch mal nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Gesellschaftsordnungen,
ob der Marxismus hier nicht auch in einer geschichtsmetaphysischen Verhaftung
an Hegel stecken geblieben ist. Denn Vernunft und Geschichte zusammen zu
denken, und das hat Marx und vor allem Engels ja auch getan, nämlich daß der
Kommunismus die Einheit von beiden sei. Das scheint mir doch eine
philosophisch-dogmatische Sackgasse. Psychologisch betrachtet ist es äußerst
zwanghaft und politisch endet es repressiv.
Herbert
Schnädelbach:
Es ist
vollkommen richtig. Man muß sich eben vor allen Dingen überlegen, daß der
Hegelianismus zum Problem wird in einem Denken, das sich eben nicht mehr wie
bei Hegel auf die Macht der Vernunft in der Geschichte beruft, also auf die
absolute Idee, sondern nun versucht, diese Einheit von Vernunft und Geschichte
aus einer Logik der Produktion abzuleiten. Also aus einer Theorie der
Produktion in einer Klassengesellschaft, da kommt soviel Historizität herein,
daß von da aus diese Einheit von Vernunft und Geschichte gar nicht mehr
garantiert werden kann, gar nicht mehr plausibel gemacht werden kann, weil die
Marxisten ja immer gesagt haben, daß dieser Produktionsprozeß ein materieller
Lebensprozeß ist. Und wie soll dieser materielle Lebensprozeß so viel Vernunft
hervorbringen, daß darin der gesamte geschichtliche Verlauf rational
strukturiert wird. Also diese Lücke muß dann natürlich durch Dogmatismus
ausgefüllt werden. Hegel ist viel weniger dogmatisch aufgrund seiner Prämissen,
als die Marxisten es sein müssen oder mußten.
Manfred Köhler:
Sie haben
geschrieben: Der Mensch ist zugleich ein vernünftiges Wesen und ein
historisches Wesen. Das heißt, im Menschen selber vermittelt sich diese
Polarität miteinander, also das Normative, das auf Universalität Bezogene,
und das Zufällige, Kontingente oder auch Individuelle. Was bedeutet das für
einen philosophischen Begriff von 'Subjektivität'?
Herbert
Schnädelbach:
Das
bedeutet, daß der Begriff des Subjekts noch viel schwieriger ist als er
ohnehin immer schon war. Aber meistens ist es in der Philosophie so, daß der
philosophische Fortschritt in einem Fortschreiten des Problembewußtseins
besteht.
Subjektivität
muß man ja zunächst einmal verstehen nicht als Beschreibung eines wirklichen
Menschen oder eines Bewußtseins, sondern unter Subjektivität hat man
eigentlich immer verstanden so etwas wie eine Menge von Prinzipien, die
aktualisiert werden können von Subjekten, zum Beispiel in der Erkenntnis oder
im moralischen Handeln. Das ist schon schwierig genug, solange es dabei
bleiben kann, daß man diese Prinzipien von Subjektivität selber als rein, als
unwandelbar, als unhistorisch, als an der Logik exemplifizierbar, und so
weiter, begreifen kann. Kommt jetzt in diese Subjektivität der Gesichtspunkt
der Sprachlichkeit rein, und das müssen wir nach Wittgenstein unbedingt berücksichtigen,
hat man sofort eben das Element der Kontingenz drin. Ich meine, daß heute
generell an die Stelle der Philosophie der Vernunft eine Theorie der
Rationalität treten muß, und diese Theorie der Rationalität muß wohl
expliziert werden im wesentlichen mit Mitteln der Sprachanalyse und der
Sprachtheorie. Und dann könnte ich mir vorstellen, daß an die Stelle des
Subjekts, meinetwegen des transzendentalen Subjekts bei Kant, so etwas tritt
wie der kompetente Sprecher.
Manfred Köhler:
Kompetenter
Sprecher. Eine kleine Nachfrage: damit ist ja kein Rundfunksprecher gemeint,
sondern - ja was bedeutet in diesem Zusammenhang 'Sprache'? Es ist ja nicht
die Fähigkeit, sprechen zu können, eine Sprache perfekt sprechen zu können,
damit ist ja eine andere Kompetenz gemeint.
Herbert
Schnädelbach:
Also es ist
eigentlich kommunikative Kompetenz gemeint. Und kommunikative Kompetenz
umfaßt Mehreres, umfaßt einmal das, was wir so die Fähigkeit oder das Vermögen
des kommunikativen Austauschs mit den Mitteln der Sprache meinen, aber
Kommunikation heißt ja auch Handlungskoordinierung, so daß die kommunikative
Kompetenz auch umfaßt die Fähigkeit der Kooperation, so daß man darin dann also
kognitive, das heißt auf Meinungen, Überzeugungen und Wissen bezogene
Fähigkeiten drin hätte, wie auch praktische. Das würde vielleicht zunächst
einmal hinreichen, um zu zeigen, wie man eine Theorie der Subjektivität heute
aufbauen muß. Ich meine wohl, und das hat wohl Habermas gezeigt, daß hier der
Begriff der kommunikativen Rationalität grundlegend ist.
Peter Leusch:
Ich habe da
auch noch einen Einwand. Oder vielleicht ist es auch mehr ein Unbehagen, was
mich beschleicht, daß man heute versucht, Subjektivität gerade als eine
Kompetenz des Sprechens und des Kommunizierens auszulegen. Denn gerade die
Orte, wo das geschieht, rücken ja immer mehr aus dem Bereich des Individuellen
und der individuellen Subjektivität heraus. Das geht ja doch immer mehr an -
wohlwollend gesprochen - intersubjektive Instanzen, aber auch an Industrien der
Medien und der Informationstechnologien. Das heißt, daß man das Subjekt an
einer Stelle zu reformulieren versucht, wo es gerade schon ins Abseits
gestellt ist.
Herbert
Schnädelbach:
Also, was
Sie im Auge haben, das scheinen mir so eigentlich zunächst mal theoretisch
gesehen Grenzfälle zu sein. Auch wenn es vielleicht tatsächlich so ist, daß wir
uns in eine Kultur hineinbewegen, in der für Subjektivität mit festen Grenzen,
wie wir uns das so von unserer Tradition her vorstellen, vielleicht kein Platz
mehr ist. Daß also tatsächlich Subjektivität heute etwas Vielfältiges ist,
etwas, was vielleicht sogar Unvereinbares in sich enthält. Und das in viel
stärkerem Maße als früher. Das kann man als Gefahr - oder wie man das
einschätzen will - vielleicht auch als Chance ins Auge fassen.
Peter Leusch:
Lyotard
spricht ja nicht mehr vom Sender und Empfänger, sondern er spricht von
Subjektivität als "Knoten des Kommunikationskreislaufs".
Manfred Köhler:
Es gibt nun
auch heute Philosophien, die dieses Zerriebenwerden des Subjekts eher feiern
und begrüßen. Der französische Poststrukturalismus, der sogenannte, also die
neuere französische Philosophie, oder Foucault, der von einem Denken in Leere
des verschwundenen Menschen spricht. In dieser Philosophie der Franzosen wird
ja in besonderem Maße auch noch mal das Verhältnis von Vernunft und Gewalt zum
Thema gemacht. Also es ist ja nicht nur vordergründig so, daß zum Beispiel
Umweltzerstörung heute verbunden wird mit Aufklärungsprojekten, also mit dem
Projekt der Aufklärung, sondern vielleicht in einem tieferen Sinne es eine
immanente Gewaltförmigkeit von Vernunft gibt.
Herbert
Schnädelbach:
Das ist ein
altes, oder ziemlich altes Motiv, was die Franzosen nicht erfunden haben,
sondern das findet sich bei Nietzsche, der ja den Gedanken gefaßt hat, daß der
Wille zum Wissen, oder der Wille zur Wahrheit selber der Wille zur Macht ist.
Also da wird der Verdacht ausgedrückt, daß es nicht möglich ist, so einen reinen
Bereich von Vernunft, Erkenntnis, Wahrheit, Wissen zu haben, und auf der
anderen Seite Macht, Gewalt, Herrschaft, Naturbeherrschung, sondern daß das
offenbar ineinander ist. Und das ist einer der stärksten und auch der am
schwersten zu widerlegenden Einwände gegen Rationalismus heute.
Dieser
Fundamentalverdacht, daß wir vielleicht mit den Mitteln der Vernunft aus dem Umkreis
von Macht und Gewalt gar nicht herauskommen, sondern vielleicht durch Betätigung
von Rationalität überhaupt diesen Zustand oder diese Verhältnisse noch befestigen,
dieser Verdacht ist sehr schwer auszuräumen. Ich glaube, daß er in dieser
Pauschalität nicht berechtigt ist, und zwar, weil ich glaube, daß Vernunft
selber ein Plural ist. Das haben also Leute wie Aristoteles schon gewußt. Auch
bei Kant finden wir ja Vernunft expliziert zum Beispiel als theoretische
Vernunft, als praktische Vernunft, als Urteilskraft, als Verstand. Ich meine,
daß dieses aporetische Verhältnis, das man so ausdrücken kann, daß Vernunft als
der Versuch, an die Stelle bloßer Machtverhältnisse das bessere Argument oder
die Einsicht zu setzen, immer tiefer in die Gewalt hineinführt, also daß man
diese Aporie nur aufsprengen kann, wenn man von vornherein mit einer Pluralität
von Vernunfttypen operiert. Und dafür spricht einiges.
Und
insofern, meine ich, muß man wirklich Habermas folgen, der ja diese
Pluralisierung der Vernunfttypen, wie ich meine, in dieser Tradition zum ersten
Mal vorgeschlagen hat. Und das allein eröffnet einen Ausweg aus dieser
Selbstzerstörung der Vernunft in der Vernunftkritik.
Peter Leusch:
Adorno hat
davor gewarnt, daß in der Vernunft ein Wille zum System, also zur Vereinheitlichung
drinsteckt. Sie sagen nun, an einem Konzept einer offenen Rationalität mit
verschiedenen Rationalitätstypen zu arbeiten. Das findet man ja in anderer Gestalt
auch in der Weise, wie Habermas versucht, solche verschiedenen
Geltungsansprüche zu differenzieren. Dennoch ist seine Theorie der
Rationalität ja dem Konsens verpflichtet. Und im Konsens, in dieser
Konsensorientierung, und davor haben die Franzosen ja auch gewarnt, sehe ich
durchaus die Gefahr, daß dort wieder Übereinstimmungen auch erzwungen werden,
nicht kraft des besseren Arguments.
Sie haben
selbst dafür votiert, den Konsens tiefer zu hängen.
Herbert
Schnädelbach:
Man muß bei
Konsens unterscheiden zwischen Verständigung und Einverständnis, und ich
glaube, das, was die Franzosen und viele andere Kritiker an Habermas stört,
ist, daß dieser Begriff des Einverständnisses so hoch gehängt wird. Und ich
sehe hier gar keinen Grund, das so kurz zu schließen. Ich meine, daß das
kommunikative Handeln, von dem wir ja zunächst einmal ausgehen sollten, gar
nicht mit diesem normativem, quasi moralischem Anspruch des Einverständnisses
belastet werden muß. Es genügt doch, wenn wir uns zum Beispiel in Konflikten,
darüber verständigen, worüber wir kein Einverständnis haben. So weit, meine
ich, kann man doch die Konsensorientierung immer treiben, daß zunächst einmal
klar ist, was zwischen uns kontrovers ist. Das wäre sozusagen Verständigung.
Und ich
meine, daß es ein zusätzlicher Schritt ist, der dann gegangen werden müßte,
wenn man versucht, aus den allgemeinen Bedingungen von Verständigung, die ja
völlig bei dem stehen bleiben können, was ich eben versucht habe zu sagen,
wenn man also von das aus versucht, dann so etwas wie einen normativ oder sogar
moralisch relevanten Begriff des Einverständnisses abzuleiten. Und dieser
zusätzliche Schritt, der darf eben nicht übersprungen werden. Und wo das
geschieht, meine ich, da kann man dann eine solche Gefahr sozusagen der
autoritären Konsenserzwingung vermuten.
Manfred Köhler:
Also doch.
Ich meine, dieser zweite Schritt wäre dann doch schon in den ersten
eingeschrieben. Also, es ginge schon darum, eine Verständigung zu Wege zu
bringen, die zwar zunächst den Dissens markiert, aber dann über den Dissens
hinauszugehen in der Lage sein wollen müßte. Also dieses Hinausgehen wollen
muß, um zu einem Einverständnis zu kommen, oder können Sie sich vorstellen,
daß man sich verständigt, um den Dissens als solchen zu manifestieren, zu leben
und festzuschreiben?
Herbert
Schnädelbach:
Wenn es um
eine Theorie der Rationalität geht, braucht man, glaube ich, zunächst mal nicht
mehr als diesen normativ nicht gehaltvollen Begriff der Verständigung. Der
Übergang von Verständigung zum Einverständnis, das scheint mir schon ein Übergang
von einer Rationalitätstheorie in eine Ethik zu sein. Und ich glaube, daß in
der Tat, vor allen Dingen eben im Bereich des strategischen Handelns, des
politischen Handelns, auch des ökonomischen Handelns wir so miteinander
umgehen, daß wir überhaupt nicht auf Einverständnis bestehen, sondern daß wir
zunächst einmal redend die Konfliktpunkte zu identifizieren, die zwischen uns
bestehen, und daß wir dann irgendwie versuchen, damit zu leben. Ich glaube,
daß wir in der Regel, ich meine selbst sogar in engen Partnerbeziehungen, gar
nicht so konsensorientiert sind, wie das manchmal klingt. Sondern daß wir uns
häufig damit zufrieden geben, "to agree on what we not agree". Also
das scheint mir wichtig zu sein, und ich glaube, das gehört auch zu dem, was
wir vorhin gesagt haben über Pluralismus und plurale Kulturen. Das Wesentliche
ist der Frieden. Das hat ja Lyotard auch gesagt. Das Entscheidende ist Gerechtigkeit.
Und Gerechtigkeit wird gerade dann schwer und wird gerade dann zum großen
Thema, wenn wir inhaltlichen Konsens nicht einfach voraussetzen können. Da
wird der Frieden dann zum Ernstfall.