1.Sprecher:
"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt.
Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich
von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein
Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte
muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette
von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe,
die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.
Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen
hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm
treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der
Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen,
ist dieser Sturm."
2.Sprecher:
Walter Benjamin hat einem naiven Fortschrittsglauben dieses
düstere Bild entgegengehalten.
Der Engel der Geschichte wird zum Todesengel, der
Fortschritt zum Alptraum. In den Blick geraten die destruktiven Kräfte der
Geschichte. Die entfesselte Produktivität entzieht sich mehr und mehr der
Kontrolle, wird zum unaufhaltsamen Getriebenwerden, mit dem Rücken zur
Zukunft, blind für ein Ziel, das ohnehin längst veschwunden ist.
Der Prozeß der Zivilisation ist selbstläufig geworden. Harrisburg, Tschernobyl, Seveso, abgeholzte
Regenwälder und wachsendes Ozonloch wecken apokalyptische Visionen, die bis ins
Alltagsbewußtsein drängen. Die drohende Selbstvernichtung der Menschheit ruft
Wünsche nach Neuorientierung hervor, verlangt nach einer fundamentalen
Revision unseres Weltverhältnisses.
1.Sprecher:
Dabei war es der ursprüngliche Anspruch der Aufklärung - wie
Horkheimer und Adorno in ihrer "Dialektik der Aufklärung" formulierten
- "von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren
einzusetzen". Zwar hat sich der Mensch zum Schöpfer der Welt erklärt und
verwandelt die Welt immer mehr zu seinem Entwurf. Dies hat ihm aber nicht die
Angst nehmen können, im Gegenteil.
Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die politischen
Umwälzungen der letzten zwei Jahrhunderte, die Freiheit des künstlerischen
Ausdrucks sind Folgen der Entlassung aus alten Botmäßigkeiten. Der neuzeitliche
Mensch folgt einem unbedingten Willen zur Selbstbestimmung. Dies ist nach
Habermas das wesentliche Kennzeichen der Moderne.
2.Sprecher:
"Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe
nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität
aus sich selber schöpfen... Das erklärt die Irritierbarkeit ihres
Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten
Versuche, sich selbst 'festzustellen'."
1.Sprecher:
Damit wird zugleich das Dilemma der Moderne deutlich: die
Freiheit ist vor allem Verpflichtung und bürdet dem Menschen die Last der Selbstbegründung auf.
Fortan gibt es nichts fraglos Anerkanntes mehr, nichts, was
nicht bezweifelt werden kann, also begründet werden muß. Ob religiöse, oder
moralische Vorstellungen, ob Liebe oder Kindererziehung, überall gibt es
verschiedene Modelle, Ansätze und Experimente,
überall Zweifel und chronische Entscheidungsunsicherheit. Die Moderne
ist das Ende jeder Selbstverständlichkeit.
Der moderne Mensch befindet sich in einer permanenten Identitätskrise.
Von Nietzsche wurde er im "Zarathustra" als Seiltänzer beschrieben:
über dem Abgrund und so gleichsam ins Nichts gestellt, muß er an sich selbst
einen Halt finden, ein immer gefährdetes, flüchtiges Gleichgewicht.
2.Sprecher:
Man kann diese prekäre Balance lustvoll bejahen und sich in
ihr ein richten. Das tut die Postmoderne. Sie bejaht die Erosion universaler
Sinnsetzungen und überläßt sich den vielfältigen Perspektiven, ohne sie
vereinheitlichen zu wollen. Oder aber man verwirft die postmoderne Leichtigkeit
und sucht sich in letzten Wahrheiten zu verankern. Das tut der Fundamentalismus.
Postmoderner Pluralismus und Fundamentalismus stellen zwei
einander entgegengesetzte Versuche dar, auf die Situation der Moderne zu
reagieren. Dazwischen, als dritte geistige Strömung, plaziert sich der
kommunikationstheoretische Universalismus von Jürgen Habermas und Karl-Otto
Apel.
Gegen die postmoderne Leichtfertigkeit beharrt er auf der
orientierenden Kraft der Vernunft. In jeder Kommunikation sei Vernunft
schon vorausgesetzt und garantiere so allgemeingültige Verbindlichkeiten.
Diese Vernunftkonzeption beschränkt sich allerdings auf die demokratischen
Regeln der Kommunikation und versagt es sich, inhaltliche Wahrheiten oder gar
Weltbilder festzulegen.
1.Sprecher:
Anders der Fundamentalismus. Er füllt das moderne Vakuum wieder
mit letzten Wahrheiten und Werten. Daß diese Wertsetzung eine Herausforderung
demokratischer Gesellschaften sein kann, ja sogar eine Kriegserklärung an sie,
das hat spätestens Khomeinys Mordaufruf gegen den Schriftsteller Salman Rushdie
ins öffentliche Bewußtsein gerückt. Aber es gibt nicht nur einen islamischen
Fundamentalismus, auch kulturelle Strömungen im Westen tragen fundamentalistische
Züge.
"Ein Gespenst geht um", so der erste Arbeitstitel
einer Studie von Thomas Meyer, die dann dieses Frühjahr als Buch erschien:
"Fundamentalismus - Aufstand gegen die Moderne". Außerdem hat er
einen Band mit Aufsätzen verschiedener Autoren zu diesem Thema herausgegeben.
Meyer ist Direktor der Gustav-Heinemann-Akademie in Freudenberg und Dozent für
Politikwissenschaft an der Gesamthochschule Siegen.
2.Sprecher:
Das "Gespenst" des Fundamentalismus erscheint in
vielerlei Gestalt: als islamischer Fundamentalismus, der über den Iran hinaus,
sogar bis in nichtislamische Länder hinein an Einfluß gewinnt; als
protestantischer Fundamentalismus - das sind vor allem die Fernsehprediger in
den USA, die mit erzkonservativen Moralvorstellungen und mit modernsten Medien
Politik machen; als katholischer Fundamentalismus, z.B. in der Bewegung um den
exkommunizierten Erzbischof Lefebvre oder in der Vereinigung "Opus
Dei", im Spanien Francos gegründet und heute mit weitreichendem
internationalen Einfluß auf Wirtschaft und Politik. Hierzulande findet man im
Spektrum des ökologischen Denkens einen Fundamentalismus, der über radikale
ökologische Reformen hinaus eine totale Neuorientierung unseres Verhältnisses
zur Natur und zum Leben überhaupt fordert.
Aber mit welchem Recht lassen sich so verschiedene
Bewegungen unter den einen Begriff des Fundamentalismus bringen? Was haben sie
denn Gemeinsames?
Ihnen allen liegt ein gemeinsames Motiv zugrunde, Meyer
spricht von einem Bedürfnis, das gegen die Zumutungen einer entfesselten
Modernisierung geltend gemacht wird.
O-Ton (Meyer):
"Das fundamentalistische Bedürfnis würde ich so
skizzieren: Es verlangt nach festen Gewißheiten im Fluß der verschiedenen, unsicher
bleibenden Orientierungsangebote und fester verbindlicher Vorgaben für die
eigene Lebensführung, für die gesellschaftliche und politische Orientierung.
Fundamentalismus sucht also nach einem absoluten, nicht mehr anzweifelbaren
Fundament im Strom der vielen irritierenden und offenbleibenden Angebote, was
Erkenntnis anbetrifft, was Lebensführung anbetrifft, aber auch was
politische und soziale Handlungsmöglichkeiten anbetrifft."
"Also in Umkehrung der kantischen Definition von
Aufklärung, nach der Aufklärung ja der Ausgang des Menschen aus einer selbstverschuldeten
Unmündigkeit ist, wäre Fundamentalismus der Ausgang des Menschen aus der
Mündigkeit in eine selbstverschuldete, aber bewußt gewählte Unmündigkeit,
eben in eine absolute Verbindlichkeit nicht mehr bezweifelbarer Grundlagen
für Denken, Leben und politisches Handeln."
1.Sprecher:
Schon in der Vergangenheit zogen Modernisierungsschübe
restaurative fundamentalistische Strömungen nach sich. So reagierte auf die
Aufklärung und ihre rationalistische Entzauberung der Welt die Romantik mit
ihrem Traum der Wiederversöhnung von Mensch und Natur. Das fundamentalistische
Bedürfnis klagt die aufklärerische Vernunft an, die alten Wahrheiten und Werte
zerstört, die Ganzheiten zersetzt zu haben, in denen der Mensch ehemals
Geborgenheit finden konnte. Der Fundamentalismus zielt auf eine Vereinigung
von Kosmos und Geschichte, will eine Einheit wiedergewinnen von allgemeiner
Welterklärung und individueller Lebensführung.
Eine solche Einheit von Erkennen und Handeln wäre nach Meyer
nur dann akzeptabel, wenn sie von einer demokratischen Öffentlichkeit getragen
würde.
O-Ton (Meyer):
"Etwas anderes war die vormoderne Einheit, die ja als
eine vermeintlich geoffenbarte Einheit einer vorvernünftigen Interpretation
der Welt und des individuellen Handelns zustandegekommen war, also die
religiöse Offenbarung war ja das einheitsstiftende Prinzip, und die
Einheitsansprüche, die darin lagen, waren eben dem Zweifel der vernünftigen
Kritik entzogen. Die bestanden eben zum Beispiel darin, daß ein Weltbild
existierte, in dem die göttliche Fügung, die göttliche Urheberschaft, eine
Hauptrolle spielte, das Handeln des Einzelnen in erster Linie daraufhin
orientiert war, am Ende in dieser göttlichen Weltordnung zum Heil im
jenseitigen Leben zu gelangen, und die gesellschaftliche Organisation als ein
Ausfluß der göttlichen Weltordnung galt, und keiner rationalen und kritischen
Diskussion unterzogen werden konnte."
2.Sprecher:
Rudolf Bahro hat mit der "Logik der Rettung" das
grundlegende Buch des ökologischen Fundamentalismus geschrieben. Wegen seines
ersten Buches "Die Alternative" 1978 in der DDR zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, 1979 in die
Bundesrepublik abgeschoben, wurde er Mitbegründer der "Grünen",
deren Partei er 1985 verlassen hat aus Enttäuschung über ihre politische Halbherzigkeit.
Bahros eigene Kritik hingegen geht aufs Ganze : Unsere Industriegesellschaft
ist dem Untergang geweiht, wenn sie so weiterläuft wie bisher. Die
demokratischen Institutionen sind willfährige Instrumente, der Umweltschutz
nur ein Ablaßhandel, - in unserer Zivilisation, die beherrscht wird von einer
"Logik der Selbstausrottung"..
1.Sprecher:
Mit der Leidenschaft eines alttestamentarischen Propheten,
verbunden mit scharfsinniger Kulturkritik, fordert Bahro den abendländischen
Menschen auf, in sich zu gehen. Denn die Wurzel allen Übels ist die
egozentrische abendländische Individualität. Eine radikale Kritik muß am
Menschen selbst ansetzen, denn - so Bahro:
"Was wir tun, was wir uns und aller Kreatur antun, kann
nur darin wurzeln, was wir sind."
Selbstaufklärung, Aufklärung nach innen ist für Bahro der erste
Schritt seiner "Logik der Rettung":
O-Ton (Bahro)
"...der Weg geht vorwärts in Richtung Bewußtheit, und
Bewußtheit schließt ein - das ist die große Botschaft eigentlich, die uns von
Freud und Jung dann kommt - daß wir uns
allerdings dieser immer noch in uns wirksamen und mächtigen Schichten, und
die auch nicht zu eliminieren sind, im Gegenteil, die zu integrieren sind, daß
wir uns die viel genauer ansehen, bewußter ansehen, Meditation heißt
eigentlich also, die Bewußtheit auf diese dunklen Punkte richten in uns, die
wenigstens erst einmal zugänglich machen, diese dunklen Punkte...Die ganze
tiefenpsychologische Arbeit der letzten 100 oder 80 Jahre, die hat eigentlich
dem Westen endlich auf diese hier übliche materialistische Art und Weise,
wenn ich etwa an Wilhelm Reich denke, erklärt, was sonst die alten Meister, was
Buddha in Indien auf weder materialistische noch idealistische Weise, erklärte,
nämlich Reich hat gezeigt, wie eigentlich unser Geist in angstbestimmten
Panzerungssystemen, in Sicherheitspolitik gefangensitzt."
2.Sprecher:
Eine spirituelle Erneuerung soll das aggressiv-ängstliche
Ich überwinden, die Utopie eines "neuen Menschen", die die vereinzelte
und abgetrennte Subjektivität auf ihr Fundament zurückführt. Bahro spricht von
der "Gottheit in uns", eine Vorstellung aus mystischen Traditionen. Gemeint sind die
tieferen Schichten unseres Selbst, wo die kosmische Ganzheit gleichsam eine
Stimme in uns hat. Oder wie es der mittelalterliche Mystiker Eckhart
ausdrückt: "Es gibt in unserer Seele einen Kreuzungspunkt von Ich und
Universum."
Für Meyer läuft eine solche kosmische Integration des
Menschen auf die Selbstpreisgabe des Subjekts hinaus. Wird Vernunft ersetzt
durch höriges Vernehmen? Oder geht es nicht vielmehr um eine Freisetzung
menschlicher Potentiale? Bahro jedenfalls meint hier keine
Unterwerfungsbereitschaft, sondern eine höhere Form der Bewußtheit, eine
souveränere Selbstfindung.
O-Ton (Bahro):
"Und wir haben Körper, im Sinne Wahrnehmung, wir haben
Verstand im Sinne hier dieser Computerbegrifflichkeit, wir haben Seele oder
auch Intelligenz in dem Sinne, wie Thomas meinte, Thomas von Aquin,
intellectus, das war in erster Linie die Fähigkeit, Gott zu erkennen, und wir
haben Geist, da ist die Logik, die zum Zentrum zielt, und schließlich die
Fähigkeit so aufgehoben zu sein, zu fühlen uns im Weltganzen, wie das Baby
sich im Mutterschoß fühlt.Aber das ist eine ungeheuere geistige Leistung. Wir
sind dann eher sehr auf verstandesmäßige Verengung gekommen. Und spirituelle
Übungen heute, d.h. eigentlich, daß wir uns in der Ganzheit unserer
geistig-seelisch -körperlichen Kapazitäten dem
Weltzusammenhang stellen. Und von daher ergibt sich Konsens also auch nach
meinen Erfahrungen ganz von selbst...( ) Wenn man auf diese Instanzen in uns
zurückkommt, dann stellt sich raus, daß der Mensch der Mensch ist, Mann und
Frau, und daß wir, mechanisch gesagt, zu 95% dasselbe wollen.
Und daß diese Umkehrung, die wir uns hier leisten, also 95%
sogenannte Individualität gegen 95% Individualität des lieben Nächsten, des
anderen Napoleon, der auch bloß die ganze Welt erobern möchte oder den
Nobelpreis braucht oder was auch immer. Es ist hirnrissig, einfach
kollektiver Wahn ist das, diese individualistische Gegeneinanderstellung der
Menschen.
Also Konsens ergibt sich bei einem, der wenn man aus
Weitperspektive dahinblickt, wohin der Mensch angelegt ist, ergibt sich
Konsens von selbst, wenn wir auch die richtige, also die kosmisch richtige
Ordnung haben, die evolutionär richtige Ordnung hier haben."
1.Sprecher:
Die Verfahren unserer parlamentarischen Willensbildung scheinen
unzureichend, das Gemeinwohl zu repräsentieren und die Grundlagen des Lebens
zu schützen. Sie reduzieren die Individualität auf den "Charme einer
Lottokugel". Insofern ist die Vorstellung intensiveren Konsenses, der sich
von selbst einstellt, natürlich verlockend. Aber auch wenn in uns eine universelle
Weisheit wirkt, dieser Sinn für das Ganze jedoch mehrere Stimmen hat, die
nicht von selbst konvergieren? Dann droht der fundamentalistische Wunsch nach
Versöhnung abzugleiten in einen autoritären Harmonismus, der keinen Raum mehr
für ein Andersdenken zuläßt.
O-Ton (Meyer):
"Also ich denke, daß Fundamentalismus sich, was den
Umgang mit Denken anbetrifft, vielleicht durch zwei zentrale Kriterien auszeichnet:
Das eine ist, daß irgendeine vermeintlich sichere Erkenntnis
- das kann eine ganz beliebige sein, das kann eine religiöse sein, das kann
eine ökologische sein, das kann eine historische sein - genommen wird zu einer absoluten, dem kritischen
Diskurs entzogenen gemacht wird und dann so gehandhabt wird, daß derjenige,
der über sie verfügt, sozusagen außerhalb der skeptischen infragestellenden
Diskurse steht, also eine Immunisierung bestimmter willkürlich ausgewählter
Erkenntnisse gegenüber weiterer Kritik, gegenüber dem offenen, wissenschaftlichen,
rationalen und kritischen Diskurs. Und das hat dann eine bestimmte Kultur
des Streits, eine bestimmte Kultur des politischen und wissenschaftlichen
Streits zur Folge, nämlich den anderen, die widersprechen, insofern die
Zurechnungsfähigkeit abzuerkennen, daß man das, was sie kritisch vortragen,
nicht als ein gleichberechtigtes anderes Argument akzeptiert, sondern als
einen Abfall von der Wahrheit, als eine Verstocktheit, als eine
Unbelehrbarkeit, und daß sich die Verfechter einer solchen
fundamentalistischen Position dann eben sozusagen in einem Heiligen Krieg
gegen die anderen befinden, wo es nur
darum geht, die ... Wahrheit gegen Verstockte mit Mitteln durchzusetzen, die
dann nicht mehr unbedingt wählerisch sein müssen, eben weil von vornherein
ja feststeht, wo die Wahrheit liegt."
2.Sprecher:
Die fundamentalistische Gewißheit, im Besitz der einzigen
Wahrheit zu sein, führt zwangsläufig zu Verwerfungen: dann gibt es nur noch
wahr oder falsch, gut oder böse, Konsequenz oder faulen Kompromiß. Bahros
Vision ist keine Freiheits-, sondern eine Ordnungsutopie, das bedeutet, daß
die gesellschaftliche Entwicklung nicht sich selbst überlassen werden darf.
Sie muß einem moralischen Maßstab untergeordnet werden, einer geistigen
Führung. Er spricht emphatisch vom "Fürst der ökologischen Wende",
von "Gottesstaat" und "Unsichtbarer Kirche":
O-Ton (Bahro):
"...wir brauchen überhaupt erstmal Führung im Land, und
die Menschheit braucht Führung...Und wir haben keine gesellschaftliche
Instanz, die den viel wichtigeren Punkt setzt, wie ich sagte, der Mensch
übersteigt unendlich den Menschen, wir können uns das so organisieren, daß wir
nicht Bruch machen müssen, der Mensch kann sich mit der Erde versöhnen, der
Mensch kann sich mit sich selbst versöhnen, alles ist bewiesen...Es ist ja
nicht wahr, daß alle diese Leute, die an so etwas geglaubt haben, dann immer
Khomeiny waren, oder Torquemada oder Stalin. Allen fällt bei dieser Diskussion
auch jetzt hier noch, und zwar aus Abwehrgründen, inneren Abwehrgründen, weil
man sonst sich zu viel ändern müßte, immer nur Hitler und Stalin ein, während
Michail Gorbatschow ist zu sehen, ist eine völlig andre Gestalt und noch dazu
in demselben beschissenen System, es hat sich nämlich an dem Stalin-System, an der Form dort drüben noch
nicht viel geändert. ...Das muß auch konstituiert sein, kurzgesagt: eine
Autorität, eine Instanz, die so was sagt, die kann nicht nur politisch sein,
die muß auch geistlich sein, d.h. Menschheit muß auch als Kirche konstituiert
sein. Und wenn Menschheit als Kirche konstituiert ist, dann ist das Kirche
nicht als Kardinäle, sondern was gemeint war mit Gemeinschaft der Heiligen da
im Urevangelium."
1.Sprecher:
Bahro entwickelt eine Synthese aus Urchristentum,
Sozialismus und Mystik zu einem Erlösungsentwurf, der wichtige geistige Traditionen
des Abendlandes beerbt. Eine Heilslehre, die beansprucht, auf alle Fragen und
drängenden Probleme Antworten zu besitzen. Weil der Fundamentalismus seine
Kraft aus vermeintlich letzten Einsichten bezieht, ist er weniger an Fragen
interessiert. Umso mehr ergeht an jeden die unabweisbare Verpflichtung,
der unbezweifelten Wahrheit entsprechend auch zu handeln, d.h. konsequent zu
sein. Eine fundamentalistische Ideologie unterwirft das Leben allein dem
Prinzip der Konsequenz. Eine solche Einstellung führte die RAF von der unbedingten
Moral in den bedingungslosen Terror. "Endlich wirklich tun, wovon die
anderen nur reden. Endlich persönliche Opfer bringen, damit die gerechte
Welt aus den Theorien in die Praxis gelangt", so faßt Thomas Meyer das
unerbittliche und fatale Konsequenz-Denken der RAF zusammen.
2.Sprecher:
Konsequent sein zu wollen ist eine nicht zu unterschätzende
Versuchung. So erlöst sich das unglückliche Bewußtsein von seiner
existentiellen Einsamkeit, seinem Auf-sich-verwiesen-sein. Mit dem Zweifel aber
wird Subjektivität selber aufgehoben. Der Einzelne geht ganz im Dienst an der
Sache auf. Er wird zum Vollzugsorgan des Allgemeinen. Es gibt kein eigenes
Recht für das Besondere, weder für mich selbst noch noch für den Anderen.
Kleists Michael Kohlhaas wäre ein Beispiel für fundamentalistisches
Konsequenzdenken, das in seinem Fanatismus das Opfer des Anderen mit dem
Selbstopfer verbindet. Denn der Preis dafür, konsequent zu sein, ist nicht nur
die Selbstaufgabe des Individuums, sondern auch die Verleugnung des Anderen.
In einer solchen Haltung Radikalität zu vermuten, wäre wohl ein Irrtum. Denn
radikal zu sein heißt, eher an den Fragen interessiert zu sein als an
Antworten.
Wenn das Subjekt seine Selbstbehauptung aufgibt und sich
einem Allgemeinen unterwirft, kehrt es womöglich darin verschleiert und umso
gewalttätiger wieder. Diesem Verdacht entgeht man auch nicht dadurch, daß man
sich auf östliche Weisheitslehren beruft, etwa auf den Taoismus.
"Es gibt im Taoismus das Prinzip des Wu-Weh, wie das
auf chinesisch heißt, also des Tun-Lassens, des Nicht-mehr-Tuns. Das hat nur
in einer Philosophie einen Sinn, wo das Subjekt nichts wert ist, wo das Subjekt
nur als ein Partikel im ewigen Pulsieren der Natur eine Rolle spielt. Da ist
die Perspektive der Würde, da ist die Perspektive der Emanzipation annulliert.
Und so ist es bei Bahro im Grunde auch. Da spielt ja dann
nur eine Rolle sozusagen das unterhalb der Persönlichkeitsebene stattfindende
Naturgeschehen im Einzelnen. Und das sind Ansätze, die klingen als scheinbares
Korrektiv für einen überzogenen, gruppenbezogenen und gegenwartsbezogenen
Individualismus, der ja tatsächlich nicht tragfähig ist, klingen die zunächst
mal plausibel, bieten aber weder im Denken noch im Handeln eine Grundlage für
die Lösung der Probleme der Moderne, aber eben auf der Grundlage des Menschenbildes
der Moderne..."
1.Sprecher:
Wesentlich für das Menschenbild der Moderne ist die Anerkennung
des Anderen in seiner Fremdheit und Unverfügbarkeit. Dies aber setzt die
Selbstbehauptung des Subjekts in seiner Einzigkeit voraus, mit all den
Gefährdungen und Unsicherheiten, die sich daraus ergeben, für es selbst wie
für die Welt überhaupt.