1.Sprecher:
"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."
2.Sprecher:
Walter Benjamin hat einem naiven Fortschrittsglauben dieses düstere Bild entgegengehalten.
Der Engel der Geschichte wird zum Todesengel, der Fortschritt zum Alptraum. In den Blick geraten die destruktiven Kräfte der Geschichte. Die entfesselte Produktivität entzieht sich mehr und mehr der Kontrolle, wird zum unaufhaltsamen Getriebenwerden, mit dem Rücken zur Zukunft, blind für ein Ziel, das ohnehin längst veschwunden ist.
Der Prozeß der Zivilisation ist selbstläufig geworden. Harrisburg, Tschernobyl, Seveso, abgeholzte Regenwälder und wachsendes Ozonloch wecken apokalyptische Visionen, die bis ins Alltagsbewußtsein drängen. Die drohende Selbstvernichtung der Mensch­heit ruft Wünsche nach Neuorientierung hervor, ver­langt nach einer fundamentalen Revision unseres Welt­verhält­nisses.
1.Sprecher:
Dabei war es der ursprüngliche Anspruch der Aufklärung - wie Horkheimer und Adorno in ihrer "Dialektik der Aufklärung" formulierten - "von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen". Zwar hat sich der Mensch zum Schöpfer der Welt erklärt und verwandelt die Welt immer mehr zu seinem Entwurf. Dies hat ihm aber nicht die Angst nehmen können, im Ge­gen­teil.
Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die politischen Umwälzungen der letzten zwei Jahrhunderte, die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks sind Folgen der Entlassung aus alten Botmäßigkeiten. Der neuzeitliche Mensch folgt einem unbedingten Willen zur Selbstbestimmung. Dies ist nach Habermas das wesentliche Kennzeichen der Moderne.
2.Sprecher:
"Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen... Das erklärt die Irritierbarkeit ihres Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich selbst 'festzustellen'."
1.Sprecher:
Damit wird zugleich das Dilemma der Moderne deutlich: die Frei­heit ist vor allem Verpflichtung und bürdet dem Menschen die Last der Selbstbegründung auf.
Fortan gibt es nichts fraglos Anerkanntes mehr, nichts, was nicht bezweifelt werden kann, also begründet werden muß. Ob religiöse, oder mora­lische Vorstellungen, ob Liebe oder Kin­dererziehung, überall gibt es verschiedene Modelle, Ansätze und Experi­mente,  überall Zweifel und chronische Entscheidungsunsicherheit. Die Moderne ist das Ende jeder Selbstverständlichkeit.
Der moderne Mensch befindet sich in einer permanenten Identi­täts­krise. Von Nietzsche wurde er im "Zarathustra" als Seil­tän­zer be­schrieben: über dem Abgrund und so gleichsam ins Nichts gestellt, muß er an sich selbst einen Halt finden, ein immer gefährdetes, flüch­tiges Gleichgewicht.
2.Sprecher:
Man kann diese prekäre Balance lustvoll bejahen und sich in ihr ein­ richten. Das tut die Postmoderne. Sie bejaht die Ero­sion universaler Sinnsetzungen und überläßt sich den vielfäl­tigen Perspektiven, ohne sie vereinheitlichen zu wollen. Oder aber man verwirft die postmoderne Leichtigkeit und sucht sich in letzten Wahrheiten zu verankern. Das tut der Fundamen­ta­lismus.
Postmoderner Pluralismus und Fundamentalismus stellen zwei einander entgegengesetzte Versuche dar, auf die Situation der Moderne zu reagieren. Dazwischen, als dritte geistige Strömung, plaziert sich der kommunikationstheoretische Universa­lis­mus von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel.
Gegen die postmoderne Leichtfertigkeit beharrt er auf der ori­en­­tierenden Kraft der Vernunft. In jeder Kommunikation sei Vernunft schon vorausgesetzt und garantiere so allgemein­gül­ti­ge Verbindlich­keiten. Diese Vernunftkonzeption beschränkt sich allerdings auf die demokratischen Regeln der Kommuni­kation und ver­sagt es sich, inhaltliche Wahrheiten oder gar Weltbilder fest­­­­­zulegen.
1.Sprecher:
Anders der Fundamentalismus. Er füllt das moderne Vakuum wie­der mit letzten Wahrheiten und Werten. Daß diese Wertsetzung eine Herausforderung demokratischer Gesellschaften sein kann, ja sogar eine Kriegserklärung an sie, das hat spätestens Khomeinys Mordaufruf gegen den Schriftsteller Salman Rushdie ins öffentliche Be­wußtsein gerückt. Aber es gibt nicht nur ei­nen islamischen Funda­mentalismus, auch kulturelle Strö­mungen im Westen tragen funda­mentalistische Züge.
"Ein Gespenst geht um", so der erste Arbeitstitel einer Studie von Thomas Meyer, die dann dieses Frühjahr als Buch erschien: "Funda­mentalismus - Aufstand gegen die Moderne". Außerdem hat er einen Band mit Aufsätzen verschiedener Autoren zu diesem Thema heraus­gegeben. Meyer ist Direktor der Gustav-Heinemann-Akademie in Freudenberg und Dozent für Politikwissenschaft an der Gesamt­hochschule Siegen.
2.Sprecher:
Das "Gespenst" des Fundamentalismus erscheint in vielerlei Ge­stalt: als islamischer Fundamentalismus, der über den Iran hi­naus, sogar bis in nichtislamische Länder hinein an Einfluß ge­­winnt; als protestantischer Fundamentalismus - das sind vor allem die Fern­seh­prediger in den USA, die mit erzkonservativen Moralvorstellun­gen und mit modernsten Medien Politik machen; als katholischer Fundamentalismus, z.B. in der Bewegung um den exkommunizierten Erz­bischof Lefebvre oder in der Vereinigung "Opus Dei", im Spanien Francos gegründet und heute mit weit­reichendem internationalen Ein­fluß auf Wirtschaft und Politik. Hierzulande findet man im Spektrum des ökologischen Denkens ei­­nen Fundamen­talismus, der über radikale ökologische Reformen hinaus eine totale Neu­orientierung unseres Verhält­nisses zur Natur und zum Leben überhaupt fordert.
Aber mit welchem Recht lassen sich so verschiedene Bewegungen unter den einen Begriff des Fundamentalismus bringen? Was ha­ben sie denn Gemeinsames?
Ihnen allen liegt ein gemeinsames Motiv zugrunde, Meyer spricht von einem Bedürfnis, das gegen die Zumutungen einer entfesselten Modernisierung geltend gemacht wird.
O-Ton (Meyer):
"Das fundamentalistische Bedürfnis würde ich so skizzieren: Es verlangt nach festen Gewißheiten im Fluß der verschie­denen, un­­sicher bleibenden Orientierungsangebote und fester ver­bind­licher Vorgaben für die eigene Lebensführung, für die gesell­schaftliche und politische Orientierung. Fundamentalismus sucht also nach einem absoluten, nicht mehr an­zweifelbaren Fundament im Strom der vielen irritierenden und offenblei­ben­den Angebote, was Erkenntnis anbetrifft, was Le­bens­führung an­betrifft, aber auch was politische und soziale Handlungsmög­lich­keiten anbetrifft."
"Also in Umkehrung der kantischen Definition von Aufklärung, nach der Aufklärung ja der Ausgang des Menschen aus einer selbstver­schuldeten Unmündigkeit ist, wäre Fundamentalismus der Ausgang des Menschen aus der Mündigkeit in eine selbst­ver­schuldete, aber bewußt gewählte Unmündigkeit, eben in eine ab­solute Verbind­lich­keit nicht mehr bezweifelbarer Grundlagen für Denken, Leben und politisches Handeln."
1.Sprecher:
Schon in der Vergangenheit zogen Modernisierungsschübe restau­rative fundamentalistische Strömungen nach sich. So reagierte auf die Aufklärung und ihre rationalistische Entzauberung der Welt die Romantik mit ihrem Traum der Wiederversöhnung von Mensch und Natur. Das fundamentalistische Bedürfnis klagt die aufklärerische Vernunft an, die alten Wahrheiten und Werte zer­­stört, die Ganz­heiten zersetzt zu haben, in denen der Mensch ehemals Geborgen­heit finden konnte. Der Fundamenta­lis­mus zielt auf eine Vereinigung von Kosmos und Geschichte, will eine Einheit wiedergewinnen von all­ge­meiner Welt­erklärung und individueller Lebensführung.
Eine solche Einheit von Erkennen und Handeln wäre nach Meyer nur dann akzeptabel, wenn sie von einer demokratischen Öffent­lichkeit getragen würde.
O-Ton (Meyer):
"Etwas anderes war die vormoderne Einheit, die ja als eine vermeintlich geoffenbarte Einheit einer vorvernünftigen Interpretation der Welt und des individuellen Handelns zustandegekommen war, also die religiöse Offenbarung war ja das einheitsstiftende Prinzip, und die Einheitsansprüche, die darin lagen, waren eben dem Zweifel der vernünftigen Kritik entzogen. Die bestanden eben zum Beispiel darin, daß ein Weltbild existierte, in dem die göttliche Fügung, die göttliche Urheberschaft, eine Hauptrolle spielte, das Handeln des Einzelnen in erster Linie daraufhin orientiert war, am Ende in dieser göttlichen Weltordnung zum Heil im jenseitigen Leben zu gelangen, und die gesellschaftliche Organisation als ein Aus­fluß der göttlichen Weltordnung galt, und keiner rationalen und kritischen Diskussion unterzogen werden konnte."
2.Sprecher:
Rudolf Bahro hat mit der "Logik der Rettung" das grundlegende Buch des ökologischen Fundamentalismus geschrieben. Wegen sei­nes ersten Buches "Die Alternative" 1978 in der DDR zu acht Jahren Gefäng­nis verurteilt, 1979 in die Bundesrepublik abge­schoben, wurde er Mitbe­gründer der "Grünen", deren Partei er 1985 verlassen hat aus Ent­täuschung über ihre politische Halb­herzigkeit.
Bahros eigene Kritik hingegen geht aufs Ganze : Unsere Indu­strie­ge­sell­schaft ist dem Untergang geweiht, wenn sie so wei­ter­läuft wie bisher. Die demokratischen Institutionen sind will­­­fährige In­strumente, der Umweltschutz nur ein Ablaßhandel, - in unse­rer Zivilisation, die beherrscht wird von einer "Logik der Selbstaus­rottung"..
1.Sprecher:
Mit der Leidenschaft eines alttestamentarischen Propheten, ver­­­bunden mit scharfsinniger Kulturkritik, fordert Bahro den abendländischen Menschen auf, in sich zu gehen. Denn die Wur­zel allen Übels ist die egozentrische abendländische Indi­vi­du­a­lität. Eine radikale Kritik muß am Menschen selbst an­setzen, denn - so Bahro:
"Was wir tun, was wir uns und aller Kreatur antun, kann nur darin wurzeln, was wir sind."
Selbstaufklärung, Aufklärung nach innen ist für Bahro der er­ste Schritt seiner "Logik der Rettung":
O-Ton (Bahro)
"...der Weg geht vorwärts in Richtung Bewußtheit, und Bewußt­heit schließt ein - das ist die große Botschaft eigentlich, die uns von Freud und Jung dann kommt -  daß wir uns aller­dings dieser immer noch in uns wirksamen und mächtigen Schich­ten, und die auch nicht zu eliminieren sind, im Gegen­teil, die zu integrieren sind, daß wir uns die viel genauer ansehen, be­wußter ansehen, Meditation heißt eigentlich also, die Bewußt­heit auf diese dunklen Punkte richten in uns, die wenigstens erst einmal zugänglich machen, diese dunklen Punkte...Die gan­ze tiefenpsychologische Arbeit der letzten 100 oder 80 Jahre, die hat eigentlich dem Westen endlich auf diese hier übliche ma­­terialistische Art und Weise, wenn ich etwa an Wilhelm Reich denke, erklärt, was sonst die alten Meister, was Buddha in In­dien auf weder materialistische noch idealistische Weise, er­klär­te, nämlich Reich hat gezeigt, wie eigentlich unser Geist in angst­bestimm­ten Panzerungssystemen, in Sicher­heitspolitik gefan­gen­­­sitzt."
2.Sprecher:
Eine spirituelle Erneuerung soll das aggressiv-ängstliche Ich überwinden, die Utopie eines "neuen Menschen", die die verein­zelte und abgetrennte Subjektivität auf ihr Fundament zurück­führt. Bahro spricht von der "Gottheit in uns", eine Vorstel­lung aus  mysti­schen Traditionen. Gemeint sind die tieferen Schichten unseres Selbst, wo die kosmische Ganzheit gleichsam eine Stimme in uns hat. Oder wie es der mittelalterliche My­sti­­ker Eckhart ausdrückt: "Es gibt in unserer Seele einen Kreu­­zungspunkt von Ich und Uni­versum."
Für Meyer läuft eine solche kosmische Integration des Menschen auf die Selbstpreisgabe des Subjekts hinaus. Wird Vernunft er­setzt durch höriges Vernehmen? Oder geht es nicht vielmehr um eine Frei­setzung menschlicher Potentiale? Bahro jedenfalls meint hier keine Unterwerfungsbereitschaft, sondern eine hö­here Form der Bewußt­heit, eine souveränere Selbstfindung.
O-Ton (Bahro):
"Und wir haben Körper, im Sinne Wahrnehmung, wir haben Ver­stand im Sinne hier dieser Computerbegrifflichkeit, wir haben Seele oder auch Intelligenz in dem Sinne, wie Thomas meinte, Thomas von Aquin, intellectus, das war in erster Linie die Fä­hig­keit, Gott zu erkennen, und wir haben Geist, da ist die Lo­gik, die zum Zentrum zielt, und schließlich die Fähigkeit so auf­gehoben zu sein, zu fühlen uns im Weltganzen, wie das Baby sich im Mutter­schoß fühlt.Aber das ist eine ungeheuere geisti­ge Leistung. Wir sind dann eher sehr auf verstandesmäßige Ver­engung gekommen. Und spirituelle Übungen heute, d.h. ei­gent­lich, daß wir uns in der Ganzheit unserer geistig-seelisch    -körperlichen Kapa­zitäten dem Weltzusammenhang stellen. Und von daher ergibt sich Konsens also auch nach meinen Erfah­run­gen ganz von selbst...( ) Wenn man auf diese Instanzen in uns zu­rückkommt, dann stellt sich raus, daß der Mensch der Mensch ist, Mann und Frau, und daß wir, mechanisch gesagt, zu 95% das­­selbe wollen.
Und daß diese Umkehrung, die wir uns hier leisten, also 95% so­ge­nannte Individualität gegen 95% Individualität des lieben Näch­sten, des anderen Napoleon, der auch bloß die ganze Welt erobern möchte oder den Nobelpreis braucht oder was auch im­mer. Es ist hirn­rissig, einfach kollektiver Wahn ist das, die­se individua­listische Gegeneinanderstellung der Menschen.
Also Konsens ergibt sich bei einem, der wenn man aus Weitper­spektive dahinblickt, wohin der Mensch angelegt ist, ergibt sich Konsens von selbst, wenn wir auch die richtige, also die kosmisch richtige Ordnung haben, die evolutionär richtige Ord­nung hier haben."
1.Sprecher:
Die Verfahren unserer parlamentarischen Willensbildung schei­nen unzureichend, das Gemeinwohl zu repräsentieren und die Grund­lagen des Lebens zu schützen. Sie reduzieren die Indivi­dualität auf den "Charme einer Lottokugel". Insofern ist die Vorstellung intensiveren Konsenses, der sich von selbst ein­stellt, natürlich verlockend. Aber auch wenn in uns eine uni­verselle Weisheit wirkt, dieser Sinn für das Ganze jedoch meh­rere Stimmen hat, die nicht von selbst konvergieren? Dann droht der fundamentalistische Wunsch nach Versöhnung abzu­glei­ten in einen autoritären Harmonismus, der keinen Raum mehr für ein Andersdenken zuläßt.
O-Ton (Meyer):
"Also ich denke, daß Fundamentalismus sich, was den Umgang mit Denken anbetrifft, vielleicht durch zwei zentrale Kriterien aus­­­zeichnet:
Das eine ist, daß irgendeine vermeintlich sichere Erkenntnis - das kann eine ganz beliebige sein, das kann eine religiöse sein, das kann eine ökologische sein, das kann eine histo­ri­sche sein -  genommen wird zu einer absoluten, dem kri­ti­schen Diskurs ent­zogenen gemacht wird und dann so gehandhabt wird, daß derjenige, der über sie verfügt, sozusagen außerhalb der skeptischen infra­gestellenden Diskurse steht, also eine Immu­nisierung bestimmter willkürlich ausgewählter Erkenntnisse ge­genüber weiterer Kritik, gegenüber dem offenen, wissen­schaft­­lichen, rationalen und kriti­schen Diskurs. Und das hat dann ei­­ne bestimmte Kultur des Streits, eine bestimmte Kultur des politischen und wissenschaftlichen Streits zur Folge, näm­lich den anderen, die widersprechen, insofern die Zurechnungs­fähig­keit abzuerkennen, daß man das, was sie kritisch vortra­gen, nicht als ein gleichberechtigtes anderes Argument akzep­tiert, sondern als einen Abfall von der Wahr­heit, als eine Ver­stockt­heit, als eine Unbelehrbarkeit, und daß sich die Ver­fechter ei­­ner sol­chen fundamentalistischen Position dann eben sozusa­gen in einem Heiligen Krieg gegen die anderen befinden,  wo es nur darum geht, die ... Wahrheit gegen Verstockte mit Mitteln durch­zusetzen, die dann nicht mehr unbedingt wähle­risch sein müs­­sen, eben weil von vornherein ja feststeht, wo die Wahr­heit liegt."
2.Sprecher:
Die fundamentalistische Gewißheit, im Besitz der einzigen Wahr­heit zu sein, führt zwangsläufig zu Verwerfungen: dann gibt es nur noch wahr oder falsch, gut oder böse, Konsequenz oder faulen Kompromiß. Bahros Vision ist keine Freiheits-, sondern eine Ordnungs­utopie, das bedeutet, daß die gesell­schaftliche Entwicklung nicht sich selbst überlassen werden darf. Sie muß einem moralischen Maßstab untergeordnet werden, einer geistigen Führung. Er spricht emphatisch vom "Fürst der ökologischen Wende", von "Gottesstaat" und "Unsichtbarer Kir­che":
O-Ton (Bahro):
"...wir brauchen überhaupt erstmal Führung im Land, und die Mensch­­heit braucht Führung...Und wir haben keine gesellschaft­liche Instanz, die den viel wich­tigeren Punkt setzt, wie ich sagte, der Mensch übersteigt unendlich den Menschen, wir kön­nen uns das so organisieren, daß wir nicht Bruch machen müs­sen, der Mensch kann sich mit der Erde versöhnen, der Mensch kann sich mit sich selbst versöhnen, alles ist be­wiesen...Es ist ja nicht wahr, daß alle diese Leute, die an so etwas ge­glaubt haben, dann immer Khomeiny waren, oder Torquemada oder Stalin. Allen fällt bei dieser Diskussion auch jetzt hier noch, und zwar aus Abwehrgründen, inneren Abwehr­gründen, weil man sonst sich zu viel ändern müßte, immer nur Hitler und Stalin ein, während Michail Gorbatschow ist zu sehen, ist eine völlig andre Gestalt und noch dazu in dem­selben beschissenen System, es hat sich nämlich an dem  Stalin-System, an der Form dort drüben noch nicht viel geän­dert. ...Das muß auch konsti­tuiert sein, kurzge­sagt: eine Autorität, eine Instanz, die so was sagt, die kann nicht nur politisch sein, die muß auch geist­­­lich sein, d.h. Menschheit muß auch als Kirche konsti­tuiert sein. Und wenn Mensch­heit als Kirche konstituiert ist, dann ist das Kirche nicht als Kardi­näle, sondern was gemeint war mit Gemein­schaft der Heiligen da im Urevangelium."
1.Sprecher:
Bahro entwickelt eine Synthese aus Urchristentum, Sozialismus und Mystik zu einem Erlösungsentwurf, der wichtige geistige Tra­ditionen des Abendlandes beerbt. Eine Heilslehre, die bean­sprucht, auf alle Fragen und drängenden Probleme Antworten zu be­sitzen. Weil der Fundamentalismus seine Kraft aus vermeint­lich letzten Einsich­ten bezieht, ist er weniger an Fragen in­te­ressiert. Umso mehr ergeht an jeden die unabweis­bare Ver­pflich­tung, der un­bezweifelten Wahrheit entsprechend auch zu handeln, d.h. kon­se­quent zu sein. Eine funda­menta­listi­sche Ide­o­logie unterwirft das Leben allein dem Prinzip der Kon­se­quenz. Eine solche Einstellung führte die RAF von der unbe­ding­­ten Moral in den bedingungslosen Terror. "Endlich wirklich tun, wo­von die anderen nur reden. Endlich per­sönliche Opfer brin­­gen, damit die gerechte Welt aus den Theorien in die Pra­xis gelangt", so faßt Thomas Meyer das unerbittliche und fata­le Konsequenz-Denken der RAF zusammen. 
2.Sprecher:
Konsequent sein zu wollen ist eine nicht zu unterschätzende Ver­suchung. So erlöst sich das unglückliche Bewußtsein von sei­ner existentiellen Einsamkeit, seinem Auf-sich-verwiesen-sein. Mit dem Zweifel aber wird Subjektivität selber aufge­hoben. Der Einzelne geht ganz im Dienst an der Sache auf. Er wird zum Vollzugsorgan des Allgemeinen. Es gibt kein eigenes Recht für das Besondere, we­der für mich selbst noch noch für den Anderen. Kleists Michael Kohl­haas wäre ein Beispiel für fun­damentalistisches Konsequenz­denken, das in seinem Fanatis­mus das Opfer des Anderen mit dem Selbstopfer ver­bindet. Denn der Preis dafür, konsequent zu sein, ist nicht nur die Selbst­aufgabe des Individuums, sondern auch die Verleugnung des An­de­ren. In einer solchen Haltung Radikalität zu vermuten, wäre wohl ein Irrtum. Denn radikal zu sein heißt, eher an den Fra­gen interessiert zu sein als an Antworten.
Wenn das Subjekt seine Selbstbehauptung aufgibt und sich einem All­gemeinen unterwirft, kehrt es womöglich darin verschleiert und umso gewalttätiger wieder. Diesem Verdacht entgeht man auch nicht dadurch, daß man sich auf östliche Weisheitslehren beruft, etwa auf den Taoismus.
"Es gibt im Taoismus das Prinzip des Wu-Weh, wie das auf chi­ne­sisch heißt, also des Tun-Lassens, des Nicht-mehr-Tuns. Das hat nur in einer Philosophie einen Sinn, wo das Subjekt nichts wert ist, wo das Subjekt nur als ein Partikel im ewigen Pul­sie­ren der Natur eine Rolle spielt. Da ist die Perspektive der Würde, da ist die Perspektive der Emanzipation annulliert.
Und so ist es bei Bahro im Grunde auch. Da spielt ja dann nur eine Rolle sozusagen das unterhalb der Persönlichkeitsebene statt­findende Naturgeschehen im Einzelnen. Und das sind An­sätze, die klingen als scheinbares Korrektiv für einen über­zogenen, grup­pen­bezogenen und gegenwartsbe­zogenen Indivi­dua­lismus, der ja tat­sächlich nicht tragfähig ist, klingen die zu­nächst mal plau­sibel, bieten aber weder im Denken noch im Handeln eine Grundlage für die Lösung der Probleme der Moder­ne, aber eben auf der Grund­lage des Menschen­bildes der Moderne..."
1.Sprecher:
Wesentlich für das Menschenbild der Moderne ist die Aner­ken­nung des Anderen in seiner Fremdheit und Unverfügbarkeit. Dies aber setzt die Selbstbehauptung des Subjekts in seiner Einzig­keit vo­raus, mit all den Gefährdungen und Unsicher­hei­ten, die sich da­raus ergeben, für es selbst wie für die Welt überhaupt.