Gespräch mit Hermann Lübbe am 31.01.1991
Manfred Köhler:
Herr Lübbe,
Sie haben sich in vielen Aufsätzen, Vorträgen, Büchern mit der Zeit, mit der
aktuellen Lage auseinandergesetzt. Von Hegel stammt der Satz: 'Die Philosophie
ist ihre Zeit, in Gedanken gefaßt.' Sie greifen Themen aus dem Bereich Kultur,
Politik, Philosophie auf und verknüpfen sie miteinander und bringen auch eine
ganz eigene Perspektive in den Blick hinein, den Sie auf diese ganzen
verschiedenen Phänomene werfen. Sie haben es selber einmal bezeichnet als die
Perspektive eines Liberalkonservativen. Was ist ein Liberalkonservativer?
Hermann Lübbe:
Ein
Liberalkonservativer ist zunächst einer, der sich bewahrend, also konservativ
verhält zur Tradition der liberalen gesellschaftspolitischen Ordnungsgrundsätze.
Die sind ja nicht neu, die sind sehr alt. Die stecken in den Erklärungen der
Menschen- und Bürgerrechte; die 'Virginia Bill of Rights' ist ein solcher Katalog
von liberalen Ordnungsgrundsätzen, von liberalen Grundrechten der Bürger, und
unser Jahrhundert war ein Jahrhundert der außerordentlichen Herausforderungen
an die Adresse dieser liberalen Ordnungsgrundsätze, das heißt, es war ein
Jahrhundert der totalitären Mächte. Die liberalen Ordnungsgrundsätze, so kann
man sagen, sind nicht ungefährdet, sie sind unbeschadet ihres Alters
unverändert nötig, und angesichts der Herausforderungen, der Gefährdungen dieser
liberalen Ordnungsgrundsätze verhält man sich zu diesen dann bewahrend,
konservativ. Das ist der eine Sinn des Konservativen. Es gibt allerdings einen
anderen Sinn des Konservativen, den ich weit über die Sphäre der Politik hinaus
im Kontext des modernen Lebens auch für wichtig halte, und diese Wichtigkeit
wird von der Mehrheit der Menschen in modernen Gesellschaften erkannt. Ich will
mal ein Beispiel bringen, das Beispiel des Denkmalschutzes. Sie können wider
den Abriß eines Fabrikbaus aus den frühen dreißiger Jahren ja Bürgerinitiativen
organisieren. Das macht man auch und das gelingt auch. Und wenn ich nun noch
einen Schritt weitergehe, die Grünen, und alles, was sich mit der Symbolfarbe
'Grün' verbindet So geht es ja auch dort um Bewahrung, in diesem Falle um Bewahrung
der naturalen Grundlagen unserer Zivilisation. Kurz: Je moderner die Welt, umso
wichtiger werden funktional Aktivitäten der Konservierung gefährdeter
kultureller und auch naturaler Herkunftsbestände.
Peter Leusch:
Gefährdet
ist vor allen Dingen die Erfahrung. Wie Sie selbst und wie andere Theoretiker,
vor allem konservative Theoretiker, geschrieben haben, wenn sie von
Erfahrungsverlusten sprechen. Das tut Arnold Gehlen, das tut Helmut Schelsky,
er spricht sogar von einem 'Prinzip Erfahrung', und bei Ihnen ist der
Erfahrungsverlust zu einem Schlüsselbegriff Ihrer philosophischen Zeitdiagnose
avanciert. Sie haben an einer Stelle geschrieben: "Nie hat eine Gesellschaft
ihre Lebensbedingungen weniger verstanden als die unsigre, nämlich aus der
Perspektive jedes einzelnen". Wie würden Sie diesen Erfahrungsverlust
erläutern?
Hermann Lübbe:
Das geht
sehr gut, indem man sich die Lebensverhältnisse der Menschen kurz vor dem
'take off' des Industrialisierungsprozesses vergegenwärtigt, das heißt, vor 200
Jahren waren auch in unserer Gegend gegen 80% aller Menschen in der
Urproduktion, d.h. zumeist in der Landwirtschaft tätig. Die Menschen damals
hatten eine höchst anschauungsgesättigte und lebenserfahrungsstabilisierte Beziehung
zu den realen Bedingungen ihrer physischen und sozialen Existenz. Mit einiger
Emphase ausgedrückt kann man das auch so kennzeichnen: sie kannten das Leben.
Wenn wir uns nun demgegenüber vorstellen, was wir denn nun noch heute, aus der
Perspektive eines jeden Einzelnen gesehen, von den realen Bedingungen unserer
physischen und sozialen Existenz, lebenserfahrungsdurchherrscht kennen, dann
wird plötzlich sichtbar, daß es noch nie eine Zivilisation gegeben hat, die
ihre Lebensgrundlagen weniger verstanden hätte als unsere eigene. Das ist ein
Vorgang, der natürlich sich auch wiederum bis in den politischen
Lebenszusammenhang hinein auswirkt. Das sieht man, wenn man ihn kennzeichnet
als Schwund der Reichweite des 'common sense', des Gemeinsinns. Und je mehr die
Wirtschaft, die Technik, die Wissenschaft unsere Lebensverhältnisse angenehm
macht, aber auch kompliziert macht, umso mehr schwindet die Reichweite des
'common sense', umso mehr wird kompensatorisch Vertrauen in die Solidität der
Leistungen von Experten fällig.
Manfred Köhler:
Man könnte
jetzt natürlich auch annehmen, daß diese Delegation von bestimmten Feldern an
Experten zum Beispiel, wodurch für den Einzelnen natürlich die Voraussetzungen
seiner Existenz, seines Lebens in bestimmten Hinsichten dunkel werden, dafür
aber in anderer Hinsicht auch Möglichkeiten freigesetzt werden, die auch Erfahrungsmöglichkeiten
sind. Wenn allerdings diese Möglichkeiten, die freigesetzt werden, als mögliche
Erfahrungen, sich in einer Weise auch zersplittern, pluralisieren, so daß das
Subjekt selber nicht mehr eine Einheitlichkeit der eigenen Erfahrung ausbilden
kann; und das wäre vielleicht eher auch noch das Problem, die Einheitlichkeit
einer Erfahrung, und nicht jetzt ein Erfahrungsschwund im Sinne jetzt einer
Verengung, sondern diese Ausbreitung von Möglichkeiten, die nicht mehr
integrierbar sind. Daß dadurch etwas bedroht ist, am Einzelnen und auch im
Hinblick auf das Zusammenleben der Menschen.
Hermann Lübbe:
Wahr ist
jedenfalls, daß die Homogenität der Kultur, in der wir leben, die Einheit der
moralischen, religiösen, sonstigen kulturellen Lebensorientierungen, ihre
Einheitlichkeit in der modernen Welt abnimmt. Wir werden, um es etwas hart zu
sagen, in den von uns erreichbaren Kulturniveaus, in unseren Kulturprägungen einer
modernen Welt, als Individuen, aber auch als diese oder jene Gruppe, im
Verhältnis zueinander immer mehr Verschiedene. Das ist unausweichlich, und man
kann sich ja sehr anschaulich an sehr harten Lebensrealitäten
vergegenwärtigen, wieso das so ist. Wir werden bald die 35-Stunden-Woche
haben. Das durchschnittliche Rentenalter liegt heute bereits bei 57,8 Jahren.
Sind wir einmal so alt geworden, auch als Männer, die wir ja im Durchschnitt
nicht so alt werden wie die Frauen, dann haben wir noch 20 Lebensjahre durchschnittlicher
Lebenserwartung vor uns. Und das sind Lebenszeiträume, in denen nichts
geschähe, wenn es nicht selbstbestimmt geschähe. Das Wort 'Freizeit' ist zur
Kennzeichnung dieses ganz neuen kulturellen Bestandes ganz unangemessen. Wenn
wir diese Riesen-Zeit-Freiräume freizeitmäßig verbringen wollten, dann würden
wir sehr bald in sehr depressive Befindlichkeiten versinken. Soviel surfen
kann man gar nicht, um so viel Zeit zu nutzen, da muß etwas sehr viel
Sinnvolleres geschehen. Wir sind aufgefordert zur Lebenssinnfindung angesichts
so gewaltiger Freiheitsräume, wie sie die moderne berufsarbeitsentlastete freie
Zeit anbietet. Und das geschieht nun auf eine höchst verschiedene Weise: Die
einen entdecken den Garten, die anderen treiben eher Sport, die Musik-Kultur
hat eine Renaissance erfahren - soviel Hausmusik wie heute wurde nie betrieben,
gelesen wurde nie so viel wie heute, freilich ferngesehen wurde auch nie so
viel wie heute.
Manfred Köhler:
Das wäre
jetzt natürlich auch die Aufgabe der Philosophie, denke ich mir, in diesem
Bereich der Sinnfindung Angebote zu machen. Und eine Aufgabe wahrzunehmen,
nämlich angesichts eines Erfahrungsverlustes oder -schwundes, angesichts der
Zunahme von Verschiedenheit, die nicht mehr integrierbar ist in einen
einheitlichen Kontext. Ja, worin sehen Sie die Aufgabe der Philosophie heute?
Hermann Lübbe:
Die
Philosophie würde wohl eher unter den Druck einer Überlastung geraten, wenn man
ihr, der Philosophie, die Aufgabe ansönne, den Sinnsuchern, denen wir überall
begegnen, sozusagen mit Sinnangeboten zu kommen. Die Philosophie ist
demgegenüber zunächst einmal die Instanz, die diese Realität zu beschreiben
hat, auf sie aufmerksam zu machen hat. Und damit sichtbar zu machen, welche
Konsequenzen aus ihr eigentlich resultieren, aber die Philosophie begegnet
uns zunächst einmal heute überwiegend als ein akademische, hier und dort auch
literarische Disziplin im freien literarischen Betrieb. Sie ist als akademische
Disziplin auch eine Wissenschaft und von Wissenschaften, auch von der
Philosophie als Wissenschaft erwarten wir im allgemeinen keinen Beistand für
die Herausforderungen, Sinn in unseren Lebenszusammenhang zu bringen.
Peter Leusch:
Da steht die
Philosophie ja aber doch auch schon auch von ihrer Tradition her in einem
großen Spannungsverhältnis. Also, sie war einmal 'prima philosophia' und stand
den Wissenschaften vor, das heißt, sie hat immer auch noch den Auftrag, die
Wissenschaften zu reflektieren. Sie war selbst einmal in ihren großen Systemen
eine Deutung der Welt, sie steht heute in einem Spannungsverhältnis zur
Weltanschaung. Wie kann sie in diesem Spannungsverhältnis sich selbst
verstehen?
Hermann Lübbe:
Die
Philosophie hat zunächst einmal die Aufgabe, die Struktur, die Natur dessen,
was wir gern Orientierungskrise nennen, in Kennzeichnung unserer aktuellen
zivilisatorischen Schwierigkeiten, die Struktur dieser Orientierungskrise
wirklich sichtbar zu machen. Wieso leben wir, leben viele Menschen, leben aber
auch Institutionen, Parteien sogar vielfältig desorientiert, warum wird
überall nach Orientierung gesucht? Das zunächst einmal zu beschreiben. Und das
kann man deutlich machen, einer der wesentlichen Gründe für die Entstehung von
Orientierungskrisen ist die Hyperdynamik in der Entwicklung, in der Evolution
der modernen Zivilisation. Hohe Geschwindigkeit in der Veränderung unserer
Lebenslagen. Großes Fortschrittstempo, so kann man das auch sagen, bedeutet
ja, daß Traditionen sehr rasch veralten.
Was sind
denn Traditionen? Traditionen sind nichts anderes als handlungs- und
einstellungsleitende kulturelle Selbstverständlichkeiten. Und ohne sie können
wir nicht leben. Ein Hauptproblem der modernen Zivilisation, und das ist ein
Orientierungsproblem, ist, das Problem, wie sich handlungs- und
einstellungsleitende kulturelle Einstellungen, sprich Traditionen, neu bilden
lassen. Das ist das Problem.
Manfred Köhler:
Angesprochen
ist damit natürlich vor allem das Verhältnis zur Geschichte und das heißt zur
Vergangenheit, und natürlich auch zur Zukunft. Sie sprechen von der
Beschleunigung unserer Lebensprozesse, unserer Zivilisationsprozesse. Sie
sprachen und Sie sprechen in Ihren Büchern vom Zukunftsgewißheitsschwund. Und
Sie zeigen, daß sich offensichtlich durch diese Beschleunigungsprozesse
Entscheidendes verändert auch. Und jetzt in Bezug auf die Vergangenheit
einerseits auch ein Vergangenheitsbewußtseinsschwund, auf der anderen Seit aber
auch wiederum diese Interesse und diese Faszination durch die Relikte der
Vergangenheit, die dann in den Museen ausgestellt und Scharen von Besuchern
anlocken.
Hermann Lübbe:
Es hat noch
nie eine Kultur gegeben, die so sehr wie unsere vergangenheitsbezogen gewesen
wäre. Und wir haben alle die kulturellen Phänomene vor uns, an denen man das
ablesen kann. Noch das Renaissance-Zeitalter, auch das Mittelalter sogar hat
für seine großen Kirchenbauten die Hinterlassenschaften der Römer, ja sogar der
Griechen als Baumaterial genutzt. So ging man früher mit der Vergangenheit um.
Während wir heute jeden trivialen Klosterstein eines wiederausgegrabenen
Zisterzienser-Klosters wie eine Kostbarkeit auf unseren heimischen Kaminsimsen
hüten. Wir sind es, die die Vergangenheit konservieren, und worauf beruht das?
Nun, das ist wiederum nichts anderes, als eine Antwort auf die Erfahrung der
Dynamik im Veralterungsprozeß. Je rascher der Fortschritt sich ereignet, je
rascher er läuft, desto höher ist zugleich die Veraltensrate.
Peter Leusch:
Sie haben
ein Problem angeschnitten, das Verhältnis zur Geschichte. Ich denke, es gibt
darin immer zwei Momente, das des Wandels und das der Kontinuität. Wenn Sie den
Zivilisationsprozeß heute in seiner ungeheuren Dynamik charakterisieren, dann
scheint mir das Moment der Kontinuität verloren zu gehen. Ich denke auch nicht,
daß es sich einfach kompensieren läßt durch die Ansammlung von Vergangenheiten
als Reliquien, die man dann gleichsam wie Schmetterlinge in Spiritus einlegt.
Dieser Verlust an Kontinuität stürzt uns, so sagen ja manche Kritiker, in eine
ungeschichtliche Zeit.
Hermann Lübbe:
Ich stimme
Ihnen uneingeschränkt zu, daß Teile unserer Zivilisation rasch und auch
gegenwärtig noch sogar immer rascher veralten, wissenschaftliche Lehrbücher zum
Beispiel, deren Halbwertzeit immer noch weiter absinkt, technische Erfindungen
veralten immer rascher. Und gerade dieser Veraltensprozeß läßt dann sichtbar
werden jene kulturellen Bestände, die im Unterschied zu dem Vielen, was in der
Tat fortschrittsabhängig veraltet, den außerordentlichen Vorzug gewinnt, in
diesem Vorzug sichtbar wird, alterungsresistent zu sein. Und genau das ist die
Definition des Klassischen, im spezifisch modernen Sinn. Klassisch ist, was
sehr alt ist und unbeschadet seines Alters nicht veraltet.
Eine kleine
Geschichte, dann sieht man das plötzlich. Ich saß im Rat der Ruhr-Universität
Bochum, und da wurde neben wichtigeren Dingen auch eines Tages über das Wappen
debattiert, das man sich zulegen wolle. Und da gab es dann im Rat so
progressive Leute, die sagten, das könne man sich nicht mehr leisten, daß man
so als Wappeninhalt so ein Requisit aus der bürgerlichen Bildungswelt wähle,
es müsse schon etwas sein, was den Geist des Reviers atmet. Also schlug jemand
einen Förderturm vor, worauf die Wirtschaftswissenschaftler warnten und
sagten, die beiden letzten Zechen auf Bochumer Stadtgrund werden binnen zwei
Jahren geschlossen werden - es war die Zeit des Zechensterbens - und die
Fördertürme werden niedergelegt, hohe Veraltensrate. Da kam ein progressiver
Theologe und sagte, dann wählen wir doch eine Atommodell-Graphik, der hatte
gerade Brüssel besucht, die Weltausstellung, wo ja noch heute das Atomium
steht. Und da warnten die theoretischen Physiker und sagten, gerade unsere
Vorstellungen vom Aufbau der Materie im subatomaren Bereich unterlägen
gegenwärtig einem Prozeß der permanenten Revolution, da wäre die Veraltensrate
noch größer. Und da schlug die Stunde der klassischen Bildung: Prometheus und
Epimetheus; die zieren heute das Bochumer Wappen, von keinem Innovationsschub
ernsthaft bedroht. Das ist die Alterungsresistenz des Klassischen.
Peter Leusch:
Ich denke,
der Marxismus ist auch daran gescheitert, daß er in vielem gerade sehr
traditionalistisch war. Traditionalistisch etwa in der Weise, daß er an einer
Geschichtsphilosophie festgehalten hat, nämlich der hegelianischen, die davon
ausgeht, daß man die Geschichte überschauen könnte, daß man um den weiteren
Verlauf ihres Prozesses weiß und daß man ihn selbst programmatisch dann mitsteuern kann. Und die westliche
Gesellschaft hat sich von solchen Modellen einer Großideologie gelöst. Und
diese Modelle sind 19.Jahrhundert, also Marx ist da immer auch noch Hegel.
Hermann Lübbe:
Der
Marxismus war nie eigentlich progressiv. Er hatte von Anfang an eine tief
reaktionäre Gestalt. Sie besteht in der Weigerung, den Boden der modernen
wissenschaftlichen Kultur zu betreten. Einer wissenschaftlichen Kultur, in der
wir wissen können, daß die Wissenschaften, die sich auf eine so phantastische
Weise zur Hebeung unserer Wohlfahrt, zur Verbesserung unserer sozialen und individuellen
Sicherheiten nutzen lassen, daß diese Wissenschaften zugleich unsere
Orientierungssicherheit nicht mehren. Und aus dieser Wissenschaft ihrerseits
noch einmal ein ideologisch perfektes Orientierungssystem zu machen, in dem
alle wesentlichen Weisheiten über den Sinn der Geschichte und ihren Verlauf
festgehalten sind, im maoistischen Extremfall: alles Wichtige hat zwischen zwei
roten Buchdeckeln Platz, die Mao-Bibel, das ist spezifisch reaktionär, eine
Modernitätsverweigerungsreaktion, eine spezifisch moderne. Und die ist
sozusagen an der Komplexität der modernen Welt gescheitert, die waren nicht
mehr modernitätsfähig.
Manfred Köhler:
Jetzt ist
natürlich heute der Marxismus garnicht mehr so sehr unser Problem. Wir haben
jetzt mittlerweile ein anderes. Ja, die Vernünftigkeit, von der man ja in der
Philosophie vor allem spricht, oder die Weltgesellschaft als vernünftige
Kommunikationsgemeinschaft, das sollte ja irgendwo auch die UNO befördern, zumindest,
und irgendwie auch verkörpern und repräsentieren. Jetzt hat die UNO ja einen
Beschluß gefaßt, mit einem Ultimatum verbunden, und dieses Ultimatum hat dann
dazu geführt, daß es eine Nötigung gab für die westlichen Alliierten,
Verbündeten unter der Führung der USA, einen Krieg gegen den Irak zu beginnen.
Ist dieser Krieg nicht vielleicht auch das Ergebnis eines aus westlichen Demokratietraditionen
entstandenen oder damit verbundenen Universalismus, eines Universalismus, der
dann diesen Krieg hat unvermeidbar werden lassen.
Hermann Lübbe:
Ich will mal
der Versuchung widerstehen, den Golfkrieg und seine politischen Hintergründe zu
kommentieren. Aber es ist ja ein allgemeines Problem, was dahinter steckt, und
das sind die Notwendigkeiten der Universalisierung, denen wir tatsächlich
unterliegen. Es gibt zwingende Notwendigkeiten einer solchen Universalisierung.
Modernisierungsprozesse, Nutzung der Wissenschaft und Technik, und dazu sind
inzwischen ja auch die Völker der sogenannten 'Dritten Welt' entschlossen,
einfach im Blick auf die evidenten Lebensvorzüge der modernen Zivilisation.
Also die Lebensvorzüge der wissenschaftlich-technischen Zivilisation sind von
solcher Evidenz, daß sich die Ansprüche auf zivilisationsabhängige Wohlfahrt um
den ganzen Globus verbreiten. Und das ist unaufhaltsam. Und das bedeutet in
der sozialen Interaktion, daß wir über immer größere Räume hinweg real
voneinander abhängig werden, daß wir uns immer häufiger als Verschiedene
begegnen, als verschieden kulturell Geprägte, als verschieden konfessionell
Geprägte, als verschieden national Geprägte. Und die Antwort auf die Frage, wie
Verschiedene, die sich immer häufiger als Verschiedene begegnen, friedlich
miteinander leben können, diese Antwort ist längst gefunden. Das ist wiederum
das liberale Ordnungssystem, dessen Expansion auch durch die UNO
vorangetrieben, denn auf der UNO-Ebene werden ja die Grundsätze des liberalen
Ordnungssystem permanent verkündet.
Peter Leusch:
Aber das
Problem scheint mir auch immer: diese Universalität in ihrer liberalen
Verfaßheit ist eingerichtet als UN, das ist zunächst aber auch immer eine
formale Einrichtung aus diesem Universalismus schauen auch immer wieder
partikulare Interessen hervor, es sind die Interessen des Westens,...
Herrmann
Lübbe :
Sicher.
Peter Leusch:
.. und die
sind es ja auch, auf die sie von den Menschen aus arabischen Ländern, die hier
sind, direkt aufmerksam gemacht werden. Also es geht jetzt nicht um das Problem
des Diktators Saddam Hussein, sondern daß diese Leute aus arabischen Ländern
ihre Heterogenität verletzt sehen und mißachtet sehen.
Herrmann
Lübbe:
Das kann
sehr wohl sein, daß die guten Zwecke, die man zu verfolgen glaubte, mit dem
Beschluß und dann auch mit dem auf ihn folgenden Krieg, daß sie im Endeffekt
sich als eine große Katastrophe herausstellen, das kann sehr wohl sein, daß
will ich undiskutiert lassen. Davon bleibt aber unberührt, meine ich, die
Unvermeidlichkeit dessen, was ich die liberalen Ordnungsgrundsätze genannt
hatte, global in ihrer Geltung zu verbreiten, weil wir anders als Verschiedene
nicht miteinander leben können. Wir werden real voneinander abhängig als
verschieden Gebliebene, herkunftsabhängig Verschiedene, und das bedeutet, daß
dasjenige, was wir alle gemeinsam haben müssen, minimalisiert werden muß.
Die Regel
lautet, auch in der zusammenwachsenden Welt: Soviel Gemeinsamkeit wie nötig,
und soviel Verschiedenheit kraft kontingenter Herkunftsprägung wie möglich!
Und wenn Sie
diese allgemeine Regel versuchen in ein Ordnungssystem zu bringen, dann haben
Sie wiederum ein formales allgemeines
liberales Ordnungssystem, wo jedem ein Maximum an Anderssein von den
Anderen verstattet wird.
In Bezug auf
den Islam, der ja so nahe zum
christlichen Europa ist, bedeutet das, zwischen diesen beiden
Großsystemen wird auf Dauer kein Friede möglich sein, wenn die Moslems nicht
begreifen, daß die sich ausbreitende europäische Zivilisation, sie in ihrer
Moslemidentität nicht gefährdet, und daß die Eurpäer sie nicht um diese
Identität bringen wollen. Das wollen sie ja auch tatsächlich nicht.
Manfred Köhler:
Wir haben
zwar eine Menge Probleme, wir haben aber irgendwie auch Grund zur Hoffnung, so
wie Sie Ihr Buch von 1990 beendet haben: Es gibt eine "Verpflichtung zur
Zuversicht", könnte man vielleicht sogar sagen, nicht nur eine
Verpflichtung, sondern auch Gründe, zuversichtlich zu sein?
Herrmann
Lübbe:
Ja, es gibt
eine Verpflichtung und es gibt tatsächlich auch Gründe, so sehe ich das auch.
Ich
unterstelle einmal in Übereinstimmung mit vielen apokalyptisch gegenwärtig
Bewegten, die schon das Ende der Dinge nahe herbeigekommen sehen, die Lage mag
ja wirklich ernst sein. Dann aber, wenn es so ist, hängt die Antwort auf die
Frage, ob wir heil herauskommen werden, nicht zuletzt von demjenigen Faktor ab,
den wir selber innerhalb dieses Spiels repräsentieren, d.h. die Antwort auf die
Frage, ob wir heil herauskommen werden, hängt nicht zuletzt von unserer eigenen
Urteilskraft, von unserer eigenen Handlungskraft, von unserem eigenen Mut auch
ab. Und das erzeugt sich eben nicht zuletzt aus Zuversicht, und deshalb gibt es
in einer sehr prekären Lage sogar so etwas wie eine moralische Verpflichtung
zur Zuversicht.