1. O-Ton, Jean Améry:

Anhalten an einem kleinen Bauernhaus, wo eine ältere Frau, einen Trog vor sich, kleine Wäsche wäscht. Neues Fragen. … Ob es denn hier vor dem Kriege und während seiner ein großes Lager gegeben hätte, le Camp de Gurs? … Und wo das gewesen sei? Nun wendet sie sich endlich dem Fragenden zu, deutet mit der zerknitterten, tief gebräunten Hand über ein weites Feld, Wiesen, Äcker, Sträucher, vereinzelte Kastanienbäume. … Hier, sagt die Frau, hier lag das Camp de Gurs. Die Spuren sind alle erloschen. Nicht ohne Entsetzen und eine tiefe Todesangst denkt der Besucher: Gras ist gewachsen über meine Vergangenheit; es ist wirklich Gras gewachsen, ich dachte immer, das sei nur eine Redensart.

 

Autor:

Der Schriftsteller  und Philosoph Jean Améry schildert, wie er in Südfrankreich am Fuß der Pyrenäen nach jenem Gefangenlager sucht, wohin er selbst 1940 deportiert wurde. Jean Améry, österreichischer Jude, litt unter der nationalsozialistischen Herrschaft, unter ihrem Terror in vielfacher Gestalt: Vertreibung aus der Heimat, Exil, Folter, Zwangsarbeit und KZ. Améry überlebte, doch er war an Leib und Seele schwer gezeichnet. Während Jean Améry gegen die wahr gewordenen Alpträume der Geschichte anschrieb, wollte die deutsche Gesellschaft schon bald nach dem Krieg nicht mehr mit Fragen nach Schuld oder Verstrickung behelligt werden. Gras sollte vielmehr über alles wachsen. In bitter ironischem Ton kommentierte Améry die Verjährungsdebatte:

 

2. O-Ton, Jean Améry:

Im Grunde bitte ich die Deutschen nur um etwas Geduld. Sie sollen warten und ihre euphorische Vergebensfreudigkeit zügeln, bis der letzte von uns Betroffenen verschwunden ist. Es kann ja nicht mehr lange dauern.

 

Autor:

Jean Améry protestierte gegen das kollektive Vergessen. 1966 veröffentlichte er die autobiographische Schrift „Jenseits von Schuld und Sühne.“ Es waren „Bewältigungsversuche eines Überwältigten“, wie das Werk im Untertitel hieß.  Améry wollte sich seine Erfahrungen als Opfer von der Seele schreiben. Tiefe psychische Narben waren zurückgeblieben. Das Erlittene schien ebenso unauslöschlich wie jene Ziffer 172364 auf seinem linken Unterarm, die ihm die Nazis in Auschwitz eingebrannt hatten. Améry verfasste jedoch keinen reinen Erfahrungsbericht. Er wollte vielmehr - über seinen konkreten Fall hinaus - die Situation des Opfers mit den Mitteln existentialistischer Philosophie begreifen und verständlich machen.

Dabei trug er das Licht der Aufklärung in die düsteren Winkel der Geschichte, bis ihn die Schatten der Vergangenheit endgültig einholten.

Am 17. Oktober 1978 wurde Améry in einem Salzburger Hotelzimmer tot aufgefunden. Er hatte sich mit einer Überdosis Schlafmittel den - wie er einmal schrieb – „Weg ins Freie“ gebahnt.

 

Jazz-Intermezzo:

 

Autor:

Jean Améry, der eigentlich Hans Mayer hieß, wurde 1912 in Wien geboren. Der Vater fiel im Ersten Weltkrieg für Kaiser und Vaterland. Die Mutter betrieb in Bad Ischl eine kleine Pension. Améry absolvierte nach dem Abitur eine Buchhandelslehre, studierte in Wien Literatur und Philosophie.  Wie wohl jüdischer Herkunft wurde er katholisch erzogen. Als Jude begriff er sich erst, nachdem ihn die Nürnberger Rassegesetze dazu erklärten. Demonstrativ trat er 1937 der jüdischen Gemeinde bei. Nach dem Anschluß Österreichs 1938 floh er aus dem Dritten Reich nach Belgien. Als der Krieg begann, wurden dort Flüchtlinge wie Améry zu so genannten feindlichen Ausländern erklärt und interniert.  1941 gelang ihm die Flucht aus dem Lager Gurs zurück ins besetzte Brüssel, wo sich seine Frau versteckt hielt. Améry schloss sich einer kommunistischen Widerstandsgruppe an.

 

Zitator:

Auf einem der Flugblätter, die ich im Augenblick meiner Festnahme bei mir trug, stand ebenso bündig wie propagandistisch ungeschickt: 'Tod den SS-Banditen und Gestapohenkern!'

 

Autor:

Nach seiner Verhaftung wurde Améry von der Gestapo verhört, danach in die Festung Breendonk geschafft. Dort folterten ihn SS-Leute. Améry hat das Unsägliche beschrieben: den Tumult, den die Schmerzen im Körper anrichten; die brutale Erniedrigung; die entsetzliche Einsamkeit; vor allem die traumatischen Folgen der Folter:

 

3. O-Ton, Jean Améry:

Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wieder gewonnen. Dass der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht. Der gemartert wurde, ist waffenlos der Angst ausgeliefert. Sie ist es, die fürderhin über ihm das Zepter schwingt.

 

Autor:

Die Folter traumatisiert das Opfer. Sie hinterlässt in der Psyche eine verheerende Spur, von der auch die Opfer sexuellen Missbrauchs gezeichnet sind.

Dem Opfer der Folter ist jede Möglichkeit der Gegenwehr, jede Aussicht auf Hilfe genommen. Es ist total ausgeliefert, und einsam in eine Weise, die kein Außenstehender nachempfinden kann. Die Folter durchschlägt den Schutzschild der Psyche, sie vernichtet – so Améry – das Weltvertrauen, das elementare Gefühl von Sicherheit, das jeder Mensch zum Leben braucht. Stattdessen quält das Opfer fortan die entsetzliche Gewissheit, dass diese Welt sich eine Hölle verwandeln kann.

 

Jazz-Intermezzo:

 

Autor:

Nach dreimonatiger Einzelhaft wurde Améry nach Auschwitz-Monowitz deportiert. Dort musste er als Schreiber im Buna-Werk der IG Farben arbeiten. Vor der anrückenden Roten Armee wurde er ins KZ Buchenwald geschafft, schließlich weiter ins KZ Bergen-Belsen, wo ihn im April 1945 die britische Armee befreite.

Améry gelang es zu überleben, aber er war entwurzelt, orientierungslos und fremd in der Welt. Deutsch, die geliebte Sprache, war ihm aus dem Mund seiner Peiniger entgegengeschlagen.  Aus der Heimat hatte man ihn vertrieben, ihm jegliche kulturelle Zugehörigkeit abgesprochen, ja sogar das Existenzrecht. Stattdessen hatten sie ihm ein Stigma angeheftet, in dessen Widersprüchen er nun gefangen saß: Zwang und Unmöglichkeit Jude zu sein –wie er es in einem titel selber formulierte.

Améry hat dies alles später nicht nur beschrieben, sondern auch reflektiert: Die Emigration öffne zwar den Menschen, befreie ihn von Provinzialismus, aber wenn sie mit einem völligen Verlust der Heimat einhergehe, so sei dies katastrophal. Améry litt an Heimweh:

 

 

4. O-Ton, Jean Améry:

Ein übles, zehrendes Weh, das gar keinen volksliedhaft-traulichen, ja überhaupt keinen durch Gefühlskonventionen geheiligten Charakter hat und von dem man nicht sprechen kann im Eichendorff-Tonfall. Ich spürte es zum ersten Mal durchdringend, als ich mit fünfzehn Mark fünfzig am Wechselschalter in Antwerpen stand, und es hat mich so wenig verlassen wie die Erinnerung an Auschwitz oder an die Tortur oder an die Rückkehr aus dem Konzentrationslager, als ich mit fünfundvierzig Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt stand, noch einmal überaus leicht geworden nach dem Tode des einzigen Menschen, um dessentwillen ich zwei Jahre lang Lebenskräfte wach erhalten hatte.

 

Autor:

Dem KZ entronnen, traf Améry die Nachricht, dass seine Frau inzwischen verstorben war. Er entschloss sich dennoch in Brüssel zu bleiben. Und hier legte er sich später jenes französische Pseudonym Améry zu, das ein Anagramm seines deutschen Namens Mayer darstellt. In der Verwandlung des Namens symbolisierte er seine Distanz zu Österreich und Deutschland, darin zeigte sich aber auch sein Wille,  die eigenen Identitätsbrüche ins Produktive zu wenden. „Versuche mit Wörtern die Welt zu bewältigen“ – so bezeichnete er seine ersten Texte nach dem Krieg: Erzählungen, einen Roman, der Fragment blieb, zahlreiche Essays.

Es folgten Aufsätze über politische und literarische Themen, vor allem für Zeitungen und Zeitschriften in der Schweiz, darunter eine Sammlung von Porträts großer Jazz-Musiker, deren künstlerische Rebellion ihn faszinierte. Ein einziges Mal traf er Jean Paul Sartre, den er verehrte und dessen existentialistische Philosophie er sich zu eigen machte und verteidigte, am Ende sogar gegen Sartre selbst, als dieser zum Marxismus konvertierte.

 

Jazz-Intermezzo:

 

Autor:

Es dauerte zwanzig Jahre, bis die autobiographischen Texte aus ihm hervordrängten, bis er seine Erfahrungen ausdrücken und reflektieren konnte. 1964 entstanden zuerst der Essay: „Jenseits von schuld und Sühne.“ Später „Unmeisterliche Wanderjahre“ und schließlich „Örtlichkeiten.“

Seit dem vergangenen Jahr, also fast 25 Jahre nach seinem Tod, findet der Leser diese autobiographische Trilogie nun in einem Buch versammelt, erschienen als erster Band einer Gesamtausgabe der Werke Amérys.

In seiner biographischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus trieb Améry keine kühle objektive Geschichtswissenschaft. Stattdessen schrieb er mit radikal subjektiver Stimme, die allerdings nicht bloß eigene Erlebnisse artikulierte, sondern existentielle Fragen stellte und moralische Wertungen äußerte.

 

5. O-Ton, Jean Améry:

Ich glaube daran, wenn ich nun einmal versuche, jenseits geschichtlicher Objektivität aus der Betroffenheit heraus, aus der Befangenheit, aus dem Entsetzen, aus der Wut, aus den Ressentiments heraus … zu schreiben, dass ich dem Ereignis gerechter werde als jene, die schon heute mit dem Kriterium objektiver Wissenschaftlichkeit herangehen. So versuche ich denn weniger zu analysieren, als zu suggerieren, indem ich eben nicht das Ereignis anschaue, wie ein Physiker ein geschlossenes System anschaut, sondern indem ich Befindlichkeiten beschreibe, in meinem Fall die Opferbefindlichkeit und nun auch aus dieser Opferbefindlichkeit heraus die Nachtseite, die allen die es nur von der Tagseite her kennen, verborgen bleiben muss, diese Nachtseite zu erhellen, das was ich schreibe, kann nicht Geschichtsschreibung sein, sondern ein Stück geschichtlicher Zeugenschaft, mehr will es auch nicht sein.

 

Autor:

Nachtseiten des Lebens erkundete Améry auch in zwei anderen Werken, die ihn berühmt machten: „Über das Altern“ lauten Titel und Thema des einen Buches. Das andere wagte sich an das Tabu des Freitods. Es heißt: Hand an sich legen.

Im Buch über das Älterwerden fegte Améry die geläufigen Sätze vom friedlichen Lebensabend, von Reife und Weisheit als illusionären Schein und Selbstbetrug beiseite. Stattdessen sprach er von Hinfälligkeit und Krankheit, von der sozialen Ausgrenzung der Alten, von ihrem allmählichen Fremdwerden in der Welt -  nüchtern, scharfsinnig  und schonungslos. Améry:

 

Zitator:

"Für mich ist die einzige Trostmöglichkeit beschlossen in der Trostlosigkeit, wenn Sie so wollen, in der ich die Dinge darstelle, also im Denkprozess selber, der vor nichts zurückscheut."

 

Autor:

Améry fand in der Authentizität des Schreibens einen letzten Halt, die Reflexion schützte ihn vor der Verzweiflung. Das Leben führt an Abgründen entlang. Um nicht hineinzustürzen, musste er sie benennen und kenntlich machen. Der letzte große Essay galt dem Abgrund des Todes. Améry verteidigte den Freitod als ein Menschenrecht. Er schrieb: 

 

Zitator:

Wer abspringt, ist nicht notwendigerweise dem Wahnsinn verfallen, ist nicht einmal unter allen Umständen ‚gestört’ oder ‚verstört’. Der Hang zum Freitod ist keine Krankheit, von der man geheilt werden muss wie von den Masern. … Der Freitod ist ein Privileg des Humanen.

 

Autor:

Amérys Thesen sind umstritten, nicht allein in religiösen Kreisen. Aber seine Reflexion ist bedenkenswerter als viele soziologische und psychologische Werke zu dem Tabuthema. 1978 zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches wählte Améry selber den Freitod.

Aus Améry sprach immer der Aufklärer, der Humanist, sicherlich auch ein Melancholiker, aber ohne Larmoyanz oder Hang zum Morbiden, jemand der um das menschliche Scheitern wußte, aber auch dagegen revoltiert hat.

Améry erlebte und erlitt ein Jahrhundert der Gewalt. Das schürte sein Misstrauen. Allein in der Sprache, vor allem der deutschen, fühlte er sich geborgen. Aber zu Deutschland hielt er Abstand. Auch wenn sich die Reisen dorthin häuften. Er nannte es seine Auftritte:

 

6. O-Ton, Jean Améry:

"Dies ist meine deutsche Szene Ich sage ausdrücklich meine, denn schließlich sind die persönlichen Erfahrungen, die hier nieder gelegt wurden, nicht reichhaltig genug, als dass sich aus ihnen verbindliche Schlüsse ziehen ließen. Ich betrete sie gerne, diese Bühne, auf der es geistig so agil zugeht. Und ebenso gerne verlasse ich sie nach kurzem Auftritt wieder. Es ist, alles in allem, dieses Deutschland für unsereins ein doch recht fremdes Land. Man ist daheim im deutschen Wort, man ist unter seinesgleichen mit ganz bestimmten deutschen Menschen. Es ist gleichwohl Deutschland nicht der Boden, auf dem ich mir ein Haus würde bauen wollen.

 

Jazz-Intermezzo: Zum Ausklang