Sprecher:
Simone de
Beauvoir schildert in ihren Memoiren ein philosophisches Schlüsselerlebnis Jean
Paul Sartres. Ihr gemeinsamer Freund, der Soziologe Raymond Aron, hatte sich
1932 in Berlin mit der damals noch neuen Phänomenologie Edmund Husserls vertraut
gemacht. Zurück in Paris trafen sich die drei in einem Café.
Sprecherin:
„Wir
bestellten – schreibt Simone de Beauvoir - die Spezialität des Hauses:
Aprikosen-Cocktail. Aron wies auf sein Glas (und meinte zu Sartre): ‚Siehst Du,
mon petit camarade, wenn Du Phänomenologe bist, kannst Du über diesen Cocktail
reden und es ist Philosophie.’ Sartre erbleichte vor Erregung, das war genau,
was er sich seit Jahren wünschte: man redet über den nächstbesten Gegenstand,
und es ist Philosophie.“
Sprecher:
Ein solches
Philosophieren, das bei Alltagsdingen ansetzt, daran überraschende Einsichten
gewinnt, ja ein ganzes kulturelles Universum aufschließt, ein solches
lebendiges Denken zeichnet auch den Philosophen und
Kommunikationswissenschaftler Vilem Flusser aus. Flusser, der vor zehn Jahren
starb, hatte ihm Prag der Vorkriegszeit mit dem Philosophiestudium begonnen,
die Phänomenologie kennengelernt, ohne sich später allerdings allzu eng an die
Husserlsche Methode zu halten. Aber die phänomenlogische Maxime „Zurück zu den
Sachen“ beherzigte er wie kaum ein
zweiter. An allem möglichem, was ihm in die Quere kam, vermochte sich seine
Denklust zu entzünden, wie es zum Beispiel die postume Essay-Sammlung Vom
Stand der Dinge vorführt: da konnte der Zuschnitt von Hosen oder die Handhabung von Regenschirmen ebenso zum
Thema werden wie Fotoapparat, Schreibmaschine oder Kochtopf: „Wer hätte -
schreibt Flusser - bei der Erfindung des Dampfkessels vorausgesehen, dass er
als Lokomotive den Westen Nordamerikas eröffnen und damit den pazifischen Ozean
für die okzidentale Zivilisation zugänglich machen würde.“
Sprecherin:
Unter
Flussers intellektuellem Blick verlieren die Gegenstände ihre
Selbstverständlichkeit, sie rücken in ein neues Licht. Viele seiner
Denkminiaturen oszillieren zwischen philosophischer Reflexion und
journalistischer Pointe, so wie er selber in den sechziger Jahren in Brasilien
neben seiner Professur für Kommunikationsphilosophie eine Kolumne für eine
große Tageszeitung verfasste.
In seinem
Haus in Sao Paulo gingen Wissenschaftler, Künstler und Studenten ein und aus.
Er liebte die Streitgespräche auf seiner Terrasse, denn er brauchte das
lebendige Gegenüber, um seine Gedanken entwickeln und weitertreiben zu können.
So beschreibt ihn Siegfried Zielinski, Professor an der Kunsthochschule für
Medien in Köln, der Flusser später in Deutschland kennenlernte:
O-Ton, Siegfried Zielinski:
Ich erinnere
mich sehr gut ... bei den Symposien und Kongressen, die wir zusammen verbracht
haben, war es für mich und die anderen Beteiligten immer wieder ein absolutes
Wunder: Früh am Morgen, runter in den Frühstücksraum des Hotels zu kommen und
Vilém Flusser saß meistens schon ein oder zwei Stunden vorher da und hat
gelesen. Und so wie der erste hineinkam, wurde er sofort in die heftigste
Diskussion verwickelt, egal wie müde Sie waren, und Sie hörten schon von
weitem, wenn Sie in den Frühstücksraum kamen, Vilém Flusser ist beim
Debattieren. ...
Er war ein
hundertprozentig und durch und durch dialogisch - oder man kann auch sagen - multilogisch
angelegter Denker. Er brauchte den anderen als Gegenüber – um wenn ich es etwas
lax ausdrücke, überhaupt richtig in Fahrt zu kommen, um seine Gedanken voll
entfalten zu können.
Sprecherin:
Das
Schreiben liebte Flusser im Grunde gar nicht, wie er bisweilen gestand. Viele
seiner Texte und Schriften gingen auf Ideen und Gedankengänge zurück, die er in
Gesprächen und Diskussionen entwickelt, oder im Hinblick auf ein bestimmtes
Publikum und einen konkreten Anlaß aufgeschrieben hatte, für Vorlesungen oder
Vorträge.
Bei diesen
Gelegenheiten unverrückbare Standpunkte oder ausgewogene Stellungnahmen
vorzutragen, war Flussers Sache nicht. Stattdessen überraschte und provozierte
er mit eigenwilligen Perspektiven auf die Probleme. Flussers Zeitdiagnosen suchten
stets gedankliches Neuland, es waren experimentelle Würfe, die sich an den
Einwänden und Erwiderungen des Gegenübers reiben wollten.
Sprecherin:
Und doch
entstand ein äußererst umfangreiches Oeuvre, das von vielen kurzen Essays
geprägt ist. Zu Lebzeiten und kurz nach seinem Tod bemühten sich zwei kleine
Verlage, European Photography einerseits und
der Bollmann Verlag andrerseits, um eine Gesamtausgabe der Flusserschen
Schriften. Beide Verlagsreihen blieben unvollendet. Aber sie trugen ein
Großteil der über Länder und Sprachen verstreuten Publikationen zusammen. So
konnte Flusser, der auf Vorträgen längst
ein intellektueller Geheimtip war, endlich von vielen rezipiert werden.
Sprecher:
Als
Flusser 1991 starb, versuchte seine Witwe Edith Flusser zunächst im Alleingang
seinen umfangreichen Nachlaß für eine Publikation aufzuarbeiten. Sie musste
jedoch vor dem Ausmaß des Projektes kapitulieren. Im Herbst 1998 übergab sie
schließlich den Nachlaß der Kölner Kunsthochschule für Medien.
Hier
entsteht nun ein wissenschaftliches Flusser-Archiv. Es umfasst neben den
publizierten Schriften allein 2500 Essay- und Buchmanuskripte sowie Flussers
umfangreiche Korrespondenz. Ergänzt wird das vielsprachige Werk – Flusser
schrieb deutsch, portugiesisch, englisch und französisch – durch zahlreiche
Bild- und Tondokumente mit Interviews, Gesprächen und Vorträgen. Darüber hinaus
sammelt man in Köln die rasch wachsende Sekundärliteratur. In naher Zukunft
soll der Bestand des Flusser-Archivs über das Internet einsehbar sein, schon
heute öffnet die Kunsthochschule für Medien jedem Interessierten ihre Tür zum
Archiv.
Sprecherin:
Aber es geht
nicht darum, Flussers Werk bloß zu inventarisieren und einer akademischen
Verdauung zuzuführen wie Siegfried Zielinski betont, der das Flusser-Archiv
leitet:
O-Ton, Siegfried Zielinski:
So einen
Nachlass zu verwalten macht keinen Sinn, ihn sozusagen als eine Art toter
Materie im Hause zu haben, uns ging es von vornherein darum – und das hat auch
Edith Flusser sehr gefallen – den Nachlass lebendig zu halten und ihn in die
Zukunft hinein zu bewegen, ihn mit künftigen Fragestellungen zu verbinden und
nun nicht eine eingeweihte und eingefleischte Flusser-Gemeinde zum Lesen und
Wiederlesen der alten Manuskripte zu
bewegen, - das ist der Hintergrund, - ich denke, dass es für Köln eine
großartige Geschichte ist. Im Hinblick auf die Medien wird sehr viel getan in
der Stadt und auch im Land NRW, aber gerade auch im Hinblick auf die
kritisch-philosophische Durchdringung der Medien könnte man sehr viel mehr tun,
und da war die Ankunft des Nachlasses hier in Köln ein wichtiger Schritt,
Sprecher:
Früh schon
hatte Flusser erkannt, dass die neuen und die alten Medien ein Schlüsselthema
der philosophischen Gegenwartsanalyse darstellen. Er machte sich an die
Aufarbeitung dieses Bereichs, als die akademische Zunft in Deutschland ein
Nachdenken über Medien noch gar nicht für philosophiewürdig erachtete. Wie
Günther Anders gehört Flusser zu den rühmlichen Ausnahmen. Seine Schriften zu
den Themen Kommunikation und Medien, von der Photographie, über Radio,
Fernsehen und Telefon bis hin zu Computer und Internet bilden die Mitte des
Flusserschen Werkes.
Sprecherin:
Aus diesem
Grund will die Kölner Kunsthochschule für Medien seinen Nachlaß nicht allein in
traditioneller Manier aufbewahren, sondern versucht neue Formen der
Präsentation zu finden, die Flussers Denken ebenso entsprechen wie seinem
Gegenstand, den Medien und ihrer Entwicklung.
Silvia
Wagnermaier, die Siegfried Zielinski bei der Bearbeitung des Flusser-Archivs
wissenschaftlich zur Seite steht, erläutert ein solches Projekt:
O-Ton, Silvia
Wagnermaier:
Was wir
an der Kunsthochschule für Medien hier unter anderem vorhaben, ist ein
Editionsprojekt, das die Tondokumente Flussers bearbeiten will. Mit der
Künstlergruppe Knowbotic Research, die dafür ein Interface erarbeitet, das an
Flussers Tondokumenten erprobt wird, also auch für einen breiteren Einsatz
gedacht worden ist, sollen die Möglichkeiten getestet werden: Wie kann Ton - in
diesem Fall: wie kann Flussers Stimme, die wesentlich war für sein Leben - für
die Vermittlung seines Werkes zugänglich gemacht werden? Wie kann sie
bearbeitet werden, und wie kann diese Arbeit vernetzt und ausgetauscht werden.
Musik:
eivind
aarset’s electronique noire: Light Extracts, 2.Track
(Stimmen und
Jazz als Internet-Thema unterlegen)
Sprecher:
1989 begann
das Internet schlagartig zu wachsen. Mit der Einführung des World Wide Web und
seiner Hypertext-Technik wurde es möglich, ohne die Kenntnis spezieller
Computersprachen Texte, Bilder und Töne in Echtzeit quer über den Globus zu
übermitteln. Früh schon hatte das Internet Flussers Interesse geweckt: ein weltweites Netz, das ohne zentrale
Verwaltung funktioniert und sich seit den Anfängen spontan und wildwüchsig
immer weiter ausbreitet. Flusser war begeistert von seiner dezentralen und
demokratischen Kommunikationsstruktur.
Sprecherin:
In den
letzten Jahren wurden aber vor allem in den USA Pläne laut, das dezentrale
Chaos von Telefon- und Satellitenverbindungen in geordnete Datenautobahnen
umzuwandeln. Vor allem die großen Medienkonzerne wünschen ein technisch
aufgerüstetes Netz, um über spezielle Kabel ihre Filme, Videospiele und diversen
Konsumangebote direkt in jedes Wohnzimmer zu liefern. Selber senden sollen
die Angeschlossenen jedoch nicht mehr, Informationsfluß in beide Richtungen
belastet in den Augen der Konzernchefs lediglich die begrenzte Kapazität des
Netzes, ohne Profit einzubringen.
Sprecher:
Wie wird
sich das Internet in Zukunft entwickeln? Was wird aus der Öffentlichkeit im
Informationszeitalter? Werden die künftigen Datenautobahnen so teuer, daß
sich öffentliche Institutionen und erst recht Privatpersonen einen Anschluß gar
nicht mehr leisten können?
Sprecherin:
Die
zunehmende Kommerzialisierung des Netzes hätte sicherlich die Kritik Flussers
hervorgerufen. Denn er hat sich oft in
die Diskussion über die gesellschaftliche Funktion der neuen und der alten
Medien eingeschaltet. Und in einem früheren Radiointerview hat Flusser just dieses
Medium Radio selbst zum Thema gemacht und seine Kommunikationsstruktur
kritisiert.
O-Ton, Vilém Flusser:
Unser
gegenwärtiges Gespräch ist ein Dialog, in dem eine Information für das Radio
dialogisch ausgearbeitet wird. Diese Dialoge werden dann irgendwie prozessiert,
z.B. werden Sie das Band, das Sie eben aufnehmen, schneiden. Aus diesem
Erzeugen und Prozessieren von Informationen wird etwas gemacht, das
charakteristischerweise ein Programm heißt, d.h. eine Vorschrift. Und diese
Vorschrift wird dann bündelartig, also faschistisch - denn das Wort
faschistisch kommt vom lateinischen 'fasces', d.h. Bündel - in den leeren Raum
ausgestrahlt, ohne auf einen spezifischen Empfänger abzusehen, und wer immer,
sei es zufällig, sei es durch noch zu analysierende Motive, sich in dieses
Bündel einschaltet, der wird von dieser Information programmiert, d.h. es wird
ihm vorgeschrieben, was er in seinem Gedächtnis zu lagern hat und was nicht.
... Aber diese Schaltung des Radios, die gegenwärtig im Gange ist, entspricht
dem Wesen der Radiotechnik überhaupt nicht. Denn Sie sehen ja, dass im Telefon
die Radiotechnik zu dialogischen Zwecken verwendet wird.
Sprecherin:
Flusser
unterscheidet zwei Schaltpläne der Medien, die er einander idealtypisch
gegenüberstellt: das positive Modell des Netzes und das negative des Bündels.
Das Netzmodell - wie es beispielsweise im Post- und Telefonsystem oder im
Internet verwirklicht ist, berge emanzipatorisches Potential: wenn alle
Teilnehmer gleichermaßen Informationen senden wie empfangen können, sei eine
Kommunikation im wahrhaften Sinne möglich, ein Dialog ohne hierarchisches Zentrum,
eine Demokratie im Informationszeitalter.
Sprecher:
Dagegen
bieten Fernsehen, Radio und Presse das Negativbeispiel: Ihre Bündelstruktur verweist
auf ein Zentrum, von dem alle Botschaft strahlenförmig ausgesendet wird, aber
eben nur über Einbahnstraßen, wenn man einmal von den rudimentären Feedbacks
wie Hörerpost und Leserbriefen absieht. Die Empfänger sind von einander
isoliert, sie stellen bloße Konsumenten dar, eine Masse, betont Flusser, die in
Verantwortungslosigkeit versinkt, weil man sie von der Möglichkeit des
Antwortens systematisch abgeschnitten hat.
Sprecherin:
"Das
Zeug ist falsch geschaltet", hat Flusser über unser Fernsehen geschimpft
und gefordert, dass Fernsehen und Radio zu wirklich dialogisch strukturierten
Medien umfunktioniert würden. Seine Forderung knüpfte an Brechts Radiotheorie
aus den frühen dreißiger Jahren und Enzensbergers Medienkritik aus den späten
sechziger Jahren an. Flusser hat für sein Konzept den Begriff der telematischen
Gesellschaft geprägt: telematisch nannte er eine Gesellschaft, die sich über
eine dezentrale und dialogische Vernetzung ihrer Medien austauscht und steuert
- kurz: eine kybernetische Demokratie. Flusser beschrieb diese Utopie aber als
Vexierbild, d.h. immer vom Umschlag in eine totalitäre Funktionsweise bedroht:
Zitator:
"Für
die kommende Gesellschaft sehe ich also zwei Alternativen: Entweder wird sie
totalitär sein, und zwar in einem Maße, wie das selbst in der Sowjetunion
früher oder unter den Nazis nur rudimentär möglich war. Oder sie wird
vollkommen regierungslos sein, nicht im anarchischen Sinne, sondern in dem
Sinne, daß alle Entscheidungen von selbst und spontan durch die durch sie
hindurchlaufenden Gespräche getroffen werden. Beide Alternativen sind im
Begriff der telematischen Gesellschaft enthalten. Es kann kein Zwischenstadium
geben: entweder - oder."
Sprecherin:
Flusser
wurde wegen seiner Utopie der Vernetzung als "digitaler Denker"
verspottet. Man warf ihm vor, dass er auf die Frage einer Bewältigung der
Technik selbst nur eine technische Antwort bereithielte, eben die Idee der
Umschaltung. Doch diese Rezeption ist kurzsichtig, sie verkennt, dass Flusser
im Durchgang durch das Technische die Chancen eines sich wandelnden Welt- und
Selbstverständnisses des Menschen sondierte. Dabei ging es ihm um eine neue
Philosophie des Dialogs auf der Basis moderner Informationstechnologien, hinter
die wir allerdings nicht zurück können. Flusser war für die Irreversibilität
der Veränderungen, den unaufhaltsamen kulturellen Umbruch empfänglicher als
andere, wohl auch deshalb, weil seine Lebensgeschichte von Entwurzelung und
Brüchen, von Heimat- und Traditionsverlust gezeichnet ist.
Sprecher:
Vilém
Flusser wurde 1920 in Prag in einer jüdischen Gelehrtenfamilie geboren, der
Vater war Mathematikprofessor an der Karlsuniversität. Er selbst hatte gerade
ein Semester Philosophie studiert, als er 1939 zusammen mit seiner späteren Frau
Edith Flusser die Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung ergreifen
musste, zunächst nach London, ein Jahr später weiter nach Brasilien, weil kein
anderes Land ein Visum ausstellte. Der Vater wurde in Buchenwald von den Nazis
umgebracht, Mutter und Schwester hat man in Auschwitz ermordet.
Musik:
Di Zun vet
aruntergeyn (Die Sonne wird untergehen), 2. Strophe
(The Klezmatics)
Sprecherin:
Die ganze
Familie zu verlieren, aus der Heimat, der Sprache, der europäischen Kultur
vertrieben und irgendwohin verschlagen zu werden, das Irrewerden an einer
solch abersinnigen Welt hat Flusser in seiner philosophischen Autobiographie
unter dem Titel "Bodenlos" beschrieben.
Zitator:
Wer die
Heimat verlässt (aus Zwang oder aus freier Wahl, und beides ist schwer zu
unterscheiden), leidet. Denn tausend Fäden verbinden ihn mit der Heimat, und
wenn diese durchschnitten sind, ist es, als hätte ein chirurgischer Eingriff
stattgefunden. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder als ich die mutige
Entscheidung traf zu fliehen), durchlebte ich den Zusammenbruch des Universums.
Ich verwechselte mein Inneres mit der Welt da draußen. Ich litt unter dem
Schmerz der durchschnittenen Fäden. Aber dann, im London der ersten Kriegsjahre
und beim Vorahnen der Schrecken der Lager, begann ich, mir darüber klar zu
werden, dass es nicht die Schmerzen eines chirurgischen Eingriffs waren,
sondern die einer Entbindung. Ich merkte, dass die durchtrennten Fäden mir
Nahrung zugeführt hatten und dass ich jetzt in die Freiheit geworfen war. Ich
wurde vom Schwindel der Freiheit erfasst, der sich darin zeigt, dass sich die
Frage ‚Frei wovon?’ in die Frage ‚Frei wozu?’ verkehrt. Und so sind wir alle
Migranten: Wesen, die vom Schwindel ergriffen sind.“
Sprecherin:
Keinen
festen Boden unter den Füßen zu haben, oder aus der Höhe in einen Abgrund zu
schauen - das sind Situationen, die Angst bereiten. Jenseits psychischer
Disposition, also der Frage, wie viel oder wenig jemand zu Höhenangst und
Schwindel neigt, steckt darin eine existentielle Erfahrung. Die meisten
Menschen kennen das: Beim Blick in den Abgrund tut sich buchstäblich eine
fürchterliche Möglichkeit auf: ich könnte hinabstürzen. Es ist als ob die Tiefe
ruft. Dass ich nicht hinabstürze, dass diese Möglichkeit nicht Wirklichkeit
wird, hängt nur noch von mir selbst ab, von meiner Achtsamkeit,
Entschlossenheit und Selbstbeherrschung. Genau das bereitet Angst: ich fühle
mich allein und ausgesetzt wie ein Seiltänzer, der sich auf nicht anderes mehr
stützen und verlassen kann als seine eigene Kunst des Balancierens. Habe ich
die Kraft mich im Sein zu halten? Tue ich das Richtige? Mich schaudert
angesichts des Möglichen.
Sprecher:
Der
Schwindel ist mehr als eine psychische Unsicherheit oder Labilität. Das Gefühl
des Schwindels bezeugt, dass sich eine festgefügte Welt in einen offenen Raum
von Möglichkeiten verwandelt hat. Der Schwindel ist die negative, aber auch
notwendige Seite der Freiheit. Deshalb kann in anderem Zusammenhang dem
Schwindel auch Lust beigemischt sein: dort wo das Abenteuer des Neuen und
Unbekannten lockt, wo jenseits von provinzieller Enge und Verhaltensroutine
eine weite und offene Welt mit Chancen und Möglichkeiten wirbt, so dass die
Gefahren und Risiken in den Hintergrund gedrängt sind.
Sprecherin:
Angst ist
das Bewusstsein der Freiheit, heißt es bei Sartre, der hier Heidegger
gewissermaßen popularisiert: Flusser hat die Existenzphilosophie studiert. Aber
entscheidend ist, dass er jene Krise der Desorientierung, die mit dem
Heimatverlust einhergeht, selber bewältigen musste. Und es ist ihm gelungen,
die Rolle eines Opfers der Vertreibung mit der Zeit zu überwinden, und den
Verlust produktiv zu machen, d.h. aus
dem Gefühl der Entwurzelung in das der
Freiheit hinüberzufinden.
Stefan
Bollmann, der in seinem gleichnamigen Verlag die Autobiographie Flussers und
andere wichtige Schriften veröffentlichte, bevor er den Verlag auflösen musste,
macht auf die beiden Seiten in Flussers
Erfahrung der Entwurzelung aufmerksam.
O-Ton, Stefan Bollmann:
Es gab neben
diesem negativen, fast verzweifelten Aspekt, - wenn man diese Autobiographie
liest, wird man am Anfang eine völlig depressive verzweifelte Stimmung erleben
- auch immer den anderen positiven Aspekt, nämlich zu versuchen aus dieser Erfahrung,
die nicht mehr rückgängig zu machen ist, nämlich daß die Wurzeln gekappt worden
sind, daß man seinem Ursprung entrissen, da herausgerissen worden ist, etwas zu
machen. Und Flusser hat mehr und mehr dieses Schicksal, das er erlitten hat,
als einmalige Chance begriffen, in etwas Neues hineinzugehen, das Alte dorthin
mitzubringen, es aber auch gleichzeitig zu verwandeln.
Sprecher:
Flusser gelang es, der Depression und
der Verzweiflung zu entkommen, indem er seiner individuellen schmerzhaften
Erfahrung einen allgemeinen existentiellen Sinn abtrotzte, indem er ein
positives Moment der Bodenlosigkeit erkannte: Der Verlust des Ursprungs, der
persönlichen Wurzeln und der sozialen Bindungen, bedeutet umgekehrt auch eine
Freisetzung, er gewährt die Chance, etwas wirklich Neues zu beginnen. Denn die
neue, ganz und gar ungewohnte Situation fördert innovatives Denken und Handeln.
In dieser Weise hat Flusser Exil und Kreativität – so heißt auch ein
Aufsatz von ihm - aufs engste zusammengedacht.
Sprecherin:
In den
ersten Jahren seines Exils in Brasilien war Flusser jedoch vollständig davon in
Anspruch genommen, sich und seine Familie mit drei Kindern durchbringen.
Er arbeitete
in Import-Export-Unternehmen und half mit, eine kleine Transformatorenfabrik
aufzubauen. Das abgebrochene Philosophiestudium konnte er zunächst nur
autodidaktisch fortsetzen. "Es bedeutete", schrieb er, "dass man
am Tag Geschäfte trieb und in der Nacht philosophierte".
Erst nach
zwanzig Jahren, dann allerdings mit raschem Erfolg, begann er zu
veröffentlichen, als Kritiker und Kolumnist bei der großen Paulistaner
Tageszeitung Folha de Sao Paulo. Und auch der Eintritt in den universitären
Bereich gelang: 1963 erhielt er eine ordentliche Professur für
Kommunikationsphilosophie an einer Hochschule in Sao Paulo.
Sprecher:
Für ihn, der
die Mehrsprachigkeit schon aus Prag, und einen Sinn für Verständigung über
kulturelle Grenzen hinweg aus seiner Exilerfahrung mitbrachte, waren Sprache
und Kommunikation existentielle Themen.
Er wandte sich gegen eine philosophische Tradition, in der die Sprache oft
geringgeschätzt wurde, als bloßes Zeichenarsenal, über das ein reines Denken
nach Belieben verfügen könnte. Gegen diese Geringschätzung richtete sich auch
Heideggers Wort: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ Allerdings konnte man solche
Aufwertungen auch nationalistisch missverstehen. Flusser lagen solche
Missverständnisse fern, er entwickelte wie Zielinski erläutert, im melting-pot
Brasilien ein pragmatisches Verständnis von Sprache, das die Bedeutung von
Kommunikations- und Nachrichtentechnik einbezieht.
O-Ton, Siegfried Zielinski:
Seine
Möglichkeit als Nicht-Brasilianer, der sich eine recht komplizierte Sprache,
das brasilianische Portugiesisch ... ganz neu aneignen muss, in einer Umgebung,
die ihm fremd war, in einem kulturellen Gemisch, wo auch Japaner, Menschen aus
aller Herren Länder zusammenkamen, war für ihn eine positive Vorraussetzung,
das Multilogische auszuprobieren und die Sprache auch als eine Art Technik zu
begreifen, mit Hilfe derer ich Kommunikationsprozesse organisieren kann, sie
sozusagen des schweren Gehalts, der mit dem Begriff Heimat verbunden ist, zu
entledigen, sie zu befreien und sie zu einer Art Code zu machen, zu einem Code
international Gleichberechtigter.
Sprecherin:
Ohne sich
einem verquasten Heimatbegriff oder einer romantisch mystifizierten
Ursprünglichkeit zu verschreiben, engagierte sich Flusser bei der Suche
Brasiliens nach einer kulturellen Identität. Den größten Teil seiner Existenz
habe er sich darum bemüht, schrieb Flusser ein Jahr vor seinem Tod, „eine
brasilianische Kultur aus okzidentalen und levantinischen, aus afrikanischen,
eingeborenen und fernöstlichen Kulturelementen zusammenzufügen.“
Musik:
Marlui
Miranda: 2 Ihu Kewere: Rezar (Eingangslied, Aruá-Indianer), ab 3:00
Sprecher:
1964 putschten
in Brasilien die Militärs. Flusser zog es immer öfter ins Ausland, wo er als
eine Art brasilianischer Kulturemissionär arbeitete. Aber unter der zunehmenden
Bespitzelung und aus Angst vor einer Verhaftung kehrte er 1972 von einer seiner
vielen Vortragsreisen nicht mehr zurück. In Europa konzentrierte er sich auf
die Analyse der alten und der neuen Medien. Früh schon und hellsichtiger als
andere hat er ihre Schlüsselrolle erkannt. Die Einsicht war auch ein Geschenk
des Exils, entsprang der Reflexion seiner brasilianischen Erfahrungen, meint
einer seiner Entdecker in Deutschland, der Publizist Volker Rapsch:
O-Ton, Volker Rapsch:
Er hat ja
lange Jahre in Brasilien gelebt und wurde dort mit einer Kultur konfrontiert,
die natürlich sehr viel schneller, weil sie einen großen Nachholbedarf hatte im
Vergleich mit der westlichen Zivilisation, sehr viel schneller mit den damals
neuen Medien, Telekommunikation und dergleichen mehr, konfrontiert wurde und
sie sozusagen in sich aufsog. Also eine Gesellschaft, wo der alphanumerische
Code sich in der Bevölkerung sozusagen nicht zur vollen Blüte entfalten konnte,
sondern überlappt wurde von den Anfängen digitalen Codes, also durch die
technischen Bilder, wenn man so will, das Weltverständnis, das
Sozialverständnis, sich über die technischen Bilder realisierte, also
Fernsehbilder beispielsweise, und weniger über diskursiv angelegte Medien wie
den alphanumerischen Code.
Sprecherin:
Denn während auf der einen Seite
Alphabetisierungskampagnen liefen und die Schriftkultur noch um ihre
Durchsetzung und Verbreitung kämpfte, wurde Brasilien auf der anderen Seite
schon von den technischen Bildern der damals neuen Medien, besonders des
Fernsehens, überschwemmt. Und das Land sog in seinem kulturellen Nachholbedarf
die Bilderflut begierig in sich auf.
So ist in
Brasilien augenfällig geworden, was Flusser dann in eine universelle These
faßte: weltweit sei ein Prozeß des "Umcodierens" im Gange. Ein neues
System von Symbolen, der auf 0-1-Reihen aufbauende "digitale Code",
habe begonnen, das alte System, den alphanumerischen Code der Schriftkultur, zu
verdrängen und abzulösen.
Zitator:
"Inzwischen
beginnen die Zahlen, sich von den Buchstaben zu befreien. Wir sind Zeugen einer
Revolution, die auf die Vorherrschaft des Auges über das Ohr dringt. ... Wir
denken nicht mehr buchstäblich, sondern numerisch, nicht mehr mit dem Ohr,
sondern mit dem Auge.“
Sprecherin:
Auf dem
alphanumerischen Code, also einer Kombination aus alphabetischen Zeichen und
aus Zahlen, basiert unsere Schriftkultur. Zunehmend ist es aber nicht mehr die
Schrift, sind es nicht mehr Texte, sondern Bilder, die den öffentlichen wie den
privaten Raum beherrschen. Auf diese Bilderflut reagiert die Gesellschaft
gespalten: populäre Begeisterung, ja Bildersucht auf der einen, elitär getönte
Bilderverachtung auf der anderen Seite.
Sprecher:
Flusser
entschlug sich solch simpler Gut-Böse-Raster. Stattdessen begab er sich an eine
Analyse der verschiedenen symbolischen Codes - getreu der phänomenologischen
Maxime Husserls "Zurück zu den Sachen": Was heißt es eigentlich für
das menschliche Bewußtsein, einen Text zu lesen, und was heißt es, ein Bild
anzuschauen? Flusser zufolge handelt es
sich dabei um zwei genau entgegengesetzte Vorgehensweisen des menschlichen
Geistes:
O-Ton, Vilém Flusser:
Beim Text
läuft mein Auge eine Linie entlang und während des Laufens sammelt es Brocken
von Informationen auf, und diese Brocken von Informationen werden am Ende der
Zeile zusammengefaßt - das bedeutet ja das Wort "lesen". Ursprünglich bedeutet ja "lesen",
z.B. Erbsen klauben. Ich lese die einzelnen Teile der Zeile auf und mache
daraus einen Haufen, während ich das tue, verbrauche ich Zeit. Also ich kann
sagen, beim Lesen eines Textes synchronisiere ich eine Diachronie.
Wenn ich mir
ein Bild anschaue, dann habe ich die Information vor mir wie auf einem Teller.
Und jetzt läuft mein Auge über die Oberfläche des Bildes und zerlegt das Bild
in Teile, also es ist gerade das Gegenteil: ich nehme die ganze Information
und zerbröckle sie, ich diachronisiere eine Synchronizität.
Sprecher:
An der
Schwelle des Informationszeitalters und seiner Dominanz der Bilder reflektierte
Flusser noch einmal das große Medium der Schrift. Gleichsam dessen Untergang
vor Augen wollte er sich der Spezifik eines schriftsprachlich getragenen
Denkens und Vorstellens vergewissern, seiner Stärken, aber auch seiner
Beschränkungen. Schon dieses Ansinnen widersprach in ketzerischer Weise der
philosophischen Tradition, die immer behauptete, das Denken vollziehe sich
rein geistig und die Schrift stelle nur ein völlig äußerliches Hilfsmittel der
Aufzeichnung dar. Dagegen hatte aber schon Nietzsche eingewandt: "Unser
Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken".
Sprecherin:
Flusser hat
Nietzsches These konkretisiert. In seinem ersten großen Werk auf deutsch mit
dem Titel "Schrift. Hat Schreiben Zukunft?"
- übrigens erschien die Studie im Jahr 1987 gleichzeitig in Buchform und als
Diskette - behauptete Flusser: Der Zeilencharakter der Schrift habe auch das
Denken und Vorstellen linear ausgerichtet. Denn Zeilen zu schreiben,
durchbreche das kreisende Grübeln und zwinge das Nachdenken buchstäblich
fortzuschreiten, Fortschritte zu erzielen. Die Schrift, so Flussers
kulturanthropologische These, transformierte das mythisch-kreisförmige in ein
logisch-lineares Denken. Und sie habe ebenfalls das historische Bewußtsein
konstituiert.
O-Ton, Vilém Flusser:
Was die
Erfinder der Buchstaben in Wirklichkeit ins Leben gerufen haben, war ein bewußt
zielgemäß lineares Sprechen und daher bewußt zielgemäß lineares Denken. Und
dieses Denken heißt historisches Denken. Infolgedessen haben die Erfinder der
Schrift die Geschichte erfunden. Es gab vor der Schrift keine Geschichte.
Wenn wir von
Ereignissen vor der Erfindung der Schrift sprechen, so begehen wir einen
Anachronismus. Damit sich etwas ereignet, muß es ein Bewußtsein geben, das es
als Ereignis wahrnimmt. Das hat es vor der Erfindung der Schrift nicht gegeben,
es war wirklich Vorgeschichte. Und die Geschichte beginnt mit der Schrift,
nicht weil die Schrift die Ereignisse festhält, sondern weil die Schrift die
Ereignisse überhaupt erst ermöglicht.
Sprecher:
Flussers These ist allerdings
umstritten. Zweifelsohne gibt es einen Zusammenhang zwischen der Einführung der
Schrift und der Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins - darauf hatten
bereits der englische Altphilologe Eric A. Havelock in seiner Studie über Homer
und der amerikanische Soziologe Walter J. Ong in seiner Untersuchung über die
Technologisierung des Wortes Oralität und
Literalität abgehoben. Doch ob es sich dabei um ein strikt kausales
Geschehen handelt, wie Flusser es behauptet, oder eher um eine komplexe
Wechselwirkung, bleibt fraglich.
Flusser
zielte allerdings auch nicht so sehr auf eine exakte Archäologie der Kultur,
als daß er den Blick für die Dimensionen öffnen wollte, in welchen sich der
gegenwärtige Umbruch vollzieht. Dabei lenkte er den Blick auf die
Zusammenhänge zwischen Schrift und Zeiterfahrung, Bewusstein und Wahrnehmung.
O-Ton, Vilém Flusser:
Unser
Zeitmodell ist auf die Schrift zurückzuführen. Und das Zeitmodell verändert
sich, infolgedessen hat die Schrift keine Funktion mehr. Es hat keinen Sinn
mehr zu schreiben, wenn ich nicht mehr linear denke. Aber das bedeutet nicht,
wir kehrten zu einem bildlichen Denken zurück. Wenn Sie sich die neuen Bilder
ansehen, die die Schrift ersetzen, diese tönenden Geschichten auf den Schirmen,
das sind nicht Bilder wie die alten, das sind nicht eigentlich Flächen,
sondern das sind Mosaiken, die aus Punkten zusammengesetzt sind, wir denken
also nicht mehr bildlich, aber auch nicht mehr linear, sondern wir denken
punktuell.
Sprecherin:
Flusser
unterteilt die Kulturgeschichte in drei große Perioden, die jeweils von einem
bestimmten Symboltypus geprägt sind: Am Anfang stand die Epoche des Bildes,
ihr folgte die der Schrift, und heute ist ein neues Zeitalter des Bildes
angebrochen, allerdings des synthetisch erzeugten Bildes. Die alten Bilder
waren konkret, aber sie bannten das menschliche Bewußtsein in den geschlossenen
Kreis eines magisch-mythischen Denkens. Die Schrift und ihr linear-logisches
Denken durchbrachen diesen Bann und befreiten das menschliche Bewußtsein, aber
sie schlugen es im Gegenzug mit der Abstraktheit von Begriffen und Zahlen. Die
neuen synthetischen Bilder führen wieder zurück zur Konkretion, aber es ist
eine zweite künstliche Anschaulichkeit, weil die Bilder eben nicht gemalt,
sondern dem Computer entsprungen sind, und deshalb die Schrift in Form der
Programmiersprachen voraussetzen.
Sprecher:
Das
angebrochene Zeitalter des synthetischen Bildes verwirft also nicht
schlechterdings die Schrift, sondern hebt sie in sich auf und nimmt sie
verwandelt mit hinein in eine höhere Gestalt. Flusser unterstellte hier eine
Hegelsche Fortschrittsdialektik. Diese Sicht unterscheidet ihn von dem
kanadischen Denker Marshall McLuhan, der ja ebenfalls die mediale Zukunft
begrüßte und mit dem man Flusser bisweilen verglichen hat. Stefan Bollmann
kommentiert die Unterschiede:
O-Ton, Stefan Bollmann:
Das Problem
von McLuhan war, daß er sehr stark dualistisch dachte, entweder Schrift oder
Bild: nach der Gutenberg-Epoche fallen wir zurück in eine magische Epoche, wo
wieder die Stammestrommel schlägt und die magischen Bilder uns bestimmen.
Flusser dachte eher an die Möglichkeit, der Eindimensionalität des linear
verfaßten, durch Schrift geprägten Bewußtseins zu entkommen in eine neue Form
von Bewußtsein hinein, und das hing sicherlich auch mit seiner Vorstellung von
Dialogizität zusammen, die eben nicht nur den normalen face-to-face-Dialog
meint, wo zwei miteinander reden, sondern auch immer inspiriert war von der
Denkfigur des Netzes, von der Vernetzung.
Musik:
Mari Boine,
Remixed: 10. Áhccai
(im
folgenden unterlegen)
Sprecher:
Ob sich eine
neue Form von Bewusstsein herausbildet, macht sich für Flusser letzten Endes
nicht an der Alternative Text oder Bild fest. Denn beide, Texte wie
Bilder, und im übrigen auch die Töne können über den digitalen Code multimedial
verbunden werden. Für entscheidend hielt er die Struktur der Kommunikation, das
Prinzip der dialogischen Vernetzung.
Sprecherin:
Will man
aber Flussers Konzept nicht weiterhin als rein technische Utopie mißverstehen,
gilt es zwei wichtige Korrekturen nachzuvollziehen, die er selbst vorgenommen
hat: Erstens wandte er sich gegen ein Verständnis, welches Verständigung mit
dem bloßem Austausch vorgefertigter und in Worte gekleideter
Bewusstseinsinhalte gleichsetzt. Dagegen verband Flusser mit Kommunikation
gerade umgekehrt die Dimension des geistig Produktiven und Kreativen:
Zitator:
"Der
Dialog ist ein Prozeß, bei dem verschiedene Inhaber von zweifelhaften und
bezweifelten Teilinformationen versuchen, durch Austausch dieser
Teilinformationen eine neue Information
zu erreichen.“
Sprecherin:
Mit anderen
Worten: da wo Botschaften in Zusammenhang gebracht, wo Ideen buchstäblich
miteinander gekreuzt werden, dort entsteht wirkliches Neues. Die eigentlich
schöpferische Stätte ist die Vernetzung des Gesprächs, die Agora der Kabel, und
nicht das isolierte Einzelbewußtsein.
Sprecher:
Und hier
steht die zweite Revision an: Flussers Ideen von Dialog und Vernetzung zielen
auf ein anderes Verständnis der menschlichen Subjektivität: Das alte Konzept
des Individuums sei tot. In dieser Abschiednahme vom traditionellen Bild des
Ich
konvergiert
Flussers Philosophie mit den vielfältigen Destruktionen des neuzeitlichen
Subjekts, wie sie seit Nietzsche und Heidegger, besonders aber in Frankreich
durch den Poststrukturalismus vorgenommen wurden. Die Informationsgesellschaft
und ihre Medien zwingen dazu, das von der Philosophie lange gehegte, aber
falsche Selbstbild des Menschen zu verabschieden:
Sprecherin:
"Irgendein
'harter' Kern des Ich (ein 'Selbst', eine 'Seele') erweist sich – so Flusser -
als logisches und existentielles Unding."
Das Ich sei
also kein abgeschlossenes Wesen, das in sich selbst ruhe, kein harter Kern,
sondern ein Knoten im Kommunikationsprozeß, wie der Publizist und
Flusser-Kenner Volker Rapsch erläutert:
O-Ton, Volker Rapsch:
Für Flusser
stellt sich das Ich, also seine eigene Person, erst dar in der Verbindung mit
anderen, d.h. das Ich realisiert sich im Dialog dort, wo Antwort und Gegenrede,
Frage, Antwort, Verhalten auf eine Antwort, wo diese beiden Dialogstränge sich
miteinander verknüpfen, dort entsteht für Flusser das Ich, also er selbst. ...
In der
telematischen Gesellschaft ist natürlich die Verknüpfungsmöglichkeit, die
Realisierung des Ich, eine weitaus größere als in der klassischen Gesellschaft,
... dort sind es ja nur einzelne direkte Verknüpfungsmöglichkeiten, die ich
habe, während ich in der Telematik eine Vielzahl von Verknüpfungsmöglichkeiten
habe, also ein weitaus vielfältigeres, reichhaltigeres Ich realisieren kann als
ich es in der Vergangenheit konnte.
Sprecher:
Flusser
knüpft hier an Vorstellungen an, die in der jüdischen dialogischen Philosophie,
insbesondere von Martin Buber entwickelt worden sind – die Idee, dass alles in
der lebendigen Beziehung und nicht im Einzelbewußtsein anfängt, daß die
Gestalten des Ich und des Du nicht vorweg bestehen, sondern sich aller erst im
Dialog, im Zwiegespräch aneinander formen. Buber zufolge ist das primäre
Verhältnis zum Anderen, ob Natur oder Mitmensch, auch nicht das
Subjekt-Objekt-Verhältnis im Sinne der philosophischen Neuzeit, wo das Subjekt
das Objekt erkennen und beherrschen will.
Grundlegend
ist für Buber vielmehr die Haltung der wechselseitigen Achtung - mit anderen
Worten: Nicht erkennen, sondern anerkennen heißt die vorrangige
Einstellung zum Anderen.
Sprecherin:
Flusser
knüpfte direkt bei Buber an, ja man könnte sagen, sein Entwurf einer
telematischen Gesellschaft ist eine Neuformulierung der jüdischen Philosophie
des Dialogs unter den Bedingungen des Informationszeitalters. Damit wird auch
die ethische Ausdeutung verständlich, die das Wort telematisch bei Flusser
erfährt. Er hat es selbst in einem Vortrag verdeutlicht.
O-Ton, Vilém Flusser:
Wenn Sie
bedenken, was 'tele' bedeutet, das Näherbringen von Entferntem, und nicht nur
von entfernten Ereignissen, sondern auch von entfernten Menschen. Wir sind dank
Telematik mit einer großen Zahl anderer verbunden, in denen wir uns
verwirklichen können und die sich in uns verwirklichen können. Es entsteht ein
dialogisches Verhältnis zwischen einst Entfernten und jetzt Nähergebrachten.
... Das ist der Tod des Humanismus. Der Humanismus ist, wie Sie wissen, eine
Desexistentialisierung der Liebe: man liebt sechs Milliarden Menschen. Das ist
in dem bekannten Satz ‚Ich liebe die Menschheit, es sind die Leute, die mir auf
die Nerven gehen.’ deutlich. ... Der Humanismus stirbt, und stattdessen kommt
eine verantwortliche Verbindung mit einst ferngestandenen anderen. Das ist eine
seltsame Rückkehr aus dem Humanismus in die Nächstenliebe. Allerdings nicht in
jene Nächstenliebe, die das Juden-Christentum meint, nämlich den mir gegebenen
Nächsten, sondern jetzt die Liebe, die Verantwortung für den mir nahegebrachten
Entfernten. ... Davon sind wir allerdings weit entfernt. Diese Informationsgesellschaft
ist noch nicht einmal über dem Horizont aufgetaucht.
Musik:
Nighthawks: Metro Bar,
10. Armatura Zalau (ab 4:10)
Sprecher:
Flussers
Utopie einer telematischen Gesellschaft und eines neuen Humanismus der
Verantwortung genau wie das reaktionäre Gegenbild eines technischen
Totalitarismus sind Denkmodelle, keine empirisch gestützten Prognosen. Seine
Arbeiten, meist Essays und Vortragstexte sind Gedankenwürfe, die andere
aufnehmen sollen, sie rufen zu jenem Dialog auf, den er als Prinzip theoretisch
gefordert hat.
Flusser
hatte keine mechanische Vorstellung vom Lauf der Geschichte und vom Ausgang der
Kräfteverhältnisse. Siegfried Zielinski erinnert im Blick auf seine
Persönlichkeit daran, dass Flusser aus der Stadt Prag mit ihrer besonderen
geistigen Tradition stammt. Flusser scheint ihm ein Denkertypus zu sein wie
seinerzeit Johannes Kepler, bei dem naturwissenschaftliches und alchimistisches
Denken, Mathematik und Magie noch eine geistige Einheit bildeten. Wo Denkformen
zusammengehörten, die uns heute streng getrennt und völlig unvereinbar
scheinen:
O-Ton, Siegfried Zielinski:
Flusser war
in vielerlei Hinischt beides: er war großer Aufklärer und er war zur gleichen
Zeit für mich auch ein Alchimist, ein magischer Wissenschaftler, der im Sinne
dieser gradlinigen Wissenschaft des Nachvorn - von A nach B - überhaupt nicht
denken wollte und konnte, der viel lieber mit Zeitfiguren und mit
Dynamikfiguren arbeitete, die elliptisch, die in Kreisformen organisiert waren,
wo die Dinge sich wieder zurückgebogen haben. Das sind alles Bilder, Figuren,
die wir aus der magischen Annäherung an die Welt, aus den magischen
Naturphilosophien kennen, und dem war er zutiefst verhaftet, für ihn stand es
völlig außer Zweifel, dass die magische Annäherung an die Welt der Ursprung für
das moderne wissenschaftliche Denken war, und dass man von daher beides auch
nicht in einen Gegensatz, was so viele der so genannten Aufklärer gemacht
haben, bringen darf, sondern beides in einem notwendigen Wechselverhältnis
zueinander sehen muß.
Sprecherin:
Vilém
Flusser selbst verkörperte den brillanten Gelehrten alter Schule, den
humanistischen Vertreter der Schriftkultur. Bis zu letzt hat er – Computer hin,
Digitalisierung her - auf seiner alten mechanischen Schreibmaschine getippt.
Dem Ende der Schriftkultur sah er mit Melancholie entgegen, aber ohne jede
Larmoyanz und in dem Wissen, daß es kein Zurück hinter die weltweite Vernetzung
gebe. "Paradigmenwechsel" hieß denn auch sein letzter Vortrag, den
er im November 1991 in Prag hielt, bei seinem ersten Wiedersehen mit der Heimatstadt.
Auf der Rückfahrt verunglückte er mit dem Auto tödlich nahe der deutschen
Grenze. Tragisch holte der Tod ihn dort ein, wo er 1939 dem Vernichtungsterror
der Nazis hatte entrinnen können.
Sprecher:
Seine
Lebensgeschichte hat Flusser bodenlos gemacht, ihn aber auch mit
Kosmopolitismus gewappnet gegen all die fundamentalistischen Ideologien, die
eine Ersatzheimat versprechen. Flusser schaute nach vorn in der ebenso
zweifelhaften wie messianischen Hoffnung, daß die Netze der
Informationsgesellschaft vielleicht neuartige Luftwurzeln des Austauschs und
der Verständigung unter Menschen bedeuten könnten, wo die ursprünglichen durch
Terror, Flucht und Vertreibung abgeschnitten sind.
Sprecherin:
Aus der
Flucht eine Freiheit gemacht zu haben, ein dumpfes, nur privates Schicksal in
eine reflektierte mitteilbare Erfahrung zu verwandeln, ist vielleicht die
größte Leistung Flussers. Silvia Wagnermaier, die an der Kunsthochschule für
Medien in Köln das Flusser-Archiv wissenschaftlich betreut, zieht ein solches
Fazit:
O-Ton, Silvia Wagnermaier:
Flusser kann
für mich als Philosoph der Freiheit gelesen werden, jemand der nicht nur
zwischen Sprachen übersetzt hat, und in verschiedene auch technische Sprachen
übersetzt hat, vom Wort zum Bild, zum Zahlencode, sondern der auch ganz stark
eine Übersetzungsarbeit geleistet hat, die ich nenne: vom Zwang zur Freiheit,
von der Arbeit zur Muße, zum Spiel
des Homo ludens, oder aber auch: vom Exil
zur Kreativität.
Flusser sagt
in eben diesem Text von der Kreativität des Exils, dass sich nicht nur jeder
Vertriebene gezwungen sieht zu schaffen, sondern dass sich jeder Künstler
gezwungen sieht vertrieben zu werden. Das heißt, dass für ihn das Exil, das
Vertriebenwerden vor allem die Möglichkeit der Freiheit bietet, und wirklich
erst einmal einen Möglichkeitsraum eröffnet.
Sprecher:
„Bodenlos“
hieß Flussers philosophische Autobiographie. Stefan Bollmann hat aus dem
Nachlaß einen zweiten Band zusammengestellt, dessen Essays den positiven Aspekt
im Titel umreißen. Die Sammlung heißt: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Während eine Gesellschaft darüber streitet,
wie viele Einwanderer sie zu ertragen vermag, als ob die Einwanderer vor allem
Bürde und Belastung seien, hat Flusser auf den Wert des Migranten gerade auch
für die Einheimischen verwiesen. „Wir Migranten – schrieb er - sind die
Fenster, durch die die Einheimischen die Welt sehen können.“
Sprecherin:
Neben den
weiterhin inspirierenden Texten zur Medientheorie verdient das Thema Migration
in Flussers Leben und Werk die größte Aufmerksamkeit. Es ist aktueller denn je.
Flusser kämpfte gegen ein ideologisches Bild des Menschen, das ihn auf seine
ethnische Zugehörigkeit festlegen will, wie das Wort des Volksstamms, das der
Biologie entlehnt ist. Menschen haben eine Herkunft, aber das Bild von den
Wurzeln führt in die Irre, Menschen sind eben nicht wie die Bäume an einen
Boden gebunden.
O-Ton, Vilém Flusser:
Die an
Dinge bindenden Fäden, sind verächtlich. Städte, Dörfer, Bäume zu lieben ist
eine Lumperei. Mein Verlassen Prags war auf makabre Art erleichternd, alle
Menschen, an die ich dort gebunden war, kam um. Die Juden wurden vergast oder
zu Tode gefoltert, die Tschechen in
meiner Klasse starben im Widerstand und die Deutschen in Rußland. Also war es
mir leicht, Prag zu verdrängen. Es galt ja nur, nur die Häuser zu verdrängen.
Nun ist diese neu gewonnene Freiheit, dieses Umschlagen der Frage Frei wovon in
Frei wozu, nicht ohne weiteres realisabel:
Ich bin jetzt frei, Bindungen mit anderen einzugehen. Aber woran sollen
sich diese neuen Bindungen in mir festhaken können, wo ich doch ein zerhackter Knoten bin, ein transparentes
geheimnisloses gespenstisches Wesen, das im Wind flattert. Die Antwort darauf
ist leicht zu finden, aber schwer zu befolgen: Ich darf die Erbschaft der
verlorenen Heimaten nicht wegwerfend leugnen, sondern ich muß sie auf mich
nehmen, ... Ich muß mich als Prager, als Jud, als Deutscher, als Angelsachse,
als Brasilianer, als Provencale annehmen, um diese meine Bindungen mit anderen
gemeinsam zu ändern: Wurzellosigkeit als die menschliche Spezifizität - a man
is not a tribe – als menschliche Würde.
Musik:
Zum
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