Gespräch mit Hermann Lübbe am 31.01.1991

Manfred Köhler:
Herr Lübbe, Sie haben sich in vielen Aufsätzen, Vorträgen, Büchern mit der Zeit, mit der aktuellen Lage auseinandergesetzt. Von Hegel stammt der Satz: 'Die Philosophie ist ihre Zeit, in Gedanken ge­faßt.' Sie greifen Themen aus dem Bereich Kultur, Politik, Phi­losophie auf und verknüpfen sie miteinander und bringen auch eine ganz eigene Perspektive in den Blick hinein, den Sie auf diese ganzen verschiedenen Phänomene werfen. Sie haben es selber einmal bezeichnet als die Perspektive eines Liberalkonservativen. Was ist ein Liberalkonservativer?
Hermann Lübbe:
Ein Liberalkonservativer ist zunächst einer, der sich bewahrend, also konservativ verhält zur Tradition der liberalen gesell­schaftspolitischen Ordnungsgrundsätze. Die sind ja nicht neu, die sind sehr alt. Die stecken in den Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte; die 'Virginia Bill of Rights' ist ein solcher Kata­log von liberalen Ordnungsgrundsätzen, von liberalen Grundrechten der Bürger, und unser Jahrhundert war ein Jahrhundert der außeror­dentlichen Herausforderungen an die Adresse dieser liberalen Ord­nungsgrundsätze, das heißt, es war ein Jahrhundert der totalitären Mächte. Die liberalen Ordnungsgrundsätze, so kann man sagen, sind nicht ungefährdet, sie sind unbeschadet ihres Alters unverändert nötig, und angesichts der Herausforderungen, der Gefährdungen die­ser liberalen Ordnungsgrundsätze verhält man sich zu diesen dann bewahrend, konservativ. Das ist der eine Sinn des Konservativen. Es gibt allerdings einen anderen Sinn des Konservativen, den ich weit über die Sphäre der Politik hinaus im Kontext des modernen Lebens auch für wichtig halte, und diese Wichtigkeit wird von der Mehrheit der Menschen in modernen Gesellschaften erkannt. Ich will mal ein Beispiel bringen, das Beispiel des Denkmalschutzes. Sie können wider den Abriß eines Fabrikbaus aus den frühen dreißiger Jahren ja Bürgerinitiativen organisieren. Das macht man auch und das gelingt auch. Und wenn ich nun noch einen Schritt weitergehe, die Grünen, und alles, was sich mit der Symbolfarbe 'Grün' verbin­det So geht es ja auch dort um Bewahrung, in diesem Falle um Be­wahrung der naturalen Grundlagen unserer Zivilisation. Kurz: Je moderner die Welt, umso wichtiger werden funktional Aktivitäten der Konservierung gefährdeter kultureller und auch naturaler Her­kunftsbestände.
Peter Leusch:
Gefährdet ist vor allen Dingen die Erfahrung. Wie Sie selbst und wie andere Theoretiker, vor allem konservative Theoretiker, ge­schrieben haben, wenn sie von Erfahrungsverlusten sprechen. Das tut Arnold Gehlen, das tut Helmut Schelsky, er spricht sogar von einem 'Prinzip Erfahrung', und bei Ihnen ist der Erfahrungsverlust zu einem Schlüsselbegriff Ihrer philosophischen Zeitdiagnose avan­ciert. Sie haben an einer Stelle geschrieben: "Nie hat eine Ge­sellschaft ihre Lebensbedingungen weniger verstanden als die unsi­gre, nämlich aus der Perspektive jedes einzelnen". Wie würden Sie diesen Erfahrungsverlust erläutern?
Hermann Lübbe:
Das geht sehr gut, indem man sich die Lebensverhältnisse der Men­schen kurz vor dem 'take off' des Industrialisierungsprozesses vergegenwärtigt, das heißt, vor 200 Jahren waren auch in unserer Gegend gegen 80% aller Menschen in der Urproduktion, d.h. zumeist in der Landwirtschaft tätig. Die Menschen damals hatten eine höchst anschauungsgesättigte und lebenserfahrungsstabilisierte Be­ziehung zu den realen Bedingungen ihrer physischen und sozialen Existenz. Mit einiger Emphase ausgedrückt kann man das auch so kennzeichnen: sie kannten das Leben. Wenn wir uns nun demgegenüber vorstellen, was wir denn nun noch heute, aus der Perspektive eines jeden Einzelnen gesehen, von den realen Bedingungen unserer physi­schen und sozialen Existenz, lebenserfahrungsdurchherrscht kennen, dann wird plötzlich sichtbar, daß es noch nie eine Zivilisation gegeben hat, die ihre Lebensgrundlagen weniger verstanden hätte als unsere eigene. Das ist ein Vorgang, der natürlich sich auch wiederum bis in den politischen Lebenszusammenhang hinein aus­wirkt. Das sieht man, wenn man ihn kennzeichnet als Schwund der Reichweite des 'common sense', des Gemeinsinns. Und je mehr die Wirtschaft, die Technik, die Wissenschaft unsere Lebensverhält­nisse angenehm macht, aber auch kompliziert macht, umso mehr schwindet die Reichweite des 'common sense', umso mehr wird kom­pensatorisch Vertrauen in die Solidität der Leistungen von Exper­ten fällig.
Manfred Köhler:
Man könnte jetzt natürlich auch annehmen, daß diese Delegation von bestimmten Feldern an Experten zum Beispiel, wodurch für den Ein­zelnen natürlich die Voraussetzungen seiner Existenz, seines Le­bens in bestimmten Hinsichten dunkel werden, dafür aber in anderer Hinsicht auch Möglichkeiten freigesetzt werden, die auch Erfah­rungsmöglichkeiten sind. Wenn allerdings diese Möglichkeiten, die freigesetzt werden, als mögliche Erfahrungen, sich in einer Weise auch zersplittern, pluralisieren, so daß das Subjekt selber nicht mehr eine Einheitlichkeit der eigenen Erfahrung ausbilden kann; und das wäre vielleicht eher auch noch das Problem, die Einheit­lichkeit einer Erfahrung, und nicht jetzt ein Erfahrungsschwund im Sinne jetzt einer Verengung, sondern diese Ausbreitung von Mög­lichkeiten, die nicht mehr integrierbar sind. Daß dadurch etwas bedroht ist, am Einzelnen und auch im Hinblick auf das Zusammenle­ben der Menschen.
Hermann Lübbe:
Wahr ist jedenfalls, daß die Homogenität der Kultur, in der wir leben, die Einheit der moralischen, religiösen, sonstigen kul­turellen Lebensorientierungen, ihre Einheitlichkeit in der moder­nen Welt abnimmt. Wir werden, um es etwas hart zu sagen, in den von uns erreichbaren Kulturniveaus, in unseren Kulturprägungen ei­ner modernen Welt, als Individuen, aber auch als diese oder jene Gruppe, im Verhältnis zueinander immer mehr Verschiedene. Das ist unausweichlich, und man kann sich ja sehr anschaulich an sehr har­ten Lebensrealitäten vergegenwärtigen, wieso das so ist. Wir wer­den bald die 35-Stunden-Woche haben. Das durchschnittliche Renten­alter liegt heute bereits bei 57,8 Jahren. Sind wir einmal so alt geworden, auch als Männer, die wir ja im Durchschnitt nicht so alt werden wie die Frauen, dann haben wir noch 20 Lebensjahre durch­schnittlicher Lebenserwartung vor uns. Und das sind Lebens­zeiträume, in denen nichts geschähe, wenn es nicht selbstbestimmt geschähe. Das Wort 'Freizeit' ist zur Kennzeichnung dieses ganz neuen kulturellen Bestandes ganz unangemessen. Wenn wir diese Rie­sen-Zeit-Freiräume freizeitmäßig verbringen wollten, dann würden wir sehr bald in sehr depressive Befindlichkeiten versinken. So­viel surfen kann man gar nicht, um so viel Zeit zu nutzen, da muß etwas sehr viel Sinnvolleres geschehen. Wir sind aufgefordert zur Lebenssinnfindung angesichts so gewaltiger Freiheitsräume, wie sie die moderne berufsarbeitsentlastete freie Zeit anbietet. Und das geschieht nun auf eine höchst verschiedene Weise: Die einen ent­decken den Garten, die anderen treiben eher Sport, die Musik-Kul­tur hat eine Renaissance erfahren - soviel Hausmusik wie heute wurde nie betrieben, gelesen wurde nie so viel wie heute, freilich ferngesehen wurde auch nie so viel wie heute. 
Manfred Köhler:
Das wäre jetzt natürlich auch die Aufgabe der Philosophie, denke ich mir, in diesem Bereich der Sinnfindung Angebote zu machen. Und eine Aufgabe wahrzunehmen, nämlich angesichts eines Erfahrungsver­lustes oder -schwundes, angesichts der Zunahme von Verschieden­heit, die nicht mehr integrierbar ist in einen einheitlichen Kon­text. Ja, worin sehen Sie die Aufgabe der Philosophie heute?
Hermann Lübbe:
Die Philosophie würde wohl eher unter den Druck einer Überlastung geraten, wenn man ihr, der Philosophie, die Aufgabe ansönne, den Sinnsuchern, denen wir überall begegnen, sozusagen mit Sinnangebo­ten zu kommen. Die Philosophie ist demgegenüber zunächst einmal die Instanz, die diese Realität zu beschreiben hat, auf sie auf­merksam zu machen hat. Und damit sichtbar zu machen, welche Konse­quenzen aus ihr eigentlich resultieren, aber die Philosophie be­gegnet uns zunächst einmal heute überwiegend als ein akademische, hier und dort auch literarische Disziplin im freien literarischen Betrieb. Sie ist als akademische Disziplin auch eine Wissenschaft und von Wissenschaften, auch von der Philosophie als Wissenschaft erwarten wir im allgemeinen keinen Beistand für die Herausforde­rungen, Sinn in unseren Lebenszusammenhang zu bringen.
Peter Leusch:
Da steht die Philosophie ja aber doch auch schon auch von ihrer Tradition her in einem großen Spannungsverhältnis. Also, sie war einmal 'prima philosophia' und stand den Wissenschaften vor, das heißt, sie hat immer auch noch den Auftrag, die Wissenschaften zu reflektieren. Sie war selbst einmal in ihren großen Systemen eine Deutung der Welt, sie steht heute in einem Spannungsverhältnis zur Weltanschaung. Wie kann sie in diesem Spannungsverhältnis sich selbst verstehen?
Hermann Lübbe:
Die Philosophie hat zunächst einmal die Aufgabe, die Struktur, die Natur dessen, was wir gern Orientierungskrise nennen, in Kenn­zeichnung unserer aktuellen zivilisatorischen Schwierigkeiten, die Struktur dieser Orientierungskrise wirklich sichtbar zu machen. Wieso leben wir, leben viele Menschen, leben aber auch Institutio­nen, Parteien sogar vielfältig desorientiert, warum wird überall nach Orientierung gesucht? Das zunächst einmal zu beschreiben. Und das kann man deutlich machen, einer der wesentlichen Gründe für die Entstehung von Orientierungskrisen ist die Hyperdynamik in der Entwicklung, in der Evolution der modernen Zivilisation. Hohe Ge­schwindigkeit in der Veränderung unserer Lebenslagen. Großes Fort­schrittstempo, so kann man das auch sagen, bedeutet ja, daß Tradi­tionen sehr rasch veralten.
Was sind denn Traditionen? Traditionen sind nichts anderes als handlungs- und einstellungsleitende kulturelle Selbstverständlich­keiten. Und ohne sie können wir nicht leben. Ein Hauptproblem der modernen Zivilisation, und das ist ein Orientierungsproblem, ist, das Problem, wie sich handlungs- und einstellungsleitende kul­turelle Einstellungen, sprich Traditionen, neu bilden lassen. Das ist das Problem.
Manfred Köhler:
Angesprochen ist damit natürlich vor allem das Verhältnis zur Ge­schichte und das heißt zur Vergangenheit, und natürlich auch zur Zukunft. Sie sprechen von der Beschleunigung unserer Lebenspro­zesse, unserer Zivilisationsprozesse. Sie sprachen und Sie spre­chen in Ihren Büchern vom Zukunftsgewißheitsschwund. Und Sie zei­gen, daß sich offensichtlich durch diese Beschleunigungsprozesse Entscheidendes verändert auch. Und jetzt in Bezug auf die Vergan­genheit einerseits auch ein Vergangenheitsbewußtseinsschwund, auf der anderen Seit aber auch wiederum diese Interesse und diese Fas­zination durch die Relikte der Vergangenheit, die dann in den Mu­seen ausgestellt und Scharen von Besuchern anlocken.
Hermann Lübbe:
Es hat noch nie eine Kultur gegeben, die so sehr wie unsere ver­gangenheitsbezogen gewesen wäre. Und wir haben alle die kulturel­len Phänomene vor uns, an denen man das ablesen kann. Noch das Re­naissance-Zeitalter, auch das Mittelalter sogar hat für seine großen Kirchenbauten die Hinterlassenschaften der Römer, ja sogar der Griechen als Baumaterial genutzt. So ging man früher mit der Vergangenheit um. Während wir heute jeden trivialen Klosterstein eines wiederausgegrabenen Zisterzienser-Klosters wie eine Kostbar­keit auf unseren heimischen Kaminsimsen hüten. Wir sind es, die die Vergangenheit konservieren, und worauf beruht das? Nun, das ist wiederum nichts anderes, als eine Antwort auf die Erfahrung der Dynamik im Veralterungsprozeß. Je rascher der Fortschritt sich ereignet, je rascher er läuft, desto höher ist zugleich die Veral­tensrate.
Peter Leusch:
Sie haben ein Problem angeschnitten, das Verhältnis zur Ge­schichte. Ich denke, es gibt darin immer zwei Momente, das des Wandels und das der Kontinuität. Wenn Sie den Zivilisationsprozeß heute in seiner ungeheuren Dynamik charakterisieren, dann scheint mir das Moment der Kontinuität verloren zu gehen. Ich denke auch nicht, daß es sich einfach kompensieren läßt durch die Ansammlung von Vergangenheiten als Reliquien, die man dann gleichsam wie Schmetterlinge in Spiritus einlegt. Dieser Verlust an Kontinuität stürzt uns, so sagen ja manche Kritiker, in eine ungeschichtliche Zeit.

Hermann Lübbe:
Ich stimme Ihnen uneingeschränkt zu, daß Teile unserer Zivilisa­tion rasch und auch gegenwärtig noch sogar immer rascher veralten, wissenschaftliche Lehrbücher zum Beispiel, deren Halbwertzeit im­mer noch weiter absinkt, technische Erfindungen veralten immer ra­scher. Und gerade dieser Veraltensprozeß läßt dann sichtbar werden jene kulturellen Bestände, die im Unterschied zu dem Vielen, was in der Tat fortschrittsabhängig veraltet, den außerordentlichen Vorzug gewinnt, in diesem Vorzug sichtbar wird, alterungsresistent zu sein. Und genau das ist die Definition des Klassischen, im spe­zifisch modernen Sinn. Klassisch ist, was sehr alt ist und unbe­schadet seines Alters nicht veraltet.
Eine kleine Geschichte, dann sieht man das plötzlich. Ich saß im Rat der Ruhr-Universität Bochum, und da wurde neben wichtigeren Dingen auch eines Tages über das Wappen debattiert, das man sich zulegen wolle. Und da gab es dann im Rat so progressive Leute, die sagten, das könne man sich nicht mehr leisten, daß man so als Wap­peninhalt so ein Requisit aus der bürgerlichen Bildungswelt wähle, es müsse schon etwas sein, was den Geist des Reviers atmet. Also schlug jemand einen Förderturm vor, worauf die Wirtschaftswissen­schaftler warnten und sagten, die beiden letzten Zechen auf Bochu­mer Stadtgrund werden binnen zwei Jahren geschlossen werden - es war die Zeit des Zechensterbens - und die Fördertürme werden nie­dergelegt, hohe Veraltensrate. Da kam ein progressiver Theologe und sagte, dann wählen wir doch eine Atommodell-Graphik, der hatte gerade Brüssel besucht, die Weltausstellung, wo ja noch heute das Atomium steht. Und da warnten die theoretischen Physiker und sag­ten, gerade unsere Vorstellungen vom Aufbau der Materie im subato­maren Bereich unterlägen gegenwärtig einem Prozeß der permanenten Revolution, da wäre die Veraltensrate noch größer. Und da schlug die Stunde der klassischen Bildung: Prometheus und Epimetheus; die zieren heute das Bochumer Wappen, von keinem Innovationsschub ernsthaft bedroht. Das ist die Alterungsresistenz des Klassischen.
Peter Leusch:
Ich denke, der Marxismus ist auch daran gescheitert, daß er in vielem gerade sehr traditionalistisch war. Traditionalistisch etwa in der Weise, daß er an einer Geschichtsphilosophie festgehalten hat, nämlich der hegelianischen, die davon ausgeht, daß man die Geschichte überschauen könnte, daß man um den weiteren Verlauf ihres Prozesses weiß und daß man ihn selbst programmatisch dann  mitsteuern kann. Und die westliche Gesellschaft hat sich von sol­chen Modellen einer Großideologie gelöst. Und diese Modelle sind 19.Jahrhundert, also Marx ist da immer auch noch Hegel.
Hermann Lübbe:
Der Marxismus war nie eigentlich progressiv. Er hatte von Anfang an eine tief reaktionäre Gestalt. Sie besteht in der Weigerung, den Boden der modernen wissenschaftlichen Kultur zu betreten. Ei­ner wissenschaftlichen Kultur, in der wir wissen können, daß die Wissenschaften, die sich auf eine so phantastische Weise zur He­beung unserer Wohlfahrt, zur Verbesserung unserer sozialen und in­dividuellen Sicherheiten nutzen lassen, daß diese Wissenschaften zugleich unsere Orientierungssicherheit nicht mehren. Und aus die­ser Wissenschaft ihrerseits noch einmal ein ideologisch perfektes Orientierungssystem zu machen, in dem alle wesentlichen Weisheiten über den Sinn der Geschichte und ihren Verlauf festgehalten sind, im maoistischen Extremfall: alles Wichtige hat zwischen zwei roten Buchdeckeln Platz, die Mao-Bibel, das ist spezifisch reaktionär, eine Modernitätsverweigerungsreaktion, eine spezifisch moderne. Und die ist sozusagen an der Komplexität der modernen Welt ge­scheitert, die waren nicht mehr modernitätsfähig.
Manfred Köhler:
Jetzt ist natürlich heute der Marxismus garnicht mehr so sehr un­ser Problem. Wir haben jetzt mittlerweile ein anderes. Ja, die Vernünftigkeit, von der man ja in der Philosophie vor allem spricht, oder die Weltgesellschaft als vernünftige Kommunikations­gemeinschaft, das sollte ja irgendwo auch die UNO befördern, zu­mindest, und irgendwie auch verkörpern und repräsentieren. Jetzt hat die UNO ja einen Beschluß gefaßt, mit einem Ultimatum verbun­den, und dieses Ultimatum hat dann dazu geführt, daß es eine Nöti­gung gab für die westlichen Alliierten, Verbündeten unter der Füh­rung der USA, einen Krieg gegen den Irak zu beginnen. Ist dieser Krieg nicht vielleicht auch das Ergebnis eines aus westlichen De­mokratietraditionen entstandenen oder damit verbundenen Universa­lismus, eines Universalismus, der dann diesen Krieg hat unvermeid­bar werden lassen.
Hermann Lübbe:
Ich will mal der Versuchung widerstehen, den Golfkrieg und seine politischen Hintergründe zu kommentieren. Aber es ist ja ein all­gemeines Problem, was dahinter steckt, und das sind die Notwendig­keiten der Universalisierung, denen wir tatsächlich unterliegen. Es gibt zwingende Notwendigkeiten einer solchen Universalisierung. Modernisierungsprozesse, Nutzung der Wissenschaft und Technik, und dazu sind inzwischen ja auch die Völker der sogenannten 'Dritten Welt' entschlossen, einfach im Blick auf die evidenten Lebensvor­züge der modernen Zivilisation. Also die Lebensvorzüge der wissen­schaftlich-technischen Zivilisation sind von solcher Evidenz, daß sich die Ansprüche auf zivilisationsabhängige Wohlfahrt um den ganzen Globus verbreiten. Und das ist unaufhaltsam. Und das bedeu­tet in der sozialen Interaktion, daß wir über immer größere Räume hinweg real voneinander abhängig werden, daß wir uns immer häufi­ger als Verschiedene begegnen, als verschieden kulturell Geprägte, als verschieden konfessionell Geprägte, als verschieden national Geprägte. Und die Antwort auf die Frage, wie Verschiedene, die sich immer häufiger als Verschiedene begegnen, friedlich miteinan­der leben können, diese Antwort ist längst gefunden. Das ist wie­derum das liberale Ordnungssystem, dessen Expansion auch durch die UNO vorangetrieben, denn auf der UNO-Ebene werden ja die Grund­sätze des liberalen Ordnungssystem permanent verkündet.
Peter Leusch:
Aber das Problem scheint mir auch immer: diese Universalität in ihrer liberalen Verfaßheit ist eingerichtet als UN, das ist zunächst aber auch immer eine formale Einrichtung aus diesem Uni­versalismus schauen auch immer wieder partikulare Interessen her­vor, es sind die Interessen des Westens,...

Herrmann Lübbe :
Sicher.
Peter Leusch:
.. und die sind es ja auch, auf die sie von den Menschen aus ara­bischen Ländern, die hier sind, direkt aufmerksam gemacht werden. Also es geht jetzt nicht um das Problem des Diktators Saddam Hus­sein, sondern daß diese Leute aus arabischen Ländern ihre Hete­rogenität verletzt sehen und mißachtet sehen.
Herrmann Lübbe:
Das kann sehr wohl sein, daß die guten Zwecke, die man zu verfol­gen glaubte, mit dem Beschluß und dann auch mit dem auf ihn fol­genden Krieg, daß sie im Endeffekt sich als eine große Katastrophe herausstellen, das kann sehr wohl sein, daß will ich undiskutiert lassen. Davon bleibt aber unberührt, meine ich, die Unvermeidlich­keit dessen, was ich die liberalen Ordnungsgrundsätze genannt hatte, global in ihrer Geltung zu verbreiten, weil wir anders als Verschiedene nicht miteinander leben können. Wir werden real von­einander abhängig als verschieden Gebliebene, herkunftsabhängig Verschiedene, und das bedeutet, daß dasjenige, was wir alle ge­meinsam haben müssen, minimalisiert werden muß.
Die Regel lautet, auch in der zusammenwachsenden Welt: Soviel Ge­meinsamkeit wie nötig, und soviel Verschiedenheit kraft kontingen­ter Herkunftsprägung wie möglich!
Und wenn Sie diese allgemeine Regel versuchen in ein Ordnungssys­tem zu bringen, dann haben Sie wiederum ein formales allgemeines  liberales Ordnungssystem, wo jedem ein Maximum an Anderssein von den Anderen verstattet wird.
In Bezug auf den Islam, der ja so nahe zum  christlichen Europa ist, bedeutet das, zwischen diesen beiden Großsystemen wird auf Dauer kein Friede möglich sein, wenn die Moslems nicht begreifen, daß die sich ausbreitende europäische Zivilisation, sie in ihrer Moslemidentität nicht gefährdet, und daß die Eurpäer sie nicht um diese Identität bringen wollen. Das wollen sie ja auch tatsächlich nicht.
Manfred Köhler:
Wir haben zwar eine Menge Probleme, wir haben aber irgendwie auch Grund zur Hoffnung, so wie Sie Ihr Buch von 1990 beendet haben: Es gibt eine "Verpflichtung zur Zuver­sicht", könnte man vielleicht sogar sagen, nicht nur eine Verpflichtung, sondern auch Gründe, zuversichtlich zu sein?
Herrmann Lübbe:
Ja, es gibt eine Verpflichtung und es gibt tatsächlich auch Gründe, so sehe ich das auch.
Ich unterstelle einmal in Übereinstimmung mit vielen apokalyp­tisch gegenwärtig Bewegten, die schon das Ende der Dinge nahe herbeigekommen sehen, die Lage mag ja wirklich ernst sein. Dann aber, wenn es so ist, hängt die Antwort auf die Frage, ob wir heil herauskommen werden, nicht zuletzt von demjenigen Faktor ab, den wir selber innerhalb dieses Spiels repräsentieren, d.h. die Antwort auf die Frage, ob wir heil herauskommen werden, hängt nicht zuletzt von unserer eigenen Urteilskraft, von unse­rer eigenen Handlungskraft, von unserem eigenen Mut auch ab. Und das erzeugt sich eben nicht zuletzt aus Zuversicht, und deshalb gibt es in einer sehr prekären Lage sogar so etwas wie eine moralische Verpflichtung zur Zuversicht.