Musik:
Griechische Folklore
(Auftakt, im folgenden unterlegen)
Zitator:
Urlaub auf Mykonos. Die griechische Kykladeninsel scheint auf den
ersten Blick noch schöner geworden seit der letzten Reise: Verschwunden sind die
Bauruinen und Schmutzwinkel. Das Weiß der Häuser und Kirchen ist noch
strahlender, die Szenerie der Windmühlen noch pittoresker, und die
Bougainvillea blüht immer üppiger. Doch näher besehen gleicht der Ort immer
mehr den Postkartenklischees. Als ob Mykonos sich künstlich bemühe, besonders
natürlich und echt zu sein. Und in einer Art Übererfüllung aller Merkmale
einer Kykladeninsel wirkt das neue, das touristisch gestylte Mykonos
paradoxerweise griechischer als das ursprüngliche je gewesen ist. Verkehrte
Welt: Die Postkarte hat über die Wirklichkeit, das Abbild über das Original triumphiert.
Autor:
Das Beispiel
Mykonos veranschaulicht, was der französische Soziologe und Kulturkritiker
Jean Baudrillard mit seinem Schlüsselbegriff Simulation seit langem kritisiert.
Wir leben, so Baudrillard,
in einer Kultur der Simulation, der falschen Vorspiegelung, die so perfekt
geraten ist, dass wir im Reich der Zeichen den Boden der Erfahrung verloren
haben. Nicht nur auf Mykonos wird das Wirkliche immer unwirklicher. Baudrillard
schreibt:
Zitator:
„Manche Orte legen sich einen historischen Kern zu, der mit
seinen inszenierten Traditionselementen an eine Vergangenheit erinnert, die nie
gewesen ist. So gleichen Teile der Umwelt einem aufgeklappten Fernsehschirm, in
dem man spazieren geht.“
Autor:
Baudrillard – von vielen als Apokalyptiker geschmäht, weil
er den „Untergang der Kultur“ das „Ende der Geschichte, " ja sogar das „Ende
des Realen“ ausgerufen hatte - überraschte in jüngster Zeit seine Gegner. Zum
einen weil der Kritiker der medialen Bilderflut selber zur Kamera griff und
inzwischen seine Fotographien öffentlich ausstellt. Zum anderen entpuppte sich Baudrillard
als Romantiker, den die Fremde fasziniert. Von dieser Neugier auf das Andere
künden seine ausgedehnten Reisen, zuerst ins hypermoderne Nordamerika, von dort
nach Südamerika, Brasilien und Argentinien.
Aber glaubt
Baudrillard überhaupt, dass man die fremde Kultur verstehen kann, wenn doch der
Blick durch die eigene beschränkt ist?
Jean Baudrillard, O-Ton:
Wir werden nie
wissen, gründlich wissen, worum es geht in diesen Kulturen, aber … was
wesentlich für mich war, von meiner Kultur (lachend)
wegzugehen, also eine Herausforderung der eigenen Kultur. … Herumreisen in der
Welt, aber mit modernen Mitteln – das ist doch nicht dasselbe wie im 18. oder
19. Jahrhundert, wir benutzen die modernen oder hypermodernen Mittel, d.h. wir
durchreisen diese Kulturen und das ist eher vielleicht … etwas Globalisiertes
im gewissen Sinne. Aber das bringt Sie heraus aus ihrer eigenen Kultur.
Autor:
Doch die Vielfalt
der Kulturen gerät unter dem Druck der Globalisierung immer stärker in Gefahr. In
dieser Hinsicht ist Japan für Baudrillard ein interessanter Fall. Sofia
Coppolas Film Lost in Translation erzählt,
wie zwei Amerikaner sich verloren fühlen in einem unaushaltbaren, weil schrill
verwestlichten Tokio. Aber bildet diese Verwestlichung schon die ganze Wahrheit
Japans, die das Land heimsucht und die japanische Kultur deformiert? Oder – so
Baudrillard - ist diese Seite Tokios vielmehr eine Art Mimikry, eine zweite
Haut, die sich Japan übergestreift hat, um darunter seine eigene Identität umso
besser schützen und bewahren zu können?
Jean Baudrillard, O-Ton:
Japan, das
ist ein Rätsel. Darüber sagt man immer: „Japan ist jetzt globalisiert und es
findet sich dort dieselbe nivellierte Kultur usw.“ – Das glaube ich gar nicht, …
ich war in Tokio im November und für mich ist Tokio gar nicht so. … Ich habe
auch gedacht, dass die Japaner die Technik, die Moderne usw. ausgenutzt haben,
um ihr eigenes Geheimnis zu behalten.
Autor:
Baudrillard fühlt
sich angezogen vom Rätsel, vom Geheimnis, das den Menschen in Bann schlägt. Er
möchte sich von den Dingen verführen lassen. ‚Von der Verführung’ heißt eines seiner Hauptwerke. Verführen will
Baudrillard aber auch selber, und zwar den Leser. Denn seine Schriften stellen
keine Theorie mehr im klassischen Sinne dar, die eine Welt erklärt und ordnet;
kein Begriffsgebäude, das man in Ruhe auf seine Standfestigkeit prüfen kann.
Vielmehr fordert Baudrillard den Leser heraus mit kühnen Ideen und
Gedankensprüngen, er will ihn mitreißen auf seiner waghalsigen Tour.
Tatsächlich
jagen sich Baudrillards Untergangsthesen in einem Tempo, das dem Leser manchmal
schwindlig wird. Aber vielleicht liegt das genau in Baudrillards Absicht, wenn
er den Leser verführen will. Man denkt an Nietzsches Wort:
Zitator:
„Eine neue
Gattung von Philosophen kommt herauf. Ich wage es, sie auf einen nicht
ungefährlichen Namen zu taufen. …denn es gehört zu ihrer Art, irgendworin Rätsel
bleiben zu wollen. Diese Philosophen der Zukunft möchten ein Recht, vielleicht
auch ein Unrecht darauf haben, als Versucher
bezeichnet zu werden.“
Autor:
Ist
Baudrillard ein Versucher im Sinne Nietzsches? Sieht er sich selber so? Möchte
er die Menschen von eingefahrenen Wegen weglocken, von festen, scheinbar
endgültigen Wahrheiten abbringen?
Jean Baudrillard, O-Ton:
(Lachen) Ich würde das hoffen, aber ich
weiß es nicht.
Sowieso
würde ich diese Einstellung wählen: …Einmal allerlei Hypothesen, allerlei
Fiktionen entwerfen, irgendwie der Wahrheit entwischen … - Experimentalphilosophen,
wie Nietzsche sagt: Versucher, das würde ich nicht verneinen, … Verführung,
aber nicht als leichtsinnige, sondern als sehr ernste Verführung, also immer
die Leute oder die Ideen von ihrer Endbedeutung abbringen.