Zitator:
Als Merkel
und Westerwelle nach einer monatelangen Diskussion von Namen aus dem Spektrum
weithin sichtbarer Figuren einen ehemaligen Ministerialbeamten aus der Tasche
zogen, der breiten Schichten völlig unbekannt ist, wurde vollends klar: Diesen
Strippenziehern war nicht nur die Institution des Bundespräsidenten wurscht,
wurscht war ihnen auch das berechtigte Interesse der Bürger an der Person, die
in der Weltöffentlichkeit im Namen aller Deutschen auftreten wird. Denn wie
soll man sich über einen Unbekannten ein Urteil bilden? … In dieser Hinsicht
war Schröders alerter Gegenvorschlag auch nicht besser.
Sprecherin:
Mitte Mai, 10
Tage vor der Wahl des neuen Bundespräsidenten veröffentlichte Jürgen Habermas
in der Wochenzeitung „Die Zeit“ Ein Plädoyer gegen die Küchenkungelei“ – so der
Untertitel seines Artikels. Habermas’ Kritik richtete sich nicht gegen den inzwischen
gewählten neuen Präsidenten Horst Köhler, sie galt auch nicht der unterlegenen
Gegenkandidatin Gesine Schwan, sondern den taktischen Manövern der Parteien zu
Lasten des höchsten Amtes im Staate. Habermas weiter:
Zitator:
Für
Wirtschaftsprognosen ist der Sachverständigenrat zuständig und für die
neoliberale Seelenmassage des Volkes haben wir die Talkshows mit Hans-Olaf Henkel.
Dass das Bundespräsidialamt der rechte Ort für eine Synthese aus beidem sein
könnte – auf diesen Gedanken kann nur der Manager einer Partei verfallen, die
sich längst zur Interessenvertretung des Wirtschaftsliberalismus zurückgebildet
hat.
Sprecher:
Bei aller
Polemik an der Oberfläche - hier vor allem gegen die FDP -, zielt Habermas mit
seiner Argumentation in die Tiefe, er will den herrschenden Geist des
Ökonomismus entlarven, der sich hinter dem Kandidatenkalkül verbirgt, so der Hannoveraner
Philosophieprofessor Detlef Horster:
O-Ton, Detlef Horster:
Er sagt in
diesem Beitrag zu der Bundespräsidentenwahl … nun haben die den Horst Köhler
nominiert … die haben sich überlegt, heute wird alles nur unter ökonomischem
Gesichtspunkt gesehen, und der Köhler ist ökonomisch gebildet und der muss und
soll Weichen stellen. Und da sagt Habermas, da liegt ein Kategorienfehler vor,
der ständig gemacht, der sich verkleidet in dem schönen Begriff der
Qualitätssicherung auf sozialem Bereich. Also im Bereich des Sozialen, Kindergärten,
Altenheime usw müsste man effektiv
arbeiten, das wird immer gemessen am Ökonomischen. Und man muss deutlich
machen, dass es sich da um einen Kategorienfehler handelt, dass es bestimmte
Bereiche der Gesellschaft gibt, die man nicht unter ökonomischen
Gesichtspunkten betrachten kann.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecherin:
Jürgen
Habermas wird 75 Jahre alt. Es wird viele Blumen geben, im wörtlichen wie im
übertragenen Sinne. Die Bundesrepublik – quer durch alle Parteien und Lager –
schmückt sich mit ihrem berühmtesten Denker. Der Frankfurter Philosoph und
Soziologe ist in der ganzen Welt bekannt und geachtet, seine Schriften sind in
alle wichtigen Sprachen übersetzt.
Sprecher:
Und doch war
und ist Habermas ein unbequemer Geist, ein Stachel im Fleisch der Macht. Habermas
hat sich nie im Elfenbeinturm eingerichtet, sondern immer wieder neben
Forschung und Lehre die Rolle des Zeitkritikers gesucht, des mündigen
Staatsbürgers im wortwörtlichen Sinne, der den Mund aufmacht zu politischen und
gesellschaftlichen Fragen.
O-Ton, Axel Honneth:
Er gehört
sicherlich unter seinen Zeitgenossen zu denjenigen, die am stärksten und am
kontinuierlichsten die Rolle des aktiven Bürgers wahrgenommen haben als
Intellektueller, ich glaube, es gibt kaum vergleichbare Figuren in der
Bundesrepublik noch, vielleicht könnte man Günter Grass nennen, der eine
ähnliche Bedeutung hat, ich denke, dass das Wort von Habermas, vielleicht weil
er es auch mit noch größerer Vorsicht verwendet, hat doch noch größeres
Gewicht. … Dass sich die Bundesrepublik egal welch politischer Couleur
inzwischen mit ihm schmückt, …. nehme
ich … mit einer gewissen Beruhigung wahr. Wenn die Bundesrepublik oder die
Regierung so stark ist, dass sie auch mit einem unbequemen Intellektuellen sich
zu schmücken wagt, ist das eher ein gutes Zeichen.
Sprecherin:
Axel Honneth
ist Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt, auf jenem Lehrstuhl,
den Habermas bis zu seiner Emeritierung 1994 innehatte. Darüber hinaus leitet
Honneth heute das Frankfurter Institut für Sozialforschung, wo früher
Horkheimer und Adorno lehrten und das ebenso mit dem Namen Habermas verknüpft
ist.
Sprecher:
Honneth
erinnert daran, dass Habermas der Bundesrepublik seit einem halben Jahrhundert
den Spiegel vorhält: Sein Engagement begann schon in den 50er Jahren, Stichwort
atomare Bewaffnung der Bundeswehr, setzte sich fort mit der Kritik an den Notstandsgesetzen
in den späten Sechzigern, an den Berufverboten in den 70ern, ging weiter mit
dem Historikerstreit in den 80ern, den Diskussionen um das Selbstverständnis
der neuen Berliner Republik und um die Nato-Einsätze in Ex-Jugoslawien in den
90ern. Und in der Gegenwart hat Habermas zum Irakkrieg, zum Terrorismus, aber
auch zur Frage der Gentechnologie Stellung bezogen.
Sprecherin:
Manche
Debatten hat Jürgen Habermas selber angestoßen, zum Beispiel den so genannten
Historikerstreit. Darin ging es um die Frage, wie sich die Bundesrepublik zum
Nationalsozialismus stellt, ob sie ihn wie manche konservative Historiker
vorschlugen, lediglich als einen weiteren Betriebsunfall in der Geschichte der
Völker relativiert und historisch ablegt oder aber ein Bewusstsein für die
Außerordentlichkeit der Katastrophe und der daraus folgenden Verantwortung wach
hält. In solchen Debatten demonstrierte Habermas, was unter deutschen Gelehrten
eher seltene Tugenden sind: Mut und politische Leidenschaft, so Rolf
Wiggershaus, Autor einer jüngst erschienenen Habermas-Biographie.
O-Ton, Rolf
Wiggershaus:
Es zeigt,
dass da jemand das praktiziert, was man nennen könnte einen radikalen
Liberalismus auf dem Gebiet des Meinungsstreits, nämlich selber durchaus bereit
zu sein zu Zuspitzungen, um auf diese Weise beizutragen, gewissermaßen zu einer
Reinigung der Atmosphäre, indem die Leute gegnerischer oder anderer Meinung
gezwungen werden, ihre Position klar zu vertreten, und dazu gehört eben auch,
sie begründen zu müssen … Erst dann kann sich entscheiden, welche Position die
überzeugendere ist. Und sich dem auszusetzen, das zu riskieren und in Gang zu
setzen, ist nicht jedermanns Sache, und dazu gehört teils Mut und teils auch
eine polische Emphase und politische Leidenschaft.
Sprecher:
Jürgen
Habermas hat sich seine zum Teil unpopulären zeitkritischen Einmischungen nicht
erst erlaubt, nachdem seine akademische Karriere fortgeschritten, nachdem er als
Ordinarius gut etabliert und sicher verbeamtet war.
Sprecherin:
Habermas studierte
noch, als er sich 1953 in der FAZ mit dem hellsten Gestirn der deutschen
Philosophie, mit Martin Heidegger anlegte. Heidegger dominierte mit seinem
bahnbrechenden Werk ‚Sein und Zeit’ nicht nur die Zwischenkriegszeit. Er blieb –
trotz seiner zeitweiligen Parteinnahme für die Nazis – auch die beherrschende
Gestalt in der deutschen Geisteslandschaft der fünfziger Jahre. Man verehrte
Heideggers Philosophie und verdrängte dessen politischen Irrtum. Auch der junge
Habermas war von Heideggers Denken fasziniert, hatte sich dessen existenzphilosophische
Begrifflichkeit angeeignet.
Sprecher:
Umso
erschrockener und empörter reagierte er, als er – durch seinen Freund
O-Ton, Jürgen Habermas
Dieser
Heidegger war damals die prägende philosophische Figur. Ich hatte ja keine
Ahnung. Das können Sie sich heute nicht vorstellen. Ich wusste nichts, buchstäblich
nichts, von der NS-Geschichte von Heidegger. Und dann las ich diese
"Einleitung in die Metaphysik" und lange bevor ich an den
berüchtigten Satz von der ‚inneren
Wahrheit und Größe der Bewegung’ kam, war ich irgendwie entsetzt von der
Rhetorik, dem Stil, der Wortwahl, der Begrifflichkeit... "Einleitung in
die Metaphysik" : das war Nazi, das sah man nach drei Seiten, ich war
entsetzt.
O-Ton, Axel
Honneth:
Dieser frühe
Artikel … ist tatsächlich die Geburtsstunde des Intellektuellen, nicht des
Philosophen. Der Philosoph war derjenige, der in Bonn in einem sehr
konservativen Klima studiert, die Geburtsstunde des Intellektuellen Habermas
ist die schriftliche Reaktion auf die von Heidegger nicht korrigierte und das
heißt auch nicht kommentierte Wiederveröffentlichung seiner Vorlesung aus der
Anfangszeit des Nationalsozialismus.
Und Habermas
war derjenige, der als sehr junger Mann – das muss man sich klarmachen – die
Stimme erhoben hat, um in einem damals sehr einflussreichen Organ wie der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung dagegen aufzubegehren mit einem schneidigen und
extrem mutigen Artikel.
Es ist
sicherlich ein Artikel, der ihm damals viele Feinde gemacht hat. Es zeugt von dem
Mut dieses Intellektuellen, insofern hat er eine der Tugenden, von denen man sagen
muss, dass sie den wahrhaften Intellektuellen auszeichnet: einen mutigen hemmungslosen
Umgang mit Wahrheiten.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecherin:
Jürgen
Habermas wurde 1929 in Düsseldorf geboren, er wuchs in Gummersbach in einem wohl
etablierten Elternhaus auf. Der Vater, nationalkonservativ eingestellt, war als
Syndikus bei Verbänden und für die oberbergische Industrie- und Handelskammer
tätig. Die Mutter hatte im Ersten
Weltkrieg als Krankenschwester im Lazarett gearbeitet.
Sprecher:
Jürgen Habermas
hatte es nicht leicht. Wegen seiner Gaumenspalte musste er sich vor allem auf
der Volksschule ständig Hänseleien gefallen lassen. Mit zehn Jahren kam er wie
damals üblich zu den Pimpfen, Hitlers Jungvolk; mit 15 wurde er im Herbst 1944
als Fronthelfer zum Westwall eingezogen. Und nur durch glücklichen Zufall
entging er den Feldjägern, die im Frühjahr 45 Hitlers letztes Aufgebot unter
Kindern und Greisen zwangsrekrutierten.
Sprecherin:
Zu all den
Nöten und Entbehrungen bei Kriegsende kam noch eine niederdrückende Entdeckung:
Man habe plötzlich gesehen, erklärte Habermas in einem späteren Interview, dass
das ein kriminelles System gewesen sei, in dem man gelebt hatte. Das habe er
sich nie vorgestellt.
O-Ton, Jürgen Habermas
Wenn
man 15, 16 war im Sommer 45 und die Filme sah, die kennen heute alle,
aber
für uns war das erstmalig, von diesen Leichenbergen. Da war so ein Bild, das war
ein Leichenberg, das war ein Berg mit Skeletten - und dann sah man, dass die
Menschen tatsächlich noch lebten. Das waren diese sich noch bewegenden Skelette.
Wenn Sie 15, 16 waren, das ist ganz egal, was Sie sonst im Kopf haben, und Sie sehen,
das war es, worin du gelebt hast: Alle meiner Generation mussten darauf
reagieren.
Sprecher:
Für Habermas
wurde es zu einer Frage, die an ihm nagte, die ihn umtrieb: Wie soll man auf
diese Katastrophe reagieren, auf ein System, das in zwölf Jahren Barbarei „die
Verbrechen von tausend Jahren“ angehäuft hatte wie Alfred Kantorowicz es
ausdrückte.
Sprecherin:
Im Sommer
`45 trommelte der 16jährige Habermas Freunde und Klassenkameraden zusammen.
Gemeinsam suchten sie ihre Lehrer auf und baten, dass der Unterricht wieder
aufgenommen würde.
Hier wird
ein weiterer Zug in seiner Persönlichkeit deutlich: der Wille sich geistig frei
zu schwimmen aus der provinziellen Enge, und eine große Wissbegier, ein Hunger
nach Bildung und Wissen, in einem Land, das auch kulturell verheert von den Kahlschlägen
der nationalsozialistischen Diktatur.
Sprecher:
Habermas
studierte in Göttingen, Zürich und Bonn Philosophie, Geschichte, Psychologie,
Literatur und Ökonomie. Doch die alte, in ihren Traditionen stecken gebliebene Ordinarienuniversität,
wie er sie kennen lernte, konnte ihn bei aller Begeisterung für Philosophie
nicht wirklich zufrieden stellen.
O-Ton, Rolf Wiggershaus:
Was man
beobachten kann ist die Emanzipation von jemandem aus sowohl konservativem
Elternhaus, wie aus einer Prägung durch konservative Universitäten, und diese
Emanzipation erfolgte gewissermaßen auf eigene Faust, man kann es eigentlich nicht
mit bestimmten Personen verbinden, sondern es ergab sich eher durch Lektüre,
und zwar eine breite, vielgestaltige Lektüre, wo viel zusammen kam, auf der
einen Seite das was durch den Vater in den Haushalt kam, der Syndikus einer
Industrie- und Handelskammer war, auf der anderen Seite, das was seitens der
Besatzer zugänglich wurde, dazu gehörte zum Beispiel auch
marxistisch-leninistische Literatur.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecherin:
Nach der
Promotion arbeitete Jürgen Habermas als freier Journalist, es gab in dieser
Zeit wenig Chancen für den akademischen
Nachwuchs. Vielleicht suchte er aber auch zunächst Abstand zur Universität. Habermas
schrieb unter anderem für das Feuilleton des Handelsblattes, gleichzeitig veröffentlichte
er philosophische Aufsätze im Merkur und anderen Zeitschriften.
Sprecher:
Der junge Autor,
der schon im Vorjahr mit seiner Heidegger-Kritik aufgefallen war, weckte Interesse
auf allen Seiten. Rechtskonservative Soziologen wie Gehlen und Schelsky suchten
ebenso Kontakt zu dem viel versprechenden Nachwuchswissenschaftler wie der
liberalkonservative Hans-Georg Gadamer oder linksgerichtete Kreise der
Frankfurter Schule. Doch Habermas ging nach kurzen Briefwechseln mit Theodor W. Adorno, wie er selber schrieb, ‚mit
fliegenden Fahnen’ nach Frankfurt und wurde 1956 Adornos soziologischer
Assistent.
Zitator:
Das war
wirklich eine schattenlose Beziehung. Normalerweise gibt es ja Konflikte, aber
er war ja so viel älter, ich war so viel jünger. Ich habe ihn auch immer
verehrt, geliebt, kann man wohl sagen, ohne von ihm abhängig zu sein. Ich hatte
ja nie bei ihm studiert. Für die anderen hatte ich nie den richtigen
Stallgeruch. Aber für das Verhältnis von Adorno zu mir und umgekehrt war das
wirklich ein Glück.
O-Ton, Rolf Wiggershaus:
Das
Verhältnis zu Adorno war wohl in mehrfacher Hinsicht ein glückliches. … Und so bestand
das Problem wahrscheinlich eher darin, dass das Sagen im Institut, wo Habermas
Forschungsassistent wurde, immer noch
Max
Horkheimer hatte: Der zwar eine beeindruckende Vergangenheit hat, und auch in
der bundesrepublikanischen Zeit schon eine beeindruckende Rolle spielte, aber
nun doch die Rolle von jemandem einnahm, der sehr ängstlich bedacht war auf die
gesellschaftliche Anerkennung des Instituts für Sozialforschung. Und alles was
die Reputation dieses Instituts in bürgerlichen Kreisen in Frage gestellt
hätte, sehr fürchtete.
Sprecherin:
Der späte Horkheimer
trieb seine Anpassung bis zur Selbstverleugnung. Rolf Wiggershaus, Autor einer umfassenden
Studie, einem Standardwerk über die Geschichte der Frankfurter Schule berichtet,
dass Horkheimer die Wiederveröffentlichung seiner eigenen Schriften aus den
30er Jahren hintertrieb und ebenso die Neuausgabe
des gemeinsamen Werkes mit Adorno „Dialektik der Aufklärung’ zu verhindern
trachtete.
Sprecher:
Habermas’
Radikalität war Horkheimer ein Dorn im Auge. Zumal Habermas aus seiner Nähe zum
Marxismus keinen Hehl machte, auch wenn er zeitlebens mit der Marx-Orthodoxie theoretisch
ebenso wenig zu tun hatte wie praktisch mit dem Parteikommunismus. Aber allein
die Beschäftigung mit Marx bildete für die fünfziger Jahre in Deutschland ein
Skandalon. Habermas erzählt, wie sehr er erschrak, als ihn sein Freund
O-Ton, Jürgen Habermas:
Sie
haben keine Ahnung, was die 50er Jahre waren. Die 50er Jahre, wo die Plakate
von Adenauer hingen gegen die SPD: „Alle Wege führen nach Moskau," da
konnte man öffentlich den Namen Marx nicht erwähnen.
Sprecherin:
Horkheimer spielte
seine institutsinterne Macht gegenüber Habermas aus und erzwang, dass dessen
Habilitationsschrift ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit’ in Frankfurt abgelehnt
wurde, ohne dass Adorno, ohnehin hilflos in Machtdingen, dies verhindern
konnte. Nur über einen Umweg, der Habermas nach Marburg zu dem marxistischen
Staatsrechtler Wolfgang Abendroth führte, konnte er seine akademische Laufbahn
fortsetzen.
Sprecher:
Wenn also
später, teilweise heute noch behauptet wird, mit der Person Jürgen Habermas und
seinem Einfluß hätte die Kritische Theorie ihre radikale Spitze eingebüßt, so war
- zumindest in dieser Zeit - genau das Gegenteil richtig. Nicht Habermas,
sondern Horkheimer wich aus, wo es um eine offene gesellschaftskritische
Analyse ging.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecherin:
Ein anderer
Konfliktpunkt im Institut bildete Habermas Hinwendung zu den Studenten. Sie
begann nicht erst im Zuge der Studentenbewegung. Schon in den fünfziger Jahren führte
Habermas gemeinsam mit Ludwig von Friedeburg eine empirische Studie über das
Verhältnis der Studenten zur Politik durch. Untersucht wurde, wie es um die
demokratischen Potentiale im akademischen Nachwuchs bestellt sei. Das Resultat war
ernüchternd, ergab sich doch das Bild einer unpolitischen überangepassten Jugend.
Das pessimistische Untersuchungsergebnis missfiel Horkheimer, so dass er eine Veröffentlichung
der Studie im Rahmen der Institutspublikationen ablehnte.
Sprecher:
Habermas arbeitete
in der Folge mit an Konzepten einer längst überfälligen Hochschulreform, er forderte
Demokratisierungsprozesse auf gesellschaftlicher wie auf universitärer Ebene.
Inzwischen war er selber Ordinarius geworden.
Nach einer Zwischenstation in
Heidelberg kehrte er 1964 nach Frankfurt
zurück und übernahm – Ironie der Geschichte - den Lehrstuhl des verstorbenen Max
Horkheimer.
Sprecherin:
Unter den
Studenten rumorte es Mitte der 60er Jahre zunehmend. Nicht mehr die angepassten
unter ihnen prägten das Bild. International formte sich eine Protestbewegung
gegen den Krieg der USA in Vietnam. Deutschland steckte nach dem Ende der
Adenauer-Ära in einem Umbruch, politisch, ökonomisch und sozial. Insbesondere die
geplante Verabschiedung der Notstandsgesetze sorgte für Zündstoff. Eine
Außerparlamentarische Opposition formierte sich, nachdem der Großen Koalition
aus CDU und SPD innerhalb des Parlaments keine wirksame Opposition mehr gegenüberstand.
Sprecher:
Im Sommer
1967 eskalierte die Situation. Nach einer Anti-Schah-Demonstration, bei der die
Berliner Polizei äußerst brutal vorging, wurde der Student Benno Ohnesorg von
einem Polizisten in Zivil von hinten erschossen.
Eine Woche
darauf kam es in Hannover zum ersten überregionalen Treffen der universitären
Linken. Und hier trafen Rudi Dutschke, charismatischer Wortführer der Studentenbewegung,
und Jürgen Habermas, der in kritischer Solidarität an der Seite der Studenten
stand, in der Diskussion aufeinander. Dutschke rief zur Bildung weiterer
Aktionszentren an allen bundesdeutschen Hochschulen auf, mit der Parole: ‚Keine
Aufklärung ohne Aktion’. Habermas jedoch argwöhnte einen Aktionismus, der aus
dem Ruder laufen könnte.
O-Ton, Rolf Wiggershaus:
In der
Situation in der Kongresshalle Hannover damals, nach der Beisetzung von Benno
Ohnesorg, trafen zwei Positionen aufeinander, bei denen man sich bei dem
Stichwort ‚direkte Aktion’ etwas sehr verschiedenen vorstellte, auch bei
Dutschke war es dann wirklich eine symbolische Regelverletzung, die sich
beispielsweise bei ihm schon früh gezeigt hatte, wenn er nach dem Bau der Mauer
mit anderen versuchte, ein Stück der Mauer einzureißen, also ganz deutlich eine
symbolische Aktion, die - ‚Gewalt gegen
Sachen zu nennen’ - einem eigentlich absurd vorkommen würde in diesem Fall,
während auf der anderen Seite direkte Aktionen für jemanden wie Habermas mit
seinen ganzen Kenntnissen, etwas war, wo er dann an rechtsradikale Strömungen
in Frankreich und in einer südeuropäischen Tradition gedacht hat, Aktion
directe und solche Geschichten.
Sprecherin:
Habermas’
Rede in Hannover enthielt zwei Teile, einen an die Öffentlichkeit im Lande
gerichtet, wo er sich mit den grundsätzlichen Motiven der Protestbewegung
solidarisierte, einen zweiten, adressiert an die Studenten, wo er aufforderte
sich den Sinn von Demonstrationen vor Augen zu halten, er sagte wörtlich:
Zitator:
„Durch
Demonstrationen erzwingen wir Aufmerksamkeit für unsere Argumente, die wir für
die besseren halten.“
Sprecher:
Habermas
insistierte auf einem gewaltlosen Widerstand, der nicht blind agiert, sondern
der in die Diskussion zurückführt, bzw.
einen demokratischen Willensbildungsprozeß in der Gesellschaft überhaupt erst
in Gang setzt.
Habermas
fürchtete jedoch, dass Aufrufe zur direkten Aktion selber in Gewalt abgleiten
und im Gegenzug polizeiliche Gegengewalt provozieren könnten. In diesem
Zusammenhang fiel sein Wort von einem Linksfaschismus, ein Begriff, der von den
Gegnern der Studentenbewegung in der Presse nur zu bereitwillig aufgegriffen
wurde.
Rolf
Wiggershaus relativiert Habermas’ Äußerung im Verweis auf das damalige Klima.
O-Ton, Rolf Wiggershaus:
In der
damaligen Situation muss man auch bedenken, was sich abgespielt hat in Berlin,
dass das Ganze spielte vor dem Hintergrund einer Situation, in der die
Reaktionen auf die studentischen Proteste sehr intolerant waren. Die also Hohn
und Spott ernteten, die Polizei recht brutal vorgegangen war, auch die
Metaphern waren entsprechend, so dass es damals in der Luft lag, dauernd von
Faschismus zu sprechen. In der Freien Universität gab es direkt eine
Veranstaltung, wo überlegt wurde, bricht in Deutschland der Faschismus aus,
d.h. dieser Ausdruck Linksfaschismus wurde geprägt in einer Situation, wo jetzt
überall von Faschismus gesprochen wurde, und man Angst hatte, kommt jetzt die
faschistische Vergangenheit Deutschlands in solchen Polizeiaktionen und in dem
Aufeinanderprallen von Lagern wieder an die Oberfläche.
Sprecherin:
Unzählige Bilder
und Dokumente von verschiedenen Veranstaltungen zeigen Habermas und Vertreter
der Protestbewegung. Sie belegen, dass das Gespräch zwischen Habermas und den
68ern auch nach dieser
Auseinandersetzung und dem Wort vom Linksfaschismus keineswegs abriss, sondern
von beiden Seiten immer wieder gesucht wurde. Der Biograph Rolf Wiggershaus
nennt es eine ‚Weggenossenschaft der studentischen Protestbewegung und des
akademischen Linksintellektuellen’.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecher:
1971
entschloß sich Habermas zum Weggang aus Frankfurt. Er wurde neben Carl
Friedrich von Weizsäcker Direktor des neu gegründeten ‚Max-Planck Instituts zur
Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt’ in
Starnberg.
Habermas konzentrierte
seine Arbeit an der Leitfrage, ob und wie man eine kritische
Gesellschaftstheorie auf eine normative Grundlage stellen könnte. Denn hier sah
er die Ältere Frankfurter Schule in einer Sackgasse.
Sprecherin:
Horkheimer
und Adorno hatten in ihrer Schrift Dialektik der Aufklärung, die sie 1945 noch unter
dem Schock des nationalsozialistischen Terrors und dem Trauma von Auschwitz verfaßt hatten, die These vertreten, dass die Barbarei
nicht historisch zufällig über Aufklärung und Humanität triumphiert hätte.
Vielmehr sei im Konzept der abendländischen Vernunft seit den Anfängen ein
Gewaltmoment enthalten, ein Wille zur Macht so Nietzsche. In der Vernunft wirke
nämlich eine fataler Wille zum System, ein Zwang zur Vereinheitlichung, der das
Einzelne in seiner Besonderheit verletze.
Sprecher:
Die Logik
der Vernunft übe Gewalt gegenüber der Andersheit des Anderen aus, sei es die
äußere Natur, sei es die innere Natur, der Körper, sei es der Mitmensch.
Vernunft, kritisierte
der frühe Horkheimer, habe sich nur als instrumentelle Vernunft verwirklicht,
als Mittel zur Bemächtigung der Natur und Beherrschung der Menschen.
Und Adorno
schrieb: ‚Das Ganze ist das Unwahre’. Die gesellschaftliche Totalität erschien
ihm als ein völlig hermetisches System, als eine verwaltete Welt, in der keine
Alternative mehr möglich sei, nur noch das ohnmächtige Denken des Einzelnen und
die Sensibilität der Kunst.
Sprecherin:
Habermas war hingegen der Ansicht, dass die instrumentelle Rationalität
nur einen Teil der Vernunft darstelle, nicht das Ganze, und dass der andere
Teil, eine moralische Rationalität sich sehr wohl in der Moderne vorfinde und
systematisch ausweisen lasse. Und zwar
über eine Reflexion von Sprache und Kommunikation. Detlef Horster:
O-Ton, Detlef Horster:
Der Punkt,
den Habermas gesehen hat, ist der, dass weder bei Adorno, noch bei Heidegger,
die Moral eine Rolle gespielt hat, er hat gesehen, dass sich die Moral positiv
entwickelt, dass die Vernunft nicht nur den einen Teil hat, nämlich den Teil
der kognitiven Vernunft, sondern eben den Teil der praktischen Vernunft, er
nennt das Vernunftmomente, die drei Vernunftmomente, die bei Kant vorzufinden
sind. … Und warum jetzt Sprache? Er sagt, in der Sprache sind die drei
Vernunftmomente konserviert, liegen sie vor, und wir haben die Aufgabe, das
Vernunftmoment der praktischen Vernunft, das moralische, zu entwickeln.
Und die
Frage stellt sich für Habermas, wie sieht es denn in der Gesellschaft aus? Gibt
es denn überhaupt Kristallisationspunkte
für eine Veränderung zu einer gerechten Gesellschaft hin?
Sprecher:
Wenn wir
eine sprachliche Äußerung tun, erklärt Habermas im Anschluß an die
Sprechakttheorie von Austin und Searle, so ist dies nicht nur ein Satz über Dinge
und Sachverhalte, sondern auf einer anderen Ebene zugleich eine Interaktion,
wir treten mit dem Gesprächspartner in eine bestimmte Beziehung. Sprechen
stellt auch ein zwischenmenschliches Handeln dar. Besonders sinnfällig wird
dieser Aspekt in bestimmten sprachlichen Akten, etwa wenn man dem anderen ein
Versprechen gibt, wenn man eine Bitte äußert oder eine Kritik anbringt.
Sprecherin:
In jedem
Fall erheben wir in unserer Alltagskommunikation, ohne dies eigens zu bedenken,
verschiedene Geltungsansprüche: Erstens das unsere Rede verständlich ist,
zweitens dass unsere Behauptungen wahr seien, drittens dass wir wahrhaftig
reden, viertens dass unser Kommunikationsverhalten richtig und angemessen sei.
Sprecher:
Der Clou
der Habermasschen und in verwandter Form von
Sprecherin:
Für die Diskurstheorie,
wie Habermas und Apel sie vertreten, ist die Wahrheit einer Erkenntnis oder die
moralische Richtigkeit einer Norm keine objektive Kategorie mehr, vielmehr sind beide rückgebunden an eine
intersubjektive Verständigung. Wahr ist eine Erkenntnis dann, wenn sie allen
Einwänden einer intersubjektiven Prüfung standhält. Moralisch richtig ist,
wovon sich in einer intersubjektiven Diskussion jeder überzeugen lässt. Und
zwar aus freien Stücken oder wie Habermas sagt: „Durch den zwanglosen Zwang des
besseren Arguments“.
Sprecher:
Zu einer
von Habermas so bestimmten ‚kommunikativen Vernunft’, die gleichsam in die
Sprache eingelassen ist, gehört also die Idee einer herrschaftsfreien
Kommunikation schon hinzu, d.h. weitergedacht eine Gesellschaft, die dem
Einzelnen faire und gleiche Partizipationschancen einräumt. Vom Ideal einer herrschaftsfreien
Kommunikation aus lässt sich auch eine Gesellschaft kritisieren, deren reale
Machtverhältnisse ständig Kommunikation verzerren.
Sprecherin:
Denn auch
in der verzerrten Kommunikation sei die Idee einer unverzerrten noch wirksam – kontrafaktisch
wie Habermas sagt. So wie die Möglichkeit der Lüge davon lebt, dass wir
normalerweise wahrhaftig sind. Würde jeder permanent unterstellen, dass gelogen
wird, würde die Lüge gar nicht mehr funktionieren. Dann gäbe es in der
Konsequenz allerdings auch keine soziale Beziehung mehr.
Sprecher:
Habermas
hatte sich eingehend mit der Linguistik, der Hermeneutik und der sprachanalytischen
Philosophie auseinandergesetzt. Seine Aufarbeitungen münden in das Hauptwerk ‚Theorie
des Kommunikativen Handelns’, erschienen im Jahr 1981. Hier versuchte Habermas einerseits
sich durch eine normative Grundlegung von der Älteren Theorie abzusetzen, andrerseits
auf diese Weise ihre Gesellschaftstheorie in kritischer Absicht weiterzuführen.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecherin:
Habermas
Konzept ist verankert in der Idee des herrschaftsfreien Diskurses, der idealen
Sprechsituation. Wie soll man sich das vorstellen?
Sprecher:
Sidney Lumet hat 1957 in seinem Hollywood-Film ‚Die zwölf
Geschworenen’ Habermas’ Konzept gleichsam in Szene gesetzt:
Ein Mann
wurde vor Gericht des Vatermordes angeklagt. Die Beweise gegen ihn scheinen
erdrückend, auch wenn er weiterhin seine Unschuld beteuert. Die Geschworenen
haben sich zur Beratung ins Hinterzimmer zurückgezogen. Ein einstimmiges Votum
ist zur Verurteilung nötig. Elf Geschworene entscheiden auf ‚Schuldig’, nur ein
Geschworener hat wider Erwarten ‚Nichtschuldig’ auf seinen Zettel geschrieben.
Er ist nicht überzeugt und weigert sich, im Zweifelsfall gegen einen Menschen
zu entscheiden, wenn dessen Leben auf dem Spiel steht. Deshalb verlangt er,
dass die Gerichtsverhandlung wieder aufgenommen wird. Die anderen versuchen den
lästigen Abweichler zur Räson zu bringen. Eine hitzige Diskussion entbrennt, in
deren Verlauf Gründe und Gegengründe aufeinanderprallen, Vorwände und
unhaltbare Motive zerplatzen, bis schließlich alle Geschworene sich von der
Haltung des zwölften überzeugen lassen.
Sprecherin:
Hier kommt also
Habermas’ Diskursideal zum Tragen. In strittigen Fragen der Wahrheit oder der
Moral dürfen ausschließlich Argumente entscheiden, nichts anderes, deshalb muss
der Raum der Diskussion selber herrschaftsfrei sein.
Hier verlängert
sich Habermas’ Diskurstheorie in eine Diskursethik, wie sie andere zum Beispiel
der Berliner Philosophieprofessor Dietrich Böhler aufgegriffen und
weitergedacht haben: In besonders relevanten Fragen, die die Zukunft der
Menschheit berühren, müssen die gegenwärtig Streitenden auch an die späteren
Betroffenen denken, und deren mögliche Einwände antizipierend einbeziehen.
Konkret: Was sagen kommende Generationen zu unserem Umgang mit Atomkraft oder Gentechnologie?
Sprecher:
Man hat gegen
Habermas eingewendet, dass sein Entwurf Sprache und Kommunikation idealisiert.
Sein größter Kontrahent seit den siebziger Jahren in den Fragen der
Gesellschaftstheorie war der verstorbene Soziologe Niklas Luhmann. Luhmann
verwies in seiner Systemtheorie darauf, dass gesellschaftliche Bereiche ihre
eigenen Regeln hervorbringen und sich nicht von außen universalen Normen unterordnen
lassen. Detlef Horster, Philosophieprofessor in Hannover, kennt beide
Theoretiker persönlich und hat auch Einführungen in beider Werk verfasst.
Horster wählt ein anderes Beispiel aus der Gerichtssphäre, um die Position
Luhmanns zu verdeutlichen.
O-Ton, Detlef Horster:
Im Recht ..
ist das so, dass man sagt, es gibt nur Recht und Unrecht, tertium non datur –
Es gibt nichts Drittes.
Und wenn man
sich ansieht wie Recht gesprochen wird, dann würde Habermas in seinem
Rechtsbuch sagen: ‚Es ist so, dass wir dort einen Richter haben, der den
breiten Diskurs suchen muss über den Fall, den er gerade verhandelt’.
Da sagt
Luhmann: ‚Das ist überhaupt nicht praktikabel. Wie Recht gesprochen wird, sieht
ganz anders aus.’ Und da zeigt sich an dieser Stelle auch, dass Luhmann Jurist
ist und selber auch als Jurist gearbeitet hat, er weiß wovon spricht, das ist
bei Habermas nicht der Fall.
Und er sagt
dann, da treffen sich der Staatsanwalt, der Angeklagte, der Verteidiger und der
Richter auf dem Flur, der Richter unterbricht die Verhandlung und sagt: ‚Jetzt
wollen wir uns einmal vernünftig unterhalten.’ Und dieses Vernünftig-Unterhalten
bedeutet dann. ‚Wir müssen heute unbedingt zu einer Entscheidung kommen’, sagt
der Richter: ‚So: Sie schlagen vor drei Monate, Sie schlagen vor fünf Monate,
treffen wir uns in der Mitte: vier Monate. Sind Sie beide einverstanden?’ Dann
wird die Verhandlung wieder aufgenommen und dann wird Recht gesprochen.
Musikalisches
Intermezzo
Sprecherin:
Luhmann vertritt
eine deskriptive Soziologie, die pragmatisch erfasst, wie Gesellschaft und ihre
Subsysteme funktionieren. Habermas verficht eine stärker normative Soziologie.
Er hält mit der Idee der herrschaftsfreien Kommunikation in letzter Instanz an
der Vorstellung einer gerechten Gesellschaft fest, um sie als Kritikmaßstab in
seine Analysen einzubinden.
Sprecher:
Freilich
sieht auch Habermas neben der Kraft der Kommunikation, die Zwänge der
materiellen Reproduktion. Aber vermag er beides überzeugend miteinander zu
vermitteln? Ist der öffentliche Diskurs tatsächlich offen genug, um die
Erfahrungen aller gesellschaftlichen Gruppen aufzunehmen? Wenn man an die Macht
der Verbände, die Lobby der Industrie, die Eigengesetze der Medienwirklichkeit
denkt? Wer kann sich überhaupt Gehör verschaffen, und wer nicht?
Sprecherin:
„Denn die
einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht. Und man sieht die im
Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“ – Bertolt Brechts Wort gilt immer noch.
Was würde Habermas erwidern?
O-Ton, Axel Honneth:
Ich nehme
an, dass seine Idee die sein müßte, dass öffentliche Diskurse, die nicht dazu
in der Lage sind, die Sichtweisen bestimmter sozialer Gruppen ob es Arbeiter
sind, ob es Frauen sind, ob es ethnische Minderheiten gewissermaßen angemessen
zu repräsentieren, angemessen zur Artikulation zu verhelfen, im Grunde genommen
eingeschränkte, repressiv organisierte Diskurse sind, … und dass wir
dementsprechend die unendliche Aufgabe haben den öffentlichen Diskurs so zu
etablieren, und damit auch die Pflicht haben dafür Sorge zu tragen als
Staatsbürger oder Staatsbürgerinnen, den öffentlichen Diskurs so offen zu
halten und so repressionsfrei zu halten, dass die unterschiedlichsten
Sichtweisen dort eine Chance der angemessenen authentischen Artikulation
finden.
Sprecherin:
Adorno war
skeptischer als Habermas in Bezug auf
Kommunikation und öffentlichen Diskurs. Die Sprache als
Kommunikationsmedium schien ihm schon selber ein verwaltetes Medium, das
authentischen Ausdruck nicht mehr zulasse. Auch gegenüber dem erzielten Konsens
in politischen Fragen hatte er starke Vorbehalte. Handelt es sich um einen
wirklichen Konsens oder um eine – wie Adorno pointierte – erpresste Versöhnung.
Sprecher:
In dieser
Hinsicht steht der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard Adorno näher,
als Habermas es tut. Lyotard wittert wie Adorno in einem Diskurs, der vom
zwanglosen Zwang des besseren Arguments spricht und sich an der Idee des zu
erreichenden Konsenses orientiert, eine repressive Falle, die immer auf Kosten eines
der Beteiligten geht. In Lyotards späten Hauptwerk „Der Widerstreit“ findet
sich ein konkretes Beispiel, wiederum aus dem Rechtsbereich:
Sprecherin:
Wenn ein
Arbeiter vor Gericht gegen bestimmte Arbeitsbedingungen klagt, so kann dieser
Konflikt im Rahmen des Arbeitsrechtes verhandelt und entschieden werden, insofern
wäre es ein Rechtsfall. Würde aber derselbe Arbeiter gegen die Herabsetzung
seiner Arbeitskraft zur Ware und seine Ausbeutung protestieren, so entstünde
ein Widerstreit. Denn das Problem der kapitalistischen Gleichsetzung von
menschlicher Arbeitskraft und Ware, wie es der marxistische Diskurs feststellt,
taucht in dem Diskurs des bürgerlichen Sozial- und Wirtschaftsrechtes gar nicht
auf.
Sprecher:
Lyotard
zieht daraus die Konsequenz, dass es verschiedene miteinander unvereinbare Diskurse
gibt. Wollte man sie wie Habermas unter ein gemeinsames Dach bringen, so liefe
dies unweigerlich auf eine Ungerechtigkeit gegenüber einem Diskurs hinaus.
Nicht immer
sind Diskurse so inkompatibel wie Marxismus und bürgerliches
Wirtschaftsrecht. Lyotard bestreitet jedoch grundsätzlich, dass es eine
universelle kommunikative Vernunft gibt, wie Jürgen Habermas sie rekonstruiert.
Lyotard plädiert für eine Vielheit ohne Einheit, für eine Vernunft sozusagen im
Plural. Habermas hingegen ist überzeugt, dass die Vielfalt der Stimmen und
Meinungen friedlich zu einer Einheit, zu einem Konsens finden kann.
Sprecherin:
Aber auch
für Habermas stellt die kommunikative Vernunft keine über allem thronende
Gerichtsinstanz dar, keine objektive Instanz, sondern ein prozessuales Prinzip.
Vernunft herrscht nicht, sondern sie stellt sich selber allererst her in einem
demokratischen Prozeß der Meinungs- und Willensbildung, ja sie ist dieser
Prozeß selbst. In dieser Weise versucht Habermas Vernunft und Demokratie philosophisch zusammenzuführen.
Sprecher:
In seinem
frühen Hauptwerk Strukturwandel der Öffentlichkeit hatte Habermas untersucht, welchen Erosionen
bürgerliche Öffentlichkeit ausgesetzt ist. In dieser Hinsicht hat die
Geschichte heute, gerade im Hinblick auf die Medienindustrie, neuartige Formen
von Missbrauch, Manipulation und Verzerrung Wirklichkeit werden lassen. Axel
Honneth:
O-Ton, Axel Honneth:
Die enorme Macht
der sich immer weiter ausweitenden kulturellen Institutionen, der
Kulturindustrie wie Adorno und Horkheimer es genannt hätten, sind so starke
Einschränkungen der Willensbildung in der demokratischen Öffentlichkeit, dass
man zum Pessimisten werden kann. Da kommen ganz neue Probleme hinzu, die
neuesten Entwicklungen in Italien etwa, die auf eine private Verfügung über
riesige kulturelle Macht hinauslaufen, durch den Regierungschef, ein nur in den
kühnsten Träumen, also Alpträumen von Horkheimer und Adorno anvisierten
Negativutopie, wie wir sie in Italien im Augenblick haben, die wachsende – und
das ist noch einmal ein anderes Problem – Verfügung über enorme materielle
Ressourcen, wie sie eine Rolle spielen in der US-amerikanischen Demokratie, wo
man eine Chance dazu gewählt zu werden gar nicht hat, wenn man nicht Millionär
ist, das sind ganz neue Herausforderungen.
Musikalisches Intermezzo
Sprecher:
Im Grunde
müsste Habermas’ Buch über den Strukturwandel der Öffentlichkeit heute eine
Fortsetzung finden, um die zeitgenössischen, am Beginn des 21. Jahrhunderts
sich abzeichnenden Gefährdungen der demokratischen Öffentlichkeit angemessen zu
charakterisieren, angefangen vom Einfluß des Fernsehens bis hin zum Machtpotential
einer privaten Verfügung über kulturindustrielle Einrichtungen.
Sprecherin:
Jürgen
Habermas selber ist einen anderen Weg gegangen. Er unternahm Ausarbeitungen und
Verfeinerungen seiner Theorie des Kommunikativen Handelns, einerseits in
Richtung einer Diskursethik, andrerseits in Richtung einer Einbeziehung von Recht
und Politik in dem Buch ‚Faktizität und Geltung’.
Hier
kommt zugleich eine weitere Korrektur gegenüber der Älteren Frankfurter Schule
zum Tragen, eine theoretische Hochschätzung von Rechtsstaat und Demokratie.
O-Ton, Rolf Wiggershaus:
Der
Rechtsstaat ist vor allem auch wichtig, um eine Situation zu gewährleisten, in
der auf eine humane Weise gestritten werden kann und Auseinandersetzungen
möglich sind. Über die verschiedenen möglichen Entwicklungsperspektiven. …
Und das was
mich immer besonders beeindruckt hat bei seinen Formulierungen, wie er sich
selber sieht, das ist eben dieses Selbstverständnis: was wünschenswert ist, das
sind humane Formen der Austragung von Konflikten, also schlichter ausgedrückt:
eine Streitkultur und wenn man das ernst nimmt, und sich das konkreter ausmalt,
dann ist eben klar, wie wichtig Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind, und
dass das für ihn eine viel größere Rolle spielen musste als für die frühen
kritischen Theoretiker, die in Kategorien von Gesellschaft dachten, wie
Kapitalismus und Sozialismus – und das war in der Zeit aber auch nicht absurd,
heute würde einem das nicht mehr viel sagen.
Sprecher:
Habermas
lehrt nicht nur eine Theorie des kommunikativen Handelns, in der Vernunft und
demokratischer Prozess zusammengehören, er praktiziert diese Verbindung auch.
Insofern sind seine politischen Stellungnahmen und intellektuellen
Einmischungen nicht Akte, die er neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit aus
staatsbürgerlicher Verantwortung heraus sozusagen zusätzlich ausführt, sie
entsprechen vielmehr seinem Ansatz. Dass Habermas sich öffentlich äußert, lässt
sich aus seiner Theorie ableiten, nicht jedoch was er äußert. Hier liegt das ganze
Wagnis der Öffentlichkeit, von dem die geistverwandte Hannah Arendt sprach.
Sprecherin:
Sokrates
ging auf den Markt, um den Menschen ihre vermeintlichen Wahrheiten zu nehmen
und als bloße Meinung zu entlarven. Die Kategorie der Meinung kam dabei
allerdings schlecht weg. Hannah Arendt hat die Kategorie der Meinung, die so
schlecht angesehen war in der Philosophie, in Bezug auf Politik und Geschichte
rehabilitiert, weil es hier keine letzten Wahrheiten gibt. Freilich dachte sie dabei nicht an Stammtisch-Reden,
sondern an ein Meinen, wofür man Urteilskraft und Argumente, Klugheit und auch
Wissen braucht - vor allem aber den Willen, im Streit der Ansichten und
Einschätzungen gemeinsam voranzukommen zum Nutzen des Gemeinwesens.
Auch
Habermas beharrt auf dieser Differenzierung zwischen theoretischer Arbeit und
politischer Stellungnahme.
O-Ton, Jürgen Habermas:
Die
Theorie ist komplexer geworden und nach 68 habe ich schärfer versucht, die
Rollen
des Wissenschaftlers und des engagierten Staatsbürgers etwas schärfer zu
trennen. Seit 68 versuche ich in der Tat diese beiden Dinge auch erkennbar –
nicht auseinanderzuhalten, sondern zu differenzieren …Das heißt ja nicht, dass
meine Theorie nicht einen politischen Gehalt hat, das sieht ja sowieso jeder.
Sprecher:
Habermas
hat dabei seine Theorie des kommunikativen Handelns und der diskursiven
Prüfung nicht nur formuliert und
begründet, er hat sie vielmehr auf sich selber angewendet. So ist er mit den
Kritikern seiner Bücher in einen Diskurs getreten, und hat sich mit ihren Einwänden
auseinandergesetzt: Erkenntnis nicht als einsames Geschäft, sondern als
intersubjektiver Forschungs- und Diskussionsprozeß.
O-Ton, Detlef Horster:
Es gibt
diesen Band, der sich auf die Theorie des Kommunikativen Handelns bezieht, es
gibt auch andere Bände bei ‚Erkenntnis und Interesse’, da gibt es immer wieder
Zusatzbücher, wo die Kritiker zu Wort kommen und wo Habermas dann antwortet und
zum Teil dann sagt: ‚Ja, das ist eine Perspektive, aus der habe ich das bisher
noch nicht betrachtet, und dann sieht die Sache auch anders aus`. Oder er verteidigt natürlich seine ursprüngliche
Argumentation gegen die Kritiker. Und das, muss man sagen, ist etwas was
Habermas auch auszeichnet. Und mit dieser Qualität setzt er sich auch ab gegen
viele Fachkollegen, sei es in der Philosophie oder Soziologie, das er sich dem
stellt, … Ich könnte niemanden nennen, der sich wie Habermas der Kritik in
dieser Weise stellt, dafür offen ist und mit den Kritikern in einen offenen
Diskurs eintritt, das ist etwas was ein sehr positives Kennzeichen für Habermas
ist und da muss man ihn einfach als Fünf-Sterne-Wissenschaftler auszeichnen.
Sprecherin:
Im Oktober
2001 erhielt Jürgen Habermas den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Für
seine Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche hatte er ein brisantes Thema
vorbereitet – die Gentechnologie. Doch dann geschahen die Attentate des 11.
September. Habermas musste reagieren und tat es auch:
O-Ton, Jürgen Habermas:
Wenn
uns die bedrückende Aktualität des Tages die Wahl des Themas aus der Hand
reißt, ist die Versuchung groß, mit den John Waynes unter uns Intellektuellen
um den schnellsten Schuß aus der Hüfte zu konkurrieren.
Sprecherin:
Nach dieser Vorbemerkung, die im Gewand des Witzes Besonnenheit
anmahnt, ruft er zur Verständigung auf, zum friedlichen Diskurs der Kulturen,
natürlich nicht nur an die Adresse der Intellektuellen gerichtet, sondern auch an die der politischen
Entscheidungsträger.
O-Ton, Jürgen Habermas:
Verhärtete
Orthodoxien gibt es im Westen ebenso wie im Nahen und im Fernen Osten, unter
Christen und Juden ebenso wie unter Moslems. Wer einen Krieg der Kulturen
vermeiden will, muss sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, unseres
abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen. Der „Krieg gegen
den Terrorismus“ ist kein Krieg, und im Terrorismus äußert sich auch, ich sage
auch, der verhängnisvoll-sprachlose Zusammenstoß von Welten, die jenseits der
stummen Gewalt der Terroristen wie der Raketen eine gemeinsame Sprache
entwickeln müssen.