Sprecher:
In ihrer Schreibmaschine fand man ein Blatt eingespannt, auf
dem standen das Wort judgement – zu deutsch Urteilen – und zwei
Zitate. Mehr als den Titel des geplanten Buches hatte sie nicht mehr
niederschreiben können. Am 4. Dezember 1975 erlag die deutsch-amerikanische
Philosophin Hannah Arendt, 69 Jahre alt, in New York einem Herzinfarkt.
O-Ton, Dag Javier Obstaele:
Sie wollte
am Ende ihres Lebens ein großes Werk schreiben, das drei menschlichen geistigen
Fähigkeiten gewidmet sein sollte: dem Denken, dem Wollen und dem Urteilen. Und
die zwei ersten Bände waren fertig, die Bände über das Denken und über das
Wollen, und sie wollte gerade mit dem Band über das Urteilen anfangen, und sie
hatte schon sehr viel darüber gearbeitet, es gibt sehr viele Skizzen und
Überlegungen dazu, aber das Buch selbst hat sie leider nicht mehr schreiben
können. ... Und das ist besonders schade, ... weil man in der Forschung
allgemein davon ausgeht, dass dieses Buch die Krönung ihres Denkens und ihres
Werkes gewesen wäre.
Sprecherin:
Dag Javier
Obstaele promovierte vor drei Jahren im Fach Philosophie an der Universität
Köln über Hannah Arendt. Seine Studie mit dem Titel Politik, Geist und
Kritik untersucht das Verhältnis von Philosophie und Politik in Arendts
Werk. Neben Obstaeles vielbeachteter Schrift gibt es eine ganze Reihe von neuen
Arbeiten zu ihrem Denken ebenso wie zu ihrem Leben. Blickt man auf die Fülle
der Symposien und Tagungen, kann man geradezu von einer
Hannah-Arendt-Renaissance in Deutschland sprechen. In Dresden hat man ein Institut zur
Erforschung des Totalitarismus nach ihr benannt. Und letztes Jahr wurde an der
Universität Oldenburg ein Hannah-Arendt-Zentrum eröffnet, wo nun auch in
Deutschland ihr gesamter Nachlass für Wissenschafter und Interessierte
zugänglich ist.
Sprecher:
Hannah Arendts Werk gehört zur politischen Philosophie, sein
zentrales Anliegen ist eine Neubestimmung des Politischen. Und hier knüpft auch
das wiedererwachte Interesse an. Von Hannah Arendt erhofft man sich eine
Antwort auf die gegenwärtige Krise des Politischen, für die
Politikverdrossenheit, Bürokratismus und Parteienstaat aktuelle Stichworte
liefern.
Sprecherin:
Philosophen haben das Politische meist gering geschätzt, als
niedere Sphäre, wo nicht bleibende Wahrheiten, sondern lediglich
Tagesinteressen und Machtkalküle anzutreffen seien. So sehen es die meisten
Menschen. Man argwöhnt, die Politik sei ein schmutziges Geschäft, bestenfalls
ein notwendiges Übel, das man Berufspolitikern überlassen und sich selber
fernhalten sollte.
Hannah Arendt widerspricht diesem
gängigen Politikverständnis, wie Dag Obstaele erläutert:
O-Ton, Dag Javier Obstaele:
Sie sagt, dass die Politik eigentlich nichts mit Herrschaft
zutun hat, ... besser noch – dass die wahre Politik antiherrschaftlich ist; und
ich glaube, dass dieser Gedanke sehr viele Leute anspricht, und wenn man jetzt
denkt an die Revolutionen, die stattgefunden haben 1989 – dann hat man sehr
deutlich gesehen, ... dass vieles, was in der politischen Wirklichkeit passiert
ist in den letzten Jahren, eigentlich praktische Beispiele sind von Hannah
Arendts politischem Denken: Zum Beispiel auch – wenn ich das anfügen darf – was
wir gesehen haben in Belgrad, dass einfache Serben, die überhaupt nicht
politisch versiert sind, auf die Strasse gegangen sind, um zu protestieren
gegen die Verfälschung der Wahlen, und dass dadurch ein ganzes politisches
System gestürzt wird, das ist auch wieder ein sehr schönes Beispiel von Politik
im Arendtschen Sinne.
Sprecher:
An der Wiederentdeckung von Hannah Arendt sind
überraschenderweise auch viele Intellektuelle der politischen Linken beteiligt,
die ihrem Werk früher ablehnend oder ignorant gegenüberstanden und es - um im
Bilde zu bleiben - rechts liegen ließen. Ernst Vollrath, der vor seiner Emeritierung
in Köln politische Philosophie lehrte, hat diesen Meinungswandel auf Seiten der
Linken genauer untersucht.
O-Ton, Ernst Vollrath:
Es ist in der Tat so, dass die - ich möchte es in
Anführungsstrichen sagen - "Linken und Grünen" Hannah Arendt entdeckt
haben, was im übrigen nicht für Jürgen Habermas zutrifft, der sie immer in
seine Betrachtungen und Überlegungen einbezogen hat. Der Grund scheint mir der
zu sein, dass Hannah Arendts Denken immer dann Aufmerksamkeit erregt, wenn die
traditionellen Konzepte und Begriffe nicht mehr ausreichen - das ist bei den
Linken und Grünen der Fall, jedenfalls bei einem Teil von ihnen - der Marxismus
ist tot, und nun sucht man, und das ist vollkommen sachgerecht, nach einem
neuen Modell, nach einem neuen Paradigma, um sein Denken wiederum an eine
Tradition oder an einen Typ des Denkens anzubinden, der innovativ ist.
Sprecherin:
Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und den Enthüllungen
über die kommunistischen Regime ist auch die sozialistische Utopie verloren
gegangen oder doch so weit kompromittiert, dass man kaum noch an sie
anschließen kann. Jetzt aber stellt sich, und zwar nicht nur für die Linke, die
Frage, wie man auf die Probleme einer Welt nach 1989 antworten soll. Bei der
Suche nach einer neuen theoretischen Orientierung hat sich offensichtlich ein
Perspektivenwechsel vollzogen, und zwar von der Kapitalismuskritik zur Kritik
des Politischen, von der Gesellschaftstheorie zur demokratischen Frage, oder -
wenn man diesen Wechsel personalisieren will, eben von Karl Marx zu Hannah
Arendt.
Sprecher:
Die Intellektuellen auf der Linken haben, wie es einer von
ihnen selbstkritisch formulierte, den lange "verweigerten Dialog" mit
Hannah Arendt aufgenommen und mit Verspätung auch deren These über die
strukturelle Gleichheit von nationalsozialistischer und stalinistischer
Herrschaft akzeptiert. Genau dafür war Hannah Arendt ehemals heftig angegriffen
und sogar als Kalte Kriegerin abqualifiziert worden. Vorschub hat diesen
Anwürfen allerdings auch die Verlagspolitik geleistet. Denn Arendts Hauptwerk
"Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" war in Deutschland über
ein Jahrzehnt nur in verstümmelter Form auf dem Buchmarkt erschienen, gekürzt
um nahezu zwei Drittel. Vor allem fehlte das Kapitel über den Imperialismus.
Sprecherin:
Inzwischen ist nicht nur dieses Werk vollständig publiziert.
Im letzten Jahrzehnt haben die deutschen Verlage sich beeilt, Versäumnisse
nachzuholen: zahlreiche Essays und auch Vorlesungsmanuskripte wurden aus dem
Amerikanischen übersetzt, unveröffentlichte
Schriften herausgebracht. So erschien aus Hannah Arendts Nachlass die früh
schon von ihr geplante, jedoch Fragment gebliebene Einführung in die Politik
unter dem Titel Was ist Politik?.
Sprecher:
Das neuerwachte Interesse gilt neben dem Werk aber auch dem
Wirken und der Lebensgeschichte Hannah Arendts. Denn sie hat sich nie in den
sterilen Raum einer nur akademisch bleibenden Spekulation bannen lassen.
Mindestens so sehr wie über das Politische nachdenken, wollte sie mit ihrer
Stimme in den Raum des Politischen hineinwirken und hat es mit einer Fülle von
streitbaren Aufsätzen, scharfzüngigen Artikeln und ungeschützten Stellungnahmen
auch getan. Sie wurde die politische Denkerin par excellence der
Gegenwartsphilosophie, obwohl sie den politischen Dingen ursprünglich überhaupt
kein Interesse entgegenbrachte.
Musik: Giora Feidman, The Incredible
Clarinet, 2. Nigun
Sprecherin:
Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 als einziges Kind
jüdischer Eltern in Linden nahe Hannover geboren. Die Eltern sympathisierten
mit den Ideen der Sozialdemokratie und der Jugendbewegung und suchten ihre
Tochter nach den Maximen einer fortschrittlichen Pädagogik zu erziehen. Der
Vater starb sehr früh, die Mutter ging mit der Tochter zurück nach Königsberg,
wo die Familie herstammte und der Großvater Präsident der liberalen jüdischen
Gemeinde und Stadtverordneter war.
Hannah Arendt wuchs im aufgeklärten Klima eines liberalen
Reformjudentums auf. Ihre Mutter, ohne religiös zu sein, wäre nie auf den
Gedanken verfallen, ihr Judentum zu verleugnen, betonte Hannah Arendt
rückblickend. Und in diesem Sinne habe die Mutter auch ihr eigenes junges
Selbstbewusstsein gestärkt:
O-Ton, Hannah Arendt:
Der Antisemitismus ist allen jüdischen Kindern begegnet. Und
er hat die Seelen vieler Kinder vergiftet. Der Unterschied bei uns war, dass
meine Mutter immer auf dem Standpunkt stand; Man darf sich nicht ducken! Man
muss sich wehren! Wenn also, sagen wir mal von den Lehrern antisemitische
Bemerkungen gemacht wurden, meistens gar nicht mit Bezug auf mich, in Bezug auf
andere jüdische Schülerinnen, z.B. ostjüdische Schülerinnen, dann war ich
angewiesen von zu Hause, sofort aufzustehen, die Klasse zu verlassen, nach
Hause zu kommen, alles genau zu Protokoll zu geben, dann schrieb meine Mutter
einen ihrer vielen eingeschriebenen Briefe und die Sache war für mich natürlich
völlig erledigt. Ich hatte einen Tag schulfrei, und das war doch ganz schön.
Wenn es von Kindern kam, habe ich es zu Hause nicht erzählen dürfen, das galt
nicht, was von Kindern kommt, dagegen wehrt man sich selber. So sind diese
Sachen für mich nie zum Problem geworden. Es gab Verhaltensmaßregeln, in denen
ich sozusagen meine Würde behielt und geschützt war, absolut geschützt zu
Hause.
Sprecher:
Nach ihrem Abitur beschloss Hannah Arendt Philosophie,
Theologie und Klassische Altertumswissenschaften zu studieren. Es zog sie nach
Marburg, wo der junge, noch kaum bekannte Martin Heidegger lehrte, dessen Name
jedoch, so Hannah Arendt, "wie das Gerücht vom heimlichen König durch ganz
Deutschland reiste". Es blieb nicht bei einer nur philosophischen Neigung
für diesen König und auch Martin Heidegger war von der intellektuell
brillanten, eigenwilligen jungen Frau fasziniert. Beide verband eine kurze,
aber sehr heftige Liaison, die Heidegger Jahre später einmal "die Passion
seines Lebens" nannte. Aber letzten Endes konnte und wollte er seine
Familie nicht aufgeben. Hannah Arendt setzte ihr Studium bei Edmund Husserl in
Freiburg fort und promovierte schließlich auf Empfehlung Heideggers bei Karl
Jaspers in Heidelberg.
Sprecherin:
Nach ihrer Promotion schrieb sie eine Biographie über die
Person der Rahel Varnhagen, "einer deutschen Jüdin aus der Romantik".
In dieser Arbeit begann sie, sich auf sehr profunde Weise mit dem Problem der
jüdischen Identität auseinander zu setzen. Das Lebensschicksal einer anderen
Person bot ihr dabei auch den notwendigen Abstand, um jene Probleme in den
Blick zu bekommen, die für ihre eigene Generation und für sie selbst bestanden.
Sie hat die gesellschaftlichen Möglichkeiten und vor allem
Unmöglichkeiten einer jüdischen Existenz in zwei Grundtypen dargestellt, dem
Paria und dem Parvenü. Ihre Sympathie galt dabei dem Paria, der ganz bewusst
und stolz die Rolle des Außenseiters auf sich nimmt, im Gegensatz zum Parvenü,
der sich an die Gesellschaft anpasst und aufsteigt, aber diesen Erfolg mit
einer Verkümmerung seiner Menschlichkeit bezahlt.
Sprecher:
In diesem Buch vollzog Hannah Arendt eine erste bewusste
Reflexion gesellschaftlicher Realität, aber eine eigentlich politische Sicht
der Welt enthielt es noch nicht. In die Politik wurde Hannah Arendt sehr
plötzlich und brutal nach der Machtergreifung Hitlers gestoßen.
O-Töne:
Nazi-Parolen
Sprecherin:
Hannah Arendt hat das Ereignis, das sie brutal mit der Macht
des Politischen konfrontierte, selber datiert:
O-Ton, Hannah Arendt:
In gewissem Sinne kann ich sagen am 27.2.1933,
Reichstagsbrand, und die darauf folgenden illegalen Verhaftungen, ... die Leute
kamen in Gestapokeller oder in Konzentrationslager. Was dann losging, war
ungeheuerlich und bis heute von späteren Dingen oft überblendet worden. Dies
war für mich ein unmittelbarer Schock und von dem Moment an habe ich mich
verantwortlich gefühlt. Ich war nicht mehr der Meinung, dass man jetzt einfach
zusehen kann. Ich habe versucht zu helfen in manchen Dingen. ... Ich hatte
sowieso die Absicht zu emigrieren... ich hatte nicht die Absicht, in
Deutschland als Staatsbürger zweiter Klasse herumzulaufen, in welcher Form auch
immer.
Sprecher:
Ernst Vollrath, der lange Jahre in New York mit Hannah
Arendt zusammenarbeitete, hat wiederholt auf diesen Punkt aufmerksam gemacht:
Es waren keineswegs rein intellektuelle Motive oder Vorlieben, weshalb Hannah
Arendt sich mit Politik und dem Politischen zu beschäftigen begann, vielmehr
hat die Geschichte dieses Jahrhunderts ihr dieses Thema aufgenötigt, genau
genommen zwangen sie zu dieser Auseinandersetzung zwei historische Bewegungen:
O-Ton, Ernst Vollrath:
Das Aufkommen des Nationalsozialismus und der
Antisemitismus. Sie wurde persönlich damit konfrontiert. Ursprünglich war sie -
vielleicht kann man das sogar sehr scharf sagen - nicht am Politischen
interessiert, nun musste sie es tun, nun musste sie auf die Gefährdung
antworten und sie antwortete in der ihr eigenen Art, nämlich sehr politisch.
Sie hat zusammengearbeitet mit den Zionisten hier in Deutschland, musste dann
fliehen, hat in Frankreich gearbeitet mit der Jugend Alijah, die junge Juden
auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitete. Und ist dann auch, selbstverständlich
durch die Erfahrungen mit dem Totalitarismus, gerade in seiner
bösartig-antisemitischen Art darauf gestoßen zu fragen, was ist denn das
eigentlich - Politik und das Politische?
Sprecherin:
Die Frage des Politischen stellte sich für Hannah Arendt auf
allen Ebenen. Das Thema betraf sie hautnah. Man muss sich ihre Situation in
dieser Zeit vor Augen führen: Hannah Arendt galt 18 Jahre lang als Staatenlose
- eine Verfolgte, Vertriebene, Internierte, Exilantin, in Deutschland von den
Menschenrechten, überall von den Bürgerrechten ausgeschlossen - bevor sie im
Jahre 1951 die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangte.
Die Erfahrung dieser existentiellen Entwurzelung hat Hannah
Arendts Denken geprägt: „Ich stehe nirgendwo“ – hat sie später in einem Interview
geantwortet. Dag Obstaele:
O-Ton, Dag J. Obstaele:
Ich glaube, dass man dieses Wort von der Heimatlosigkeit in
erster Hinsicht im geistigen Sinne verstehen muss, weil politisch gesehen – und
das hat Hannah Arendt immer wieder sehr deutlich gemacht – braucht der Mensch
eine gewisse Heimat, um überhaupt handeln zu können, zunächst einmal braucht
man Menschen, die mit einem handeln und mit denen man sich verständigen muss,
und das ist auch eine Art Heimat, nämlich dass man ... mit anderen Menschen
fähig ist, sich gemeinsam Ziele zu setzen, und die gemeinsam zu verwirklichen,
also ich würde nicht von Heimatlosigkeit sprechen im politischen Sinne, sondern
eher im geistigen Sinne.
Sprecherin:
Wie Dag Obstaele verdeutlicht, entdeckte und begriff Hannah
Arendt das Politische als ein Feld, wo Menschen durch ein freies
Zusammenhandeln gegen ihre Entwurzelung und Entrechtung anzukämpfen vermögen.
In den Kriegsjahren stritt sie für die Anerkennung des
jüdischen Volkes, setzte sich in verschiedenen Zeitschriften für den Aufbau
einer jüdischen Armee gegen Hitler ein und beteiligte sich an der Debatte über
die Zielsetzungen des Zionismus. Aber vor der Form eines Nationalstaates, in
der die Gründung Israels schließlich erfolgte, hat sie gewarnt und darauf
hingewiesen, dass dies ein Unrecht gegenüber der palästinensischen Bevölkerung
darstelle.
Musik:
Giora Feidman, May the temple be rebuilt
Sprecher:
Neben den politisch-praktischen Stellungnahmen reifte der
Plan, sich in einem theoretischen Rahmen
mit der "ungeheuerlichen, alle Maßstäbe zerbrechenden Wirklichkeit"
der Vernichtungslager auseinander zu setzen.
Hannah Arendt wollte verstehen, wie sie immer wieder gesagt
hat, wobei Verstehen freilich keine Affirmation, kein verständnisvolles
Einsehen meint, sondern eine Aufarbeitung, die - in aller Betroffenheit - zu
einem kritischen Urteil gelangt. Sie wollte sich auf diese Weise auch jedem
aufkommenden Ressentiment über das erlittene Unrecht versagen und nicht in die
Falle von Hader und Verbitterung geraten.
Sprecherin:
"Was moderne Menschen", schrieb sie, "so
leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die
totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. Es ist,
als breche alles, was Menschen miteinander verbinde, in der Krise zusammen, so
dass jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlass ist." Die
Phänomene, die sie in ihrem Totalitarismus-Buch aufdeckte und später in ihrer
Studie über Adolf Eichmann, den Hauptverantwortlichen für die Deportation der
Juden in die Vernichtungslager, exemplifizierte, wiesen auf grundlegende
Probleme der Moderne hin: die Entwurzelung des Menschen in der
Industriegesellschaft, den Mangel an Gemeinsinn und moralischer Urteilskraft,
vor allem aber den Zerfall des öffentlich-politischen Raumes, in dem
menschliches Miteinander überhaupt seinen Ort findet.
Sprecher:
Doch wo liegen die tieferen Ursachen für eine solche
Fehlentwicklung? Und was kann man ihr entgegensetzen, um sie, wenn möglich, zu
korrigieren?
Von diesen Fragen geleitet hat Hannah Arendt die
abendländische Geschichte, vor allem die griechische Antike nach authentischen
Erfahrungen des Politischen durchforscht. Dabei entdeckte sie, dass für die
Griechen der öffentliche Raum und das politische Engagement einen außerordentlich
hohen Rang einnahmen, ganz im Gegensatz zu den privaten Angelegenheiten.
O-Ton, Hannah Arendt:
Im Unterschied zu aller neuzeitlichen Auffassung vom
Ursprung und von der Notwendigkeit von Politik erschien der Antike das präpolitische,
also das unpolitische Dasein der Menschen ... bedeutungs- und würdelos,
insofern der Mensch außerhalb des politischen Raumes unter keinen Umständen
irgendwelche Spuren seines Seins und Tuns hinterlassen kann. Um seiner
Bedeutungs- und Sinnlosigkeit willen erschien den Griechen das Privatleben, das
"idion" idiotisch, weil nämlich in ihm es um nichts anderes geht als
um das schiere Am-leben-bleiben und das Weiterleben. Weil der politische Raum
überhaupt erst die Möglichkeit schafft etwas zu tun, was nicht der Vergänglichkeit
anheimgegeben ist, konnte Cicero sogar meinen, dass im Gründen und Erhalten
politischer Körper das menschliche Handeln dem Walten der Götter nahe komme.
Sprecher:
Für die Griechen bildete die politische Sphäre in der Tat
das bestimmende, alles andere dominierende Lebenselement. Politik kommt von
Polis - an der Polis, der Gemeinschaft der Freien und Gleichen teilzuhaben,
hatte existentiellen Charakter, es verlieh Zugehörigkeit und stiftete
kulturelle Identität. Und in diesem Engagement sich auszuzeichnen, verhieß
Ansehen und Ruhm, die Chance auf Unsterblichkeit. Die Antike kannte keine
anderen öffentlichen Räume, keine ausdifferenzierten Systeme wie Staat,
Wirtschaft oder religiöse Gemeinschaft. Und sie dachte im Gegensatz zur Moderne
sehr geringschätzig über alles Ökonomische. Sämtliche Formen von Lohnarbeit,
handwerklicher Produktion oder kaufmännischer Erwerbstätigkeit stellen nur
Mittel zum Leben bereit und gehören deshalb, so Aristoteles, ins Reich der
Notwendigkeit und Unfreiheit. Allein das öffentliche Handeln überschreite die
Erfordernisse des bloß physischen Daseins und führe den Menschen zur eigentlich
sittlichen und freien Existenz.
Sprecherin:
Hannah Arendt hat an diese aristotelische Wertung des
politischen Handelns angeknüpft, als sie in ihrem zweiten Hauptwerk "Vita
activa oder vom tätigen Leben" die Grundformen menschlichen Tuns
klassifiziert: Arbeiten, Herstellen und Handeln.
Arbeiten steht unter der Bedingung des Lebens, dient im
Kreislauf von Produktion und Reproduktion dem Stoffwechsel des Menschen mit der
Natur.
Herstellen ist dagegen eine Tätigkeit, in der der Mensch
eine eigene Objektwelt errichtet, die der Natur entgegensteht. Insofern diese
künstliche Welt dauerhaften Bestand hat, findet der Mensch an ihr einen Halt
gegenüber seiner eigenen Vergänglichkeit.
Sprecher:
Handeln schließlich bildet die einzige menschliche
Grundtätigkeit, die ohne Vermittlung von Dingen, direkt zwischen den Menschen
stattfindet. Erst in diesem Miteinander des Handelns entsteht eine wirklich
gemeinsame Welt. Und erst das Handeln führt die Menschen aus dem
lebensnotwendigen Tun hinaus ins offene Feld der Möglichkeiten. Das Handeln
begründet die menschliche Freiheit - das ist die Schlüsselthese Hannah Arendts,
wie Michael Greven erläutert. Greven lehrt politische Philosophie an der
Universität Hamburg.
O-Ton, Michael Greven:
Im Handeln hat der Mensch die Chance frei zu sein, nicht im
Denken, oder etwa negativer Art, dadurch dass er von anderen in Ruhe gelassen
wird. Sondern über das Handeln ist der Mensch in der Lage, auch prinzipiell
Neues in die Welt zu bringen. Das gilt nun ganz besonders, wenn man das Handeln
nicht - was es ja in der Realität so nie gäbe - als das isolierte Tun eines
monadisch lebenden Menschen ansieht, sondern das gilt insbesondere vom, wie
Hannah Arendt sagt, Zusammenhandeln der Menschen.
Sprecherin:
Das Handeln ist prinzipiell kein einsames Tun. Es geschieht
in einem zwischenmenschlichen Raum, wo es sich an andere wendet. Deshalb gehört
nach Hannah Arendt zum Handeln das Sprechen hinzu. Im Reden und Tun bezieht
sich mein Handeln auf andere, die ebenfalls handeln. Handeln geschieht in
Kooperation, ruft an anderer Stelle aber auch Gegenhandeln hervor. Absichten
kreuzen und durchkreuzen sich und zeitigen auf diese Weise eine Geschichte, die
niemals von einem einzigen Subjekt geplant oder überblickt werden kann, weil
die Geschichte sich im Zusammenwirken erst ereignet. Solches Zusammenhandeln
von Menschen bildet nach Hannah Arendt die Grundlage des Politischen.
O-Ton, Michael Greven:
Hier kommt auch ihr für lange Zeit höchst ungewöhnlicher
Machtbegriff ins Spiel - gerade wir in Deutschland haben große Probleme, weil
wir alle, mindestens ohne es zu wissen, Weberianer sind, und uns unter Macht
immer diese berühmte Durchsetzungschance gegen den Widerstand und Willen eines
anderen vorstellen. Hannah Arendts Machtanalyse schließt keineswegs dieses
Auseinandersetzungsmoment aus, aber zunächst mal übersetzt sie den Machtbegriff
mehr im Sinne des alten Lateinischen als die Fähigkeit, die Befähigung von
Menschen im Zusammenhandeln etwas in die Welt zu setzen, was so vorher nicht
dagewesen ist oder auch etwas, was in der Welt ist, zu verändern. Also potentia
- Macht ist das Vermögen, etwas zustande zu bringen. Und insofern bekommt das
Politische bei ihr auch eine außerordentlich kreative Seite, von der man fast
sagen könnte, sie hat Berührung zu künstlerischen Aktivitäten.
Sprecher:
Macht ausschließlich negativ zu definieren, verweist auf das
grundlegende Problem der Moderne. Die Neuzeit hat Hannah Arendt zufolge die
ursprüngliche Idee des politischen Handelns weitgehend verloren, weil sie
gewaltsam alles Tun nach dem Paradigma des Herstellens und technischen Machens
interpretiert.
Das Paradigma des Herstellens unterstellt ein einziges
souveränes Subjekt, das seine vorgefassten Zwecke verfolgt und den gesamten
Prozess der Produktion, alles Geschehen zu steuern und zu kontrollieren
beansprucht.
Sprecherin:
Das Paradigma des Handelns hingegen bezieht sich auf
Intersubjektivität, einen offenen Raum zwischen den Menschen, der sich der
Verfügung eines Einzelnen unweigerlich entzieht. Gerade so verhält es sich mit
dem Politischen: hier besteht eine irreduzible Pluralität von Meinungen und es
gilt, im öffentlichen Diskurs Vorschläge zu unterbreiten, strittige
Standpunkte zu diskutieren, schließlich Entscheidungen zu treffen.
Sprecher:
Aber diese authentische Verfassung des Politischen ist
gerade in der Neuzeit verzerrt worden, so lautet die Arendts Diagnose.
Man hat das erforderliche kommunikative Handeln, wie
Habermas formuliert, durch ein strategisches verdrängt, ein Handeln also, das
nach dem Muster des Herstellens verfährt und über die Köpfe der anderen hinweg
versucht, Prozesse zu manipulieren und dem eigenen Willen zu unterwerfen - im
großen gesprochen: ein Handeln, das versucht, über die Geschichte zu verfügen.
Deshalb hat Hannah Arendt jede Art von Geschichtsphilosophie angegriffen, die
ein vermeintliches Ziel der Geschichte ausgemacht und ideologisch
festgeschrieben hat.
O-Ton, Hannah Arendt:
Was den Geschichtsbegriff in diesem Zusammenhang so
außerordentlich gefährlich werden lässt, ist, dass er immer wieder dazu verführen
möchte, Politik als ein Herstellen, ein Machen von Geschichte zu verstehen.
Gerade dadurch aber kommt in unsere politischen Theorien ein eminent
zerstörerisches Element zur Geltung, das sich auch konkret in einer Analyse der
politischen Erfahrungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts nachweisen ließe.
... alle Theorien, in denen Handeln als Geschichtemachen und also als
Herstellen verstanden wird, führen letztendlich zu der in Marx' Werk so klar
ersichtlichen Konsequenz, in einer so oder anders beschaffenen endgültig festgelegten
Gesellschaftsordnung das Handeln und damit das eigentlich Politische im Menschen
abzuschaffen und zu ertöten.
Sprecherin:
Der Totalitarismus ist das äußerste Extrem, alles Geschehen
einem Programm zu unterwerfen und ein Handeln im emphatischen Sinne gar nicht
mehr zuzulassen. Hannah Arendt hat aber auch davor gewarnt, dass in den
verwalteten Gesellschaften des Westens das Politische sich entleert und das
Handeln der Menschen zum bloßen Verhalten herabsinkt.
Das landläufige Verständnis von Politik ist schon in
bedenklicher Weise von den geschichtlichen Erfahrungen verzerrt: Politik gilt
als "Gewebe aus Lug und Trug, von schäbigen Interessen und noch
schäbigerer Ideologie". Bestenfalls akzeptiert man Politik, da sie mehr
schlecht als recht eine gewisse allgemeine Ordnung aufrechterhält.
Sprecher:
Gegen dieses pejorative Verständnis, das Politik immer mit
Ideologie und Interessen, mit Herrschaft und Manipulation assoziiert, will
Hannah Arendt die ursprünglich positive Bedeutung von Politik zurückgewinnen.
Was eigentlich und im authentischen Sinne Politik ist, definiert sich daher für
sie ganz anders. Ernst Vollrath:
O-Ton, Ernst Vollrath:
Auf diese Frage hat sie ganz klar geantwortet: "Der
Sinn des Politischen ist die Freiheit." Und ich verstehe das so, dass es
ein Tocqueville-Zitat ist. Sie kannte Tocqueville und liebte ihn sehr. Und bei
Tocqueville können Sie ähnliches finden. "Wer in der Freiheit etwas
anderes sucht als sie selbst, ist zur Knechtschaft geboren."
Aber das ist natürlich nur ein Rahmen. Sie hat dann
versucht, einerseits aus den Erfahrungen mit dem Totalitarismus in seiner fürchterlichsten
Gestalt, den Massenmorden und allem was dazu gehört, und andrerseits in der
Begegnung mit dem authentischen amerikanischen Denken ein anderes Verständnis
des Politischen zu entwickeln. Man hat immer gesagt, es sei die antike Polis
ihr Modell gewesen, ich bin der Meinung, dass das so nicht richtig ist, dass
vielmehr die Erfahrungen mit den amerikanischen Institutionen und auch mit den
theoretischen Begründungen dieser Institutionen, die im übrigen anders sind,
als die auf dem Kontinent, also in Europa üblichen theoretischen
Begründungsversuche, - mit diesen hat sie sich auseinandergesetzt, sie hat sie
wenigstens zu einem Teil kennen gelernt, wahrgenommen, und von dorther lässt
sich vielleicht so etwas wie ihr Begriff des Politischen rekonstruieren.
Musik: Nationalhymne der USA (anspielen)
Sprecherin:
Hannah Arendt hat die Gründungszeit der amerikanischen
Republik begeistert studiert. In ihren Augen gaben 1776 die Amerikaner und
nicht 1789 die Franzosen das positive Beispiel einer politischen Revolution, weil es darin nicht um die Lösung der
sozialen Frage, sondern um die "Gründung der Freiheit" geht.
Die Gründungsväter der amerikanischen Republik waren
vertraut mit einer langen Tradition des politischen Denkens, dem
Republikanismus, der vermittelt von englischen Denkern über die Florentiner
Humanisten bis zu Cicero ins republikanische Rom und eben auch bis zu
Aristoteles zurückreicht. Insofern hat Hannah Arendt zwar nicht die antike
Polis zum Modell gewählt, wohl aber ein republikanisches Verständnis von
Politik beerbt und weiterentwickelt, das bis in die Antike zurückreicht, einen
Bürgerhumanismus, dessen Denktradition an Deutschland allerdings weitgehend
vorbeigegangen ist.
Sprecher:
Wenn Hannah Arendt definiert, der Sinn des Politischen ist die
Freiheit, so folgt sie darin dem republikanischen Verständnis von Freiheit, das
dem heute herrschenden liberalistischen Freiheitsbegriff konträr
gegenübersteht. Der Liberalismus betrachtet die Freiheit als Naturrecht des
Menschen, konkret als privates Recht jeden Individuums. Das Individuum lebt
seine Freiheit in erster Linie jenseits des Politischen und der Staat ist nur
dazu da, diese Rechte zu garantieren und über die allgemeinen Spielregeln der
Freiheitsausübung zu wachen. Im Liberalismus meint Freiheit also wesentlich ein
Freisein vom Politischen.
Sprecherin:
Dagegen entwirft der Republikanismus und mit ihm Hannah
Arendt ein Freisein im Politischen.
Der Republikanismus versteht Freiheit konsequent politisch, nicht naturrechtlich:
Die Natur beschert keine Freiheit, Individuen können Freiheit allererst gewinnen,
wo sie von ihr Gebrauch machen, d.h. gemeinsam Selbstbestimmung üben, indem sie
ihr Privatsein überschreiten und für die res publica, die Sache aller
eintreten. In der republikanischen Sicht ist also das Politische kein
Funktionszusammenhang, kein Mittel, dessen man sich zur Erreichung ganz anderer
Zwecke bedient, es trägt vielmehr seinen Zweck in sich selbst: Im politischen
Handeln erfüllt sich die menschliche Existenz, indem sie zu ihrem höchsten
Ausdruck findet - zur Freiheit.
Sprecher:
Hannah Arendts Vorstellung von Freiheit in und durch Politik
zielt auf die Selbsttätigkeit und das Engagement aktiver Bürger auf allen
Ebenen. Dieses emphatische Verständnis von Politik ist äußerst anspruchsvoll: "Nur wer an der Welt wirklich interessiert
ist," schreibt sie, "sollte eine Stimme haben, im Gang der
Welt." Elitäre Zwischentöne sind kaum überhörbar, wenn sie ihre Bedenken
gegenüber der repräsentativen Demokratie und dem allgemeinen Wahlrecht vorbringt.
Ernst Vollrath differenziert:
O-Ton, Ernst Vollrath:
Also nicht gegenüber dem allgemeinen Wahlrecht, soweit ich
das sehe. Aber sie hatte gewisse Bedenken gegenüber der repräsentativen
Demokratie. Das ist richtig. Ich bin der Meinung, dass ihre Erfahrungen mit der
repräsentativen Demokratie sehr beeinflusst sind von Erfahrungen ihres zweiten
Mannes, Heinrich Blücher, der ein Mitglied der KPD war, der Brandler-Gruppe,
und dann im Prozess der Bolschewisierung der KPD in Deutschland, die Partei
verlassen hat. Das heißt, ihre Kritik richtet sich gegen die Usurpation des
politischen Raumes durch die Parteien. Und wir sind ja heute auch mit einem
solchen Phänomen konfrontiert. sozusagen: Wenn ich das mit Jeffersons Worten
sagen dürfte: die Abgeordneten des Volkes bilden sich manchmal ein, das Volk
selbst zu sein. (Lachen) Sie ist sehr gerügt worden für diese Ablehnung der repräsentativen
Demokratie. Es gibt bestimmte elitäre Züge bei ihr. Das ist keine Frage; und
vielleicht hat sie das Phänomen der Repräsentation doch unterschätzt in seiner
politischen Tragfähigkeit.
Sprecherin:
Hannah Arendt entfaltet einen hochgespannten normativen
Begriff von Politik. Politisches Handeln ist Tugend. Es verlangt von den
Menschen, über den Tellerrand der eigenen Interessen hinauszusehen, Gemeinsinn
zu entwickeln und auch den Mut, sich einzumischen und Verantwortung zu
übernehmen, wo man selbst unsicher ist. Hannah Arendt hat das politische Reden
und Tun aber auch mit Lust besetzet: "acting is fun" sagte sie einmal
in einem Gespräch.
Sprecher:
Arendts normative Auszeichnung des politischen-öffentlichen
Handelns ist ein Kontrapunkt zum gegenwärtigen Ökonomismus, wo nur noch
Privatinteressen zählen, aber der Gemeinsinn verkommt und die öffentlichen
Angelegenheiten einem Bürokratismus anheimfallen.
Musik: If I
were a rich man (instrumental)
Kritiker haben allerdings gegen Hannah Arendts Konzeption
eingewandt, dass ihr Politikbegriff zu idealistisch sei. Es reiche nicht aus,
alles Ökonomische, die Bereiche Arbeit und Wirtschaft, und auch die Sphäre des
Gesellschaftlichen mit Geringschätzung zu belegen und als Reich der bloßen
Notwendigkeit abzutun. Auch dort findet menschliche Existenz partielle
Erfüllung. Im übrigen gehören diese Bereiche unabdingbar zur Komplexität und zum
Reichtum der Moderne hinzu. Hannah Arendt, so die Kritiker, habe versäumt,
ihren hochgespannten Begriff des Politischen zu anderen Bereichen in Beziehung
zu setzen. Michael Greven, der in Hamburg politische Philosophie lehrt,
differenziert:
O-Ton, Michael Greven:
Ich würde sagen, von Hannah Arendt her kann man keine
angemessene Gegenwartstheorie des Politischen entwerfen, und zwar deswegen weil
zu viele Aspekte des Politischen bei ihr ausgeblendet bleiben, was man aber
umgekehrt von Hannah Arendt her stets tun kann, ist die herrschende Vorstellung
von Politik zu kritisieren, und zwar an einer ganz entscheidenden Stelle zu
kritisieren, nämlich dort, wo im Verständnis der meisten von Wohlfahrtsstaat
und Demokratie das Politische nur noch angesehen wird, als ein System - wie
manche gesagt haben - der möglichst guten Daseinsfürsorge. .... sie wendet sich
gegen die auf diesem Hintergrund weitverbreitete Versorgungs- und
Konsumentenmentalität, nach der eine gute Politik - gute Polizey sagte man
früher mit 'y' - eine Angelegenheit der Obrigkeit ist, und nur wenn die ihre
Dinge schlecht erledigen, dann hat man Anlass zu Kritik und Protest, und das
heißt heute, dann wählt man eine andere Regierung. Diese Vorstellung von einer
Zweiteilung, von einer kleinen Klasse von Menschen, die das Politische für alle
anderen möglichst gut erledigen sollen, und einer großen Bevölkerung, die es
zufrieden ist, sofern sie das auch tun, ist Hannah Arendt sowohl auf dem
Hintergrund ihrer Polisrezeption wie auf dem Hintergrund der amerikanischen
Gesellschaft fremd.
Sprecherin:
In den Vereinigten Staaten ist Kultur ist viel stärker
zivilpolitisch geprägt als in Europa, vor allem als in Deutschland, wo das
Politische meist mit dem Staat gleichgesetzt wird. Die zivilpolitische
Tradition in den USA kann man immer wieder bestätigt finden, wenn z.B. bei
Katastrophen amerikanische Bürger ein außergewöhnlich hohes Maß an Gemeinsinn
und Zivilcourage beweisen, spontan und eigenverantwortlich handeln, wo man in
Deutschland nach staatlichen Organen rufen würde.
Sprecher:
Das Bild vom Wohlfahrtsstaat, das man heute in Deutschland
hegt, verrät noch immer obrigkeitsstaatliche Züge, die Vorstellung nämlich hat
sich durchgehalten, dass der Staat im Guten wie im Schlechten für alles
verantwortlich sei. Der Sozialstaat, man vergisst es oft über seinem Erfolg,
war im Anfang keine demokratische Errungenschaft, denn die Sozialgesetzgebung
wurde durch Bismarck von oben initiiert.
Sprecherin:
Der Obrigkeitsstaat, dem sich der Einzelne unterwirft, und
der Wohlfahrtsstaat, der umgekehrt allen dienen soll - haben bei aller
Gegensätzlichkeit eines gemeinsam: sie zeigen den Staat als große neutrale
Figur, als Garant eines Gemeinwillens, der über den Interessengegensätzen
steht. Einem solchen Einheitskonzept hat Hannah Arendt entschieden
widersprochen.
Das Politische ist gerade nicht von irgendeiner Einheit her
zu bestimmen, sei es ein Gemeinwille, ein neutraler Staat oder auch eine
allgemeine Wahrheit. Gegen die Philosophie, die immer von der Idee der Wahrheit
ausgeht, hat Hannah Arendt deshalb für den Raum des Politischen die Idee der
Meinung ins Zentrum gerückt.
O-Ton: Hannah Arendt:
Seit dem Beginn unserer Philosophie mit Parmenides und Plato
hat die Philosophie den unzuverlässigen Meinungen, welche die vielen scheinbar
unverbindlich untereinander austauschen, eine Wahrheit entgegengestellt, die
der Mensch nur als Einzelner gewinnen kann, wenn er sich aus dieser Welt des
Scheinens und bloßen Meinens, in die die vielen verstrickt bleiben, löst und
einen Weg einschlägt, der ihn in seiner Singularität in Bereiche führt, die
gleichsam nicht von dieser Welt sind. ...
Im Raum des Politischen, der die Relationen des Menschen
regelt, wird jede allgemeine Wahrheit, also jede Weltanschauung oder Weltsicht,
notwendigerweise relativiert, und hier gilt in der Tat das Wort Lessings:
"Sage jeder, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott
empfohlen." Jeder der meint, die Wahrheit zu haben als etwas, das andere
zwingt, befindet sich nicht nur in einem Irrtum über den eigentlichen Sinn
solcher allgemeinen und absoluten Wahrheiten, er bildet für das menschliche Miteinander
und die in ihm mögliche Wahrhaftigkeit eine Gefahr, insofern er die Menschen
daran hindert auszusprechen, was ihnen Wahrheit dünkt und so den unendlich
vielen partikularen Wahrheitsperspektiven den Boden einer gemeinsamen Welt, die
sich doch jedem anders darbietet, unter den Füßen entzieht."
Sprecher:
Arendts Rehabilitation der Meinung bedeutet kein
Zugeständnis an Vielfalt, das nur die Oberfläche des Politischen betrifft,
sondern entspricht seiner anthropologischen Grundlage: "Politik",
schreibt sie, "beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen",
sie handelt vom Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen. Man darf sich
das Politische also gerade nicht nach der Idee einer vorgängigen Einheit
denken, nach dem Bild eines biologischen oder sozialen Organismus, einer
Familie zum Beispiel. Für Hannah Arendt stellt sich das Politische vielmehr als
ein differentielles Feld dar, wo die Vielen und Verschiedenen zusammenkommen.
Deshalb hat die Idee der Vielfalt des Meinens Vorrang und bleibt unaufhebbar,
Gemeinwillen gibt es nur, nachdem und insoweit verschiedene Einzelne eine
Einigung erreicht haben.
Sprecherin:
Hannah Arendts radikalpluralistischer Ansatz tritt hier in
deutlichen Gegensatz zur Position von Jürgen Habermas: Für Arendt geht es im
Politischen um Meinung und Einigung, während Habermas an der Idee der Wahrheit
im Konsens festhält.
Natürlich stellt sich bei einem solchen konsequent relativistischen
Ansatz, der von der Wahrheitslosigkeit in der Politik ausgeht, die Frage, ob
hier nicht eine gefährlichen Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet ist.
Arendt erhebt jedoch gegenüber dem philosophischen
Nachdenken strengste Ansprüche, sie fordert, so Dag Obstaele, dass jeder seine
vorgefasste Meinung einer rückhaltlosen
Kritik unterwirft.
O-Ton, Dag
J. Obstaele:
Hannah
Arendt ist der Auffassung, dass das wahre philosophische Denken, das antiideologisch
ist, zunächst einmal sehr kritisch alle vorgefassten Meinungen oder Theorien,
die man vorfindet, ... zunächst einmal
radikal zerstört, eine Art tabula rasa macht, und dann auf dieser Basis neu
beginnt zu denken, und das hat sie auch die kritische Kraft des Denkens oder
der Philosophie genannt, und damit ist gemeint, wenn sie sagt: ‚ich stehe
nirgendwo’, d.h. natürlich nicht, dass sie keine geistigen Positionen vertreten
hat, ganz im Gegenteil: Sie hat sehr starke geistige Positionen vertreten und
wie ich das in meinem Buch dargestellt habe, kann man sie als eine
hermeneutische Philosophin betrachten, das ist schon eine sehr ausgeprägte philosophische
Richtung, die sie vertritt, aber der Anfang der philosophischen Reflexion ist
für Hannah Arendt die Leere oder das Nichts.
Sprecher:
Was
geschieht nach einer solchen Tabula rasa, einer totalen Infragestellung im
Stile Descartes’?
Diesem Problem galt Arendts Projekt, das sie bei ihrem Tod
im Dezember 1975 unverwirklicht zurückließ: die Ausarbeitung einer Kritik der
politischen Urteilskraft. Darin wollte sie klären, ob und wie der Einzelne bei
seinem Urteilen einen inneren Halt finden kann, wenn er wie im Totalitarismus
auf sich selber zurückgeworfen ist und keine Chance zu einem öffentlichen
Austausch erhält.
Sprecherin:
Zunächst hatte Hannah Arendt das alte Klugheitskonzept
untersucht, das Aristoteles entwickelte. Aber dieses Vermögen ist an die
Voraussetzung einer funktionierenden Polis gebunden, allgemein gesprochen: an
eine intakte, Werte und Normen garantierende Tradition, aus der die situationsbezogene
Klugheit ihre Maßstäbe entlehnt. Genau diese Bestände waren aber in den Augen
von Hannah Arendt durch den Totalitarismus liquidiert.
Sprecher:
Sie suchte und fand Anschluss bei Immanuel Kant in dessen
Schrift Kritik der Urteilskraft. Kant behandelt in dem Werk das Problem,
wie man auch dort vernünftig urteilen kann, wo sich der Einzelfall weder einer
generellen Regel noch einem allgemeinen Begriff unterstellen lässt. Genau das
passiert auf dem Feld des Ästhetischen, bei der Frage, ob etwas schön sei oder
nicht. Geschmacksurteilen eignet bekanntlich keine objektive Wahrheit, dennoch
kommt ihnen eine bestimmte Gültigkeit zu.
Kant sagt, hier zeige sich eine – wörtlich– "erweiterte
Denkungsart", die es dem einzelnen Subjekt ermögliche, "an der Stelle
jedes anderen (zu) denken".
Sprecherin:
Aber wie kann diese erweiterte Denkungsart näher bestimmt
werden, der es gelänge, sich auch in die Position von anderen Menschen
hineinzuversetzen?
Und eine weitere Überlegung: Soll die erweiterte Denkungsart
das politische Urteil anleiten, beträfe sie nicht allein die Vergangenheit, wo
der Historiker sie einsetzt, um die Motive der Beteiligten nachzuvollziehen und
zu einem abgewogenen Urteil zu kommen, sie beträfe vor allem Gegenwart und
Zukunft, wo Entscheidungen getroffen und auf dieser Grundlage gehandelt werden
soll.
Sprecher:
Handeln in Wort und Tat, sich der gemeinsamen Sache, der
öffentlichen Angelegenheiten anzunehmen, dieser emphatische Politikbegriff
Hannah Arendts hat 1989 zweifellos Sternstunden erlebt.
O-Töne: Wir sind das Volk (Demonstranten in der
ehemaligen DDR, 1989)
Sprecherin:
Aber solchen historischen Situationen, wo das Politische die
Menschen aus ihren diversen Beschäftigungen herausholt und all ihre Energien
auf sich zieht, kommt Ausnahmecharakter zu. Wie aber kann heute unter - in Anführungsstrichen
- "normalen" politischen Bedingungen eine aktive Beteiligung an
Entscheidungsprozessen im Sinne von Hannah Arendt aussehen?
Michael Greven wendet ein, dass die medienbestimmte
Öffentlichkeit heute eine wirkliche politischen Willensbildung nicht förderlich
sei:
O-Ton, Michael Greven:
Politisierung
einer Gesellschaft, wie Hannah Arendt sich das vorgestellt hätte, hieße, wenn
Sie das in Anführungsstriche nehmen, "große Themen" , wirklich öffentlich,
unter möglichst großer Beteiligung der Aktivbürgerschaft zu diskutieren. ...
Wenn die Öffentlichkeit nur noch so ein Medienspiel ist, das aber von den
politischen Entscheidungsprozessen völlig abgekoppelt ist, dann finden Sie zwar
Unmengen von Talk-Shows, aber sie finden keine politische Meinungsbildung, oder
keine politische Willensbildung, insofern würde ich ... auch sagen: das wird
heute häufig verwechselt: Wir haben zwar eine unterhaltungsindustrieähnliche
Öffentlichkeit, in der auch unablässig von politischen Dingen die Rede ist,
aber das ist noch lange keine politische Willensbildung. Politische Willensbildung
kann es nur geben in unmittelbarer Verknüpfung mit tatsächlicher politischer
Entscheidungskompetenz, sonst bleibt das unverbindlich und Amüsement.
Sprecherin:
Politische Beteiligung im emphatischen Sinne kann freilich
nicht von oben gewährt, sie muss immer auch von den Einzelnen, von jedem für
sich, aufs neue angefangen, ja riskiert werden. Man muss sich hinauswagen, sich
mit seiner Meinung und seinem Urteil der Welt aussetzen. Hannah Arendt wusste,
dass ein öffentliches, ein lautes Denken niemals sicher ist, weder vor den
eigenen Irrtümern noch vor den Anwürfen der anderen. Es braucht Courage,
Zivilcourage. Hannah Arendt hat diesen für das Politische so wichtigen Mut
besessen, wiewohl ihr das Wagnis der Öffentlichkeit bewusst war.
O-Ton: Hannah Arendt
Nun, das Wagnis der Öffentlichkeit scheint mir klar zu sein.
Man exponiert sich im Lichte der Öffentlichkeit und zwar als Person. ... Das
ist das eine. Das zweite Wagnis ist: Wir fangen etwas an, wir schlagen unseren
Faden in ein Netz der Beziehungen, was daraus wird, wissen wir nie. ... Das ist
ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, dass dies Wagnis nur möglich ist im
Vertrauen auf die Menschen.
Sprecher:
Die Menschen lieben jedoch Sicherheit - nicht nur in
politischen Dingen, auch im geistigen Bereich. Die moderne Gesellschaft hat das
Korsett der traditionellen Denkmuster und festen Rollen gesprengt. Die
gewonnene Freiheit ist aber begleitet vom Schatten der Angst. Gerade deshalb
haben die Ideologien im 20. Jahrhundert eine so fatale Macht ausüben können.
Hannah Arendt widerstand dieser Versuchung, sie suchte jenseits der
vermeintlichen Sicherheiten nach einem eigenen Weg. Hannah Arendt nannte das
auch ein „Denken ohne Geländer“.