Flughafengeräusche

 

Sprecherin:

Begrüßen Sie das neue Jahrtausend zweimal! Fliegen Sie mit uns in der Nacht der Nächte von Paris nach New York! Der amerikanische Reiseveranstalter Spirit Tours bietet einen exklusiven Trip zum Millennium an. Eine halbe Stunde nach Mitternacht startet eine Concorde vom Flughafen Charles de Gaulle in Paris, wo die Passagiere auf das neue Jahrtausend angestoßen haben. Auf ihrem Flug gen Westen, schneller als die Erde sich dreht, überholt die Maschine gleichsam die Zeit und landet am 31. Dezember 21.55 Uhr Ortszeit in New York, um die Reisenden ein zweites Mal den Anbruch des neuen Jahrtausends erleben zu lassen.

 

Flughafengeräusche

 

Sprecher:

Weitere Aufenthalte in Mexiko und auf Hawai runden eine 11-tägige Luxusreise ab, die 39.800 Dollar kostet. Der exklusive Trip hat nur einen einzigen Schönheitsfehler. Er findet nicht statt, nachdem bis Mitte November nur vier von 96 Plätzen gebucht worden sind.

Liegt es nur an den überhöhten Preisen? Oder traut man dem Flugbetrieb in der Silvesternacht wegen des Jahr-2000-Problems doch nicht? Sollen sich viele Manager und hochdotierte Führungskräfte in Havarie-Bereitschaft halten?

 

Sprecherin:

Abgesagt ist unter anderem auch die geplante vier Millionen Mark teure Party in den Düsseldorfer Messehallen, für die sich 2000 Gäste vormerken ließen. Dem Organisator fehlt es an Sponsoren für das kostspielige Projekt. Vollzieht sich der Jahrtausendwechsel vielleicht unspektakulärer, als die pompösen Parties vorgeben woll­ten? Inzwischen liest man auf manchen Haltbarkeitsstempeln und Etiketten jenes unwahrscheinliche und doch schon banal klingende Jahresdatum Nullnull. In dem Maße, wie die Gegenwart die restlichen Tage des Jahres aufzehrt, beginnt der Alltag bereits an der Magie der großen Zahl zu nagen.

 

Sprecher:

Doch es bleibt der Wunsch, den mythischen Kalendersprung intensiv zu erleben, den Moment auszukosten, dabeizusein. Ohnehin ist die Kultur der 90er Jahre auf das gerichtet, was sie Ereignis oder mit dem gängigen Anglizismus event nennt.  Die Gegenwart artikuliert keine großen Entwürfe oder Erwartungen ans nächste Jahrtausend, ganz im Unterschied zur letzten Jahrhundertwende 1900, wie Christina von Braun, Kulturwissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität, bemerkt.

 

O-Ton, Christina von Braun:

Man muß zunächst einmal unterscheiden, zwischen dem was man sich erhofft, und dem was man so beobachtet. Was sicherlich nicht mit 1900 vergleichbar ist, es gibt nicht so eine Art von Aufbruchstimmung, nicht diese Art von Zukunftsgläubigkeit, alles wird besser, alles wird wunderbarer, ... die Jahrhundertwende 1900 ist euphorisch gefeiert worden, als der Anbruch des neuen glücklichen Zeitalters, das ist bei der Jahrtausendwende nicht der Fall.

Sprecherin:

1900 polarisierte die Menschen. Die Mehrheit glaubte enthusiastisch an einen Fortschritt auf allen Gebieten. Man hoffte, das 20. Jahrhundert würde die Menschheit technisch, wissenschaftlich aber auch politisch von allem Übel erlösen und von allem Ungemach befreien. Eine Minderheit trauerte der Vergangenheit nach, fiel in düstere Endzeitstimmung, ja schwelgte mitunter in todessehnsüchtiger Melancholie.

 

Sprecher:

Natürlich erfahren auch heute wieder die Prophezeiungen vom bevorstehenden Weltuntergang und vom nahen Jüngsten Gericht ihre Neuauflage, aber solche apokalyptischen Töne finden wenig Gehör. Man gibt sich betont pragmatisch. Im Internet werden T-Shirts mit dem Aufdruck 2000 - na und! angeboten. Und dennoch - gemessen an der Lebensspanne des Individuums, dem kaum hundert Jahre vergönnt sind - verspricht das Erlebnis eines Jahrtausendwechsels, die Teilhabe an zwei Millennien also, narzißtischen Trost. Das Ereignis soll intensiv gefeiert werden. Und die Metropolen der alten und der neuen Welt werben mit glanzvollen Events um die Touristen.

 

Sprecherin:

Während man das Jahr 1900 eigentlich nur in Europa und Nordamerika begrüßte, denn allein nach christlicher Zeitrechnung brach ein neues Jahrhundert an, werden dieses Mal alle Kulturkreise mitfeiern, auch wenn nach ihrem Kalender überhaupt kein Anlaß besteht. Abgesehen von den unterschiedlichen Neujahrstagen befinden sich die Muslime im Jahr 1420, der jüdische Kalender notiert das Jahr 5759 seit Gottes Erschaffung der Welt. Die Buddhisten orientieren die Zählung der heutigen Epoche am Tod Buddhas im Jahr 483 v. Chr.  Und auf dem indischen Subkontinent der Hindus, Sikhs und Jainas begegnet man gleich einer ganzen Vielfalt von Kalendern.

 

 

Sprecher:

Das weltweite Fest spiegelt die Globalisierung auf kultureller Ebene wider, offenbart freilich auch, daß die universale Perspektive westlich dominiert ist.

Die Globalisierung manifestiert sich ebenso sehr im Mediengeschehen. Die amerikanische Fernsehgesellschaft MTN will die historische Silvesternacht aus allen 24 Zeitzonen der Erde übertragen und ein Verbund von 50 Fernsehsendern hat sich diesem Projekt angeschlossen. Wer will, kann also vor laufendem Fernsehgerät oder öffentlicher Großleinwand an jedem anderen Ort des Globus mitfeiern. Die Menschen der Jahrtausendwende triumphieren qua Technik über Raum und Zeit. Ihnen wird das göttliche Attribut der Omnipräsenz zuteil: überall gleichzeitig zu sein.

 

Sprecherin:

Möglich machen diese Verfügung über Raum und Zeit Satelliten, Computer und die Netze der Telekommunikation. Die neuen Informationstechnologien bilden die Spitze des technischen Fortschritts, sie demonstrieren aber auch, wie sehr die Abhängigkeit des Menschen von der Technik gewachsen ist. Diese Abhängigkeit  wird nirgendwo anders so signifikant wie in der vieldiskutierten Jahr-2000-Problematik der Computer und Mikrochips. Kein Simulationstest isolierter Systeme kann verläßlich Auskunft darüber geben, was angesichts der komplexen Vernetzungen in der Silvesternacht passieren wird oder nicht.

 

Sprecher:

Seit dem Untergang der Titanic 1912 hat das 20. Jahrhundert immer wieder bitter erfahren müssen, daß die Technik ihre Grenzen hat. Das hat sich ins allgemeine Bewußtsein eingraviert, meint der bayrische Historiker Franz Herre.

 

O-Ton, Franz Herre:

Was zur Jahrhundertwende 1900 die Leute begeistert hat, nämlich der absolute Glaube an den ständigen technischen Fortschritt, der stößt heute an seine Grenzen, ich brauche nur das Stichwort Atom, Atomenergie, Atombombe sagen, man merkt doch, daß man da, wenn man es nicht ausufern lassen will, bis zur Selbstvernichtung und Selbstzerstörung der Menschheit, daß man da irgendwo einen Strich ziehen muß, daß wohl die Errungenschaften der Zivilisation, die genießen wir ja alle, darum machen wir auch hier über Funk ein Interview, aber ... es darf nicht so sein, daß es zu einer Religion fast wird, und daß man eben doch auch Grenzen einhält, daß es nicht ausufert.

 

Sprecherin:

Aber nichts scheint zur Jahrtausendwende unmöglicher als der Versuch technische Entwicklungsprozesse anzuhalten oder auch nur zu verlangsamen. Mehr als alles andere ist die gegenwärtige Situation charakterisiert durch eine Beschleunigung in allen Bereichen: Güter, Informationen, und nicht zuletzt die Menschen selber werden in einem vorher nicht gekannten Tempo durch Raum und Zeit katapultiert, das jedes menschliche Maß gesprengt hat.

 

 

Musik: Steve Reich, Different Trains, 1. Teil: America - Before the war

(im folgenden unterlegen)

 

Sprecher:

Dabei wird das Tempo der Transportmittel nur noch übertroffen von demjenigen der Informations- und Kommunikationsmedien: Rundfunk, Fernsehen, Telefon und die vernetzten Computer übermitteln Nachrichten und Bilder über jede Entfernung hinweg buchstäblich im Nu, in Echtzeit wie es im Computerneudeutsch heißt.

Der französische Philosoph Jean Francois Lyotard erklärt, daß ein neues Niveau der Naturbeherrschung erreicht sei. Es sei gelungen, ein immer dichter geknüpftes Netz von Information und Organisation über den Erdball zu werfen.

 

Musik: Steve Reich, Different Trains, 1. Teil: America - Before the war

 

Sprecherin:

Eine Entwicklung, die im 19. Jahrhundert mit Eisenbahn und Telegrafie die Überwindung des Raumes in Angriff nahm, ist im 20. Jahrhundert mit der Eroberung der Zeit fortgesetzt worden. Zur Jahrtausendwende gleicht die Erde einem Raumschiff, das eine neue Triebstufe gezündet und seine Umlaufbahn verlassen hat.

 

Musik: Steve Reich, Different Trains, 1. Teil: America - Before the war

 

Sprecher:

Eine erschöpfende Analyse und Positionsbestimmung zum Millennium ist schwierig. Es gibt zahlreiche Ansatzpunkte für unterschiedliche Betrachtungen. Aber mit Sicherheit kommt den Verkehrs- und Informationsmedien eine Schlüsselrolle zu im Blick auf den weiteren Kurs der Weltgeschichte. Die These von einer Kultur der Beschleunigung eignet sich als Leitfaden einer Situationsbestimmung.

 

Sprecherin:

Die enormen Fortschritte in den Transport- und Informationstechnologien sind kein rein technisches Phänomen, das der Gesellschaft äußerlich bliebe. Sie formen vielmehr das soziale Leben bis in den Alltag hinein, sie prägen die Erfahrungs- und Wahrnehmungsweise der Menschen.

Denn in dem Maße wie das ehemals Ferne nun erreichbar wird, rückt es ins eigene Erlebnis- und Handlungsfeld. Je schneller sich Kontakte via Handy herstellen lassen, desto zahlreicher sind sie möglich und zumutbar. Je schneller sich Wege zurücklegen und Aufgaben bewältigen lassen, um so mehr Platz für andere Projekte wird frei, um so ungeduldiger drängen weitere nach.

 

Sprecher:

Das Hier und Jetzt des Menschen wird gleichsam überfüllt. So entsteht unabhängig vom individuellen Charakter jene strukturelle Hektik, jener Zeitdruck, den der Soziologe Arnold Gehlen als gestörtes Zeitbewußtsein der Gegenwart diagnostiziert hat. Die Nutzung der Verkehrsmittel verändert den Menschen, meint der Essener Kommunikationstheoretiker und Philosoph Norbert Bolz:

 

O-Ton, Norbert Bolz:

Die uns prägenden ungeheuren Beschleunigungen sind natürlich an Maschinen gebunden, an Motoren gebunden, und ich denke, ein wesentliches Moment zur Erklärung etwa des Autofetischismus, des Fetischismus des Fahrens ohne Ziel, liegt in der Synergetik Mensch-Maschine, die sich hier in einer früher noch undenkbaren Weise verwirklicht hat. Man muß den Autofahrer nicht mehr als Werkzeugbenutzer betrachten, der das Auto als ein Instrument benutzt, um irgendwohin zu kommen. Und daß diese Synergetik, dieses Zusammenwirken von Mensch und Maschine als Lust erfahren wird, das ist gleichzeitig, vor allem für humanistisches Bewußtsein, ein Schock, aber zugleich eine alltägliche Erfahrung, die man in vielen Bereichen, auf vielen Schauplätzen machen kann. Beim Autofahren, aber auch, denken Sie an das Verhältnis, das die Menschen zu Computern entwickeln, denken Sie an das Verhältnis, das Menschen zu Massenmedien entwickeln. Überall dort zeigt sich: diese Menschen benutzen Medien, Transportmittel, ihr Auto nicht mehr als Werkzeuge, als Instrumente, um etwas zu erreichen, sondern das Begehren geht darauf, mit diesen Maschinen zu verschmelzen und mit ihnen gemeinsam aktiv zu werden.

 

Sprecherin:

Der Philosoph Peter Sloterdijk nennt das Auto das "technische Double des Subjekts": Er schreibt:

 

Zitator:

"Wer Auto fährt,  ... fühlt wie sein kleines Ich sich zu einem höheren Selbst erweitert, das uns die ganze Welt der Schnellstraßen zur Heimat gibt und uns bewußt macht, daß wir zu mehr berufen sind als zum halb tierischen Fußgängerdasein."

 

Autoverkehr (Geräusche)

 

Sprecher:

In der Autoreklame, egal welcher Marke, erscheint das Fahrzeug immer als Solitär in der Landschaft. Das Auto spiegelt das Bild des Individuums in seinem Wunsch nach Bewegungsfreiheit und Einzigartigkeit. Aber die Werbeinszenierung leugnet die Gegenwart der anderen, sie leugnet die Massengesellschaft ebenso wie die überfüllten Straßen, wo sich die Freiheit des Individualverkehrs im Massenstau selbst ad absurdum führt. 

 

Autoverkehr (Geräusche)

 

 

Sprecherin:

Doch genau dies ist die historische Erfahrung am Jahrhundertende:

Der Traum der ständig höheren Geschwindigkeit, der Dynamik des "Immer schneller, immer höher, immer weiter" schlägt um in sein genaues Gegenteil, in die Immobilisierung des Menschen, in eine erzwungene Passivität:

Sloterdijk schreibt weiter:

 

Zitator:

Deswegen sind ... die großen Staus auf den sommerlichen Autobahnen Mitteleuropas Phänomene von geschichtsphilosophischem Stellenwert. ... in ihnen begegnet uns das Ende einer Illusion - sie sind der kinetische Karfreitag, an dem die Hoffnung auf Erlösung durch Beschleunigung zugrunde geht. An diesen glühenden Nachmittagen im Trichter von Lyon, in der Rheintalhölle vor Köln, eingekeilt am Irschenberg auf Europas längstem Parkplatz, vor sich und hinter sich je fünfzig Kilometer brütendes gestocktes Blech - da steigen schwarze geschichtsphilosophische Einsichten auf wie Auspuffgase, ... Nachrufe auf die Moderne wehen aus den Seitenfenstern, und unabhängig vom Niveau ihrer Schulabschlüsse kommt in den Insassen der Fahrzeuge die Ahnung auf, daß dies nicht mehr lange so weitergehen kann."

 

Sprecher:

Die abendländische Kultur hat sich einseitig als vita activa entfaltet bis hin zu jener entfesselten Moderne, die in der Rastlosigkeit ihrer Dynamik, ihrem ständigen Willen zur Selbstüberschreitung, das vermeintliche Heil erblickt. Andere Seiten des Menschseins, Gelassenheit, Hinnahme und Anerkennung des anderen, blieben unterentwickelt. Ein solche Haltung, die das andere buchstäblich sein läßt, also geschehen läßt, ohne es formen und beherrschen zu wollen, findet sich bei dem amerikanischen Komponist John Cage in seinen zufallsbestimmten Musikstücken.

 

Musik von John Cage: Music of Changes

 

Sprecherin:

Zur Jahrtausendwende schlägt der Prozeß der Beschleunigung, gerade weil er ungebremst weiterläuft, immer häufiger in sein Gegenteil um: Inmitten der Hochgeschwindigkeit kommt die Bewegung selber zum Erliegen. Das gilt nicht allein für den Autoverkehr mit seinen allgegenwärtigen Staumeldungen, sondern auch für die Erfahrung des Fliegens, wie Norbert Bolz erläutert:

 

O-Ton, Norbert Bolz:
Ganz sicher hat Fliegen heute nichts mehr mit dem Traum vom Fliegen zu tun, ganz gewiß hat auch Autofahren nichts mehr mit dem Er-fahren von Landschaft, von Gegenden, von Städten, von Ländern zu tun, sondern es ist schon so, wie Virilio sagt, auch der Autofahrer sitzt hinter seiner Windschutzscheibe wie hinter einem Bildschirm. Die Erfahrung, die man von Landschaft macht, ist kaum mehr zu unterscheiden von der Erfahrung, die man auf den Bildschirmen der Massenmedien macht. Man ist noch nicht de facto, aber virtuell doch schon an Leitstrahlen angekoppelt, man folgt den Schienen, den Netzen der Autobahnen, und es ist viel zu riskant geworden, sich von diesen Trassen, diesen Schienen zu entfernen. Desgleichen natürlich das Fliegen, das ja heutzutage in diesen großen, man müßte schon sagen: Transportmaschinen für Menschen gar nicht mehr die Erfahrung des Fliegens aufkommen läßt. Man hält sich ja sehr viel länger in den Wandelhallen der Flughäfen auf, als in den Flugzeugen selbst, die Flugzeit selbst wird immer kürzer, die Wartezeit wird immer länger. ... Das Warten auf ein verspätetes Flugzeug, das Stehen im Stau auf der Autobahn: das sind die eigentlichen Erfahrungen, die man noch macht. Also gerade nicht die Erfahrung des Reisens, sondern chaotische Aufschaukelungen eines unübersehbar werdenden Verkehrs.

 

Sprecher:

Die Steigerung der Geschwindigkeit, die Zunahme des Verkehrs, des Unterwegsseins, führt paradoxerweise dazu, daß die Wahrnehmung austrocknet und verkümmert. Ehemals wurde Reisen, Unterwegssein, In-die-Welt-hinaus-ziehen mit Bildung, wurde Weltläufigkeit mit Wissen gleichgesetzt, so wie das Wort 'Erfahrung' ja auch von 'fahren' abstammt. Heute hat Reisen geradezu einen gegenteiligen Effekt: Je mehr und je schneller wir fahren, desto weniger
er-fahren wir.

 

Sprecherin:

Die Autobahn, kritisiert der französische Philosoph Paul Virilio vernichtet das unmittelbare Verhältnis von Mensch und Natur, weil sie sich zwischen den Reisenden und die Landschaft schiebt. Wo sich die ehemalige Landstraße in ihrem Verlauf gleichsam der Landschaft anschmiegte, durchtrennt der Asphaltstreifen den Raum. Buchstäblich auf der Strecke bleibt dabei jedoch die intensive Erfahrung der Nähe, die der Mensch zu Fuß, der Reiter, auch der Reisende in der Postkutsche noch erleben konnten: die Geräusche und Gerüche, die Wahrnehmung des Weges, überhaupt der ganze Reichtum, den die Sinne im ihrem synästhetischen Zusammenspiel erschließen.

 

Sprecher:

Auf der Jagd nach der Erzielung immer höherer Geschwindigkeit erscheint der Körper der Erde selber nur noch ein Hindernis darzustellen, das überwunden oder gar beseitigt werden muß. Das ideale Verkehrsmittel wäre ein Tunnel, eine Vakuumröhre, durch die die Menschen nach Art der Rohrpost hindurchgeschossen würden.

 

Sprecherin:

Virilio betrachtet die Eroberung des Raumes im Prinzip als abgeschlossen, die Krone der Geschwindigkeit ist von den Transportmitteln auf die Übertragungsmedien übergewechselt. Spätestens bei stockendem Verkehr oder im Stau greift der Fahrer zum Handy. Das Informationsmedium soll den erlittenen Tempoverlust kompensieren. Es befreit die Stimme, während ihr Inhaber im Transportmittel gefangensitzt und nicht mehr vom Fleck kommt.

 

Sprecher:

 Die Informationstechnologien arbeiten mit nahezu Lichtgeschwindigkeit. Virilio betrachtet es daher als anachronistisch, mit dem Auto zu einem Ort in der Welt aufzubrechen, wenn die Daten von dort - Bilder, Töne, Texte - schon längst auf dem heimischen Bildschirm, Fernseher oder Computermonitor eingetroffen sind.

Raum und Zeit scheinen von der Geschwindigkeit besiegt:

 

Sprecherin:

Das populärste Medium Fernsehen verleiht dem Auge Flügel, so daß es sich über die Distanz des Raum hinwegschwingen kann. Ebenso spielt das Fernsehen mit der Zeit:  Es rafft oder dehnt sie,  es hält sie an, kehrt sie um oder wiederholt sie. So kann jeder bei der Übertragung des Fußballspiels das Foul im Strafraum in Ruhe studieren und ein gerechtes Urteil fällen. Das Fernsehen erhebt den Zuschauer zum Oberschiedsrichter.

 

Sprecher:

Aufgrund seiner Regie über Raum und Zeit wird dem Fernsehen bei der Inszenierung des Millenniums eine Hauptrolle zufallen. Rund um den Globus, rund um die Uhr wird es uns den Anbruch des neuen Jahrtausends miterleben lassen. Und doch wird dieser Triumph geradewegs in einer Niederlage münden.

Die Medienübertragung der Sonnenfinsternis im August lieferte dafür ein Paradebeispiel.

 

Sprecherin:

Zuerst eilte das Kamera-Auge auf die britische Kanalinsel, dann nach Nordfrankreich, anschließend über das Saarland weiter nach Stuttgart und nach Bayern, um schließlich in Österreich erneut auf die 'Schwarze Sonne' zu warten. War das Jahrhundertereignis an dem einen Ort vorüber, stand es am nächsten wieder bevor. Und darin wurde das unvergleichliche Erlebnis schal. Ein Ereignis ist durch seine Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit charakterisiert. Nichts destruiert ein Ereignis gründlicher als eine mediale Wiederholungsschleife, in der es ermüdet und zur Belanglosigkeit verkommt.

 

Sprecher:

Unser Bedürfnis nach Information begrüßt es, daß die Telekommunikationstechnologien heute in der Lage sind, ferne Ereignisse live zu übertragen und Nachrich­ten in "Echtzeit", d.h. nahezu ohne zeit­liche Verzögerung zu übermitteln. Indes hat die Hypergeschwindigkeit auch eine problematische Seite, die Paul Virilio aufgezeigt hat: Ein Übermaß an Live-Berichterstattung hat paradoxerweise den Effekt einer Zensur. Denn die Bilder der Ereignisse folgen so dicht aufeinander, der Zuschauer ist als Voyeur am heimischen Bildschirm so sehr an den Fortgang der Fern­sehereignisse gebunden, daß er keine Zeit mehr zum Verarbeiten, zum Nachdenken und zur Kritik findet. "Man muß die Zeit zurück­erobern" fordert Virilio, "Information in Echtzeit ist keine wirk­liche Information, sondern eine Aktion - wie eine Ohrfeige."

 

Sprecherin:

Der bayrische Historiker Franz Herre, lange Jahre in der Programmleitung der Deutschen Welle tätig, relativiert diese Einschätzung, in Teilen hält er aber Virilios Befürchtungen gegenüber den neuen Medien für berechtigt.

 

O-Ton,  Franz Herre:
Das ist ein typischer Fall, daß Dinge positive und negative Seiten haben, diese Kommunikationsgesellschaft mit den schnellen Nachrichtenmitteln, das hat bestimmt auch positive Seiten, sie bringt die Menschen näher, es ist ganz interessant zu wissen, was in der Welt vorgeht, daß man auch seine eigenen Schlüsse daraus ziehen und seine eigenen Erfahrungen sammeln kann, das ist das Positive aber ... diese Schnelligkeit, dieses fast schon Überstürzende der Nachrichten, diese Geschwindigkeit, nicht nur die Lichtgeschwindigkeit, die Nachrichtengeschwindigkeit, die Kommunikationsgeschwindigkeit hat natürlich auch große Gefahren, denn man kommt gar nicht mehr zur Besinnung, man guckt nicht mehr zurück, sowieso nicht, ... in der Gegenwart besinnt man sich nicht mehr, man guckt nur noch nach vorne, das ist nicht richtig, und das kann wirklich Probleme geben.

 

Senderwechsel, Zapping

 

Sprecher:

Wie wird es im 21. Jahrhundert weitergehen? Schon im letzten Jahrzehnt ist zu Fernsehen, Radio und Telefon das riesige Informations- und Kommunikationsangebot des Internet mit diversen Online-Diensten hinzugetreten. Über die neuen Kanäle dringt eine ungeheure Masse an Information auf den Einzelnen ein, die nicht mehr zu überschauen, geschweige denn zu bewältigen wäre. Der französische Medienphilosoph Jean Baudrillard entwirft ein Schreckensszenario überfetteter Datensysteme und kollabierender Kommunika­tionsnetze, wo die Hypertrophie der Information einhergeht mit einer Verkümmerung der lebendigen Erinnerung und Erfahrung.

 

Senderwechsel, Zapping

 

Sprecherin:

Erinnerung verlangt Selektion, man muß wichtiges von unwichtigem trennen, man muß wissen, was man ignorieren oder vergessen kann. Genau diesen notwendigen Verarbeitungsprozeß sieht der New Yorker Kommunikationswissenschaftler Neil Postman gefährdet. Postman befürchtet, daß die Medien das Reflexionsniveau zersetzen und eine Kultur befördern könnten, die einseitig auf Kurzweil und Zerstreuung ausgerichtet sei. Wir amüsieren uns zu Tode - so lauten die These und der Titel eines seiner Bücher. Und Paul Virilio prognostiziert einen Niedergang des kulturellen Gedächtnisses. Er schreibt:

 

Zitator:

Wir haben in einer Zeit gelebt, die die Zeit des Menschen und des Gedächtnisses war und die ich als physiologisch bezeichnen würde oder als die der Bücher. Bücher stellen ein langsames und verzögertes Gedächtnis dar, denn wenn man liest, geht man mit den Geschehnissen nicht synchron. Die Welt beginnt aber, mit dem was geschieht, synchron zu leben: Die Realzeit stellt zugunsten des Reflexes und der augenblicklichen Wahrnehmung die verzögerte Zeit des unmittelbaren Gedächtnisses und auch das Denken in den Schatten. Wir leben 'live'.

Sprecher:

Virilio beklagt diese Entwicklung als Entfremdung, die eine ursprüngliche Erfahrung des Menschen aushebelt und sein Reflexionsvermögen ruiniert. Er unterlegt seiner Kritik an der Kultur der Beschleunigung eine Vorstellung von ursprünglicher, unmittelbarer Erfahrung des Menschen. Gegen diese Grundlegung der Kritik, nicht gegen einzelne Aussagen wendet sich der Kasseler Medientheoretiker und Kulturanalytiker Georg Christoph Tholen.

 

O-Ton, G. Christoph Tholen:

Was nicht geht, und was sich aber wiederholt, ist eine Kulturkritik die sagt, der Raum und die Zeit und der Mensch wäre verlorengegangen - das ist dieselbe Position wie um 1900, weil es - und das ist jetzt das Schwierige - den Raum und die Zeit, die jetzt verlorengegangen sei, gar nicht gibt, sondern - und da darf ich jetzt einmal Walter Benjamin zitieren, einen der wichtigsten Denker in diesem Zusammenhang, der das am Beispiel von Fotografie und Film gezeigt hat. ... daß die Abbilder wie Fotografie und Film mit ihrer eigenen Ästhetik neue Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen erzeugen. Und so ist es heute auch mit der digitalen Revolution. Nicht also wie Virilio sagt, die künstliche Welt der Sehmaschinen zerstöre den natürlichen Blick - den hat es nie gegeben, es ist immer schon medienvermittelte Wahrnehmung und Erfahrung, die wir haben - sondern die Vielfalt von historischer Zitierbarkeit, Reproduzierbarkeit, Verschiebbarkeit von Erlebnis- und Wahrnehmungsformen auch in kultureller Hinsicht erzeugt also die Möglichkeit einer neuen kulturrelativen Erkundung von Zwischenräumen.

 

 

Sprecherin:

Erfahrung war immer schon kulturell vermittelt. Die Wahrnehmung strukturiert sich nicht allein nach den physiologischen Gegebenheiten, auch nicht nur gemäß der sogenannten reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit, wie Kant philosophisch ausgeführt hat. Die Bilder der Renaissance beispielsweise belegen, wie sich zu Beginn der Neuzeit der zentralperpektivische Blick durchgesetzt hat.

Insofern belehren uns zum Jahrhundertende die neuen Medien paradoxerweise über einen alten Sachverhalt, daß  nämlich immer schon Vermittler - Medien im Wortsinn - am Werke sind, wenn Menschen Welt erfahren, allerdings nicht in solchem Umfang und in solcher Intensität wie in der Gegenwart.

 

Sprecher:

Dabei zeichnet sich auch ein qualitativer Sprung ab, der die Frage der Öffentlichkeit und der sozialen Synthese in einem völlig neuen Licht stellt.
Die Verbindung nach draußen, mit der Welt und den anderen, erfolgt heute wesentlich über Medien. Der soziale Anschluß ist buchstäblich ein technischer: Fernseher, Telefon, Computer bilden die modernen Nabelschnüre zur Welt. Das hat der Philosoph Günter Anders schon vor vierzig Jahren kommen sehen, als er schrieb, die zentrale Funktion der Wohnung werde es nun sein, den Bildschirm für die Außenwelt zu enthalten. Und Jean Baudrillard meinte polemisch: "Jedem seine Kapsel", womit er das ganze Dilemma der menschlichen Isolation inmitten der Vernetzung ausgesprochen hat.

 

Musik: Koyaanisquatsi (Philip Glass), The Grid

(dem folgenden Text unterlegen)

 

 

Sprecherin:

Die klassische Öffentlichkeit hatte ihre Marktplätze und Werkstätten, Parlamente und Versammlungsorte, Clubs und Cafes. Es war eine arbeitende, unmittelbar kommunizierende, leibhaftig interagierende, in größeren Familien und Gruppen lebende Gesellschaft. Diese klassische Öffentlichkeit ist weitgehend aufgelöst und in Millionen Privaträume zerstreut, in denen die Bundesbürger im Schnitt zwei Stunden täglich fernsehen, die jüngeren im Internet surfen, und eine zunehmende Zahl von Menschen am vernetzten PC in Heimarbeit jobbt. An die Stelle der klassischen ist eine virtuelle Öffentlichkeit getreten, die paradoxerweise gerade dort sich konstituiert, wo man immer die Privatsphäre angesiedelt sah. Im Gegenzug zerfallen städtische Räume, die dem sozialen Miteinander dienten. Privat und Öffentlich haben gleichsam die Plätze getauscht.

 

Musik: Koyaanisquatsi (Philip Glass), The Grid

 

Sprecher:

Und diese neue Formen von Öffentlichkeit sind geprägt vom enormen Tempo der Informationstechnologien: die ständigen Umfragen beispielsweise -  'Wen würden Sie wählen, wenn morgen Bundestagswahl wäre?'- deren Ergebnisse umgehend ins Medium zurückgespeist werden, verkürzen die Zeit der Legislaturperiode gegen Null. Im Grunde herrscht nun ein permanenter Fernseh-Wahlkampf. Deshalb drängen sich die Politiker danach, möglichst oft und möglichst lange auf dem Bildschirm zu sein. Immer häufiger treten sie auch in unpolitischen Sendungen auf. Das Regierungshandeln muß irgendwie sichtbar gemacht, inszeniert werden. Denn nichts kann durchgesetzt werden, was buchstäblich nicht ins Bild paßt. Polemisch zugespitzt: am besten regiert wird im Fernsehen.

 

Musik: Koyaanisquatsi (Philip Glass), The Grid

 

Sprecherin:

Die Medien, allen voran das Fernsehen, verlangen im Gegensatz zur alten Öffentlichkeit keinerlei Mitverantwortung, Engagement oder aktive Teilnahme. Fernsehen bedeutet einerseits bloßes Dabeisein, in aller Unverbindlichkeit irgend etwas auch gesehen zu haben. Andrerseits geschieht im Hintergrund Schwerwiegenderes: Institutionen, Überzeugungen, Einstellungen, die früher außerhalb der Medien existierten, werden nicht - wie das klassische Mißverständnis unterstellt - lediglich abgebildet oder dargestellt, sondern werden nun mehr selber von den Medien reproduziert: Mit anderen Worten: Sozialisation und Selbstverständigung der Gesellschaft ebenso wie des Einzelnen finden heute vor allem in und über Medien statt. Georg Christoph Tholen erläutert es an einem Beispiel aus seiner Arbeit:

 

O-Ton, G. Christoph Tholen

Schaut man sich - was ich zur Zeit mache - alle Talkshows an im Fernsehen, dann entdeckt man folgendes und das mache ich mit Foucaultscher Nüchternheit: Was meint das? - Man sieht dort, daß die Fernsehgemeinschaft, in der anscheinend alles und jedes beredet werden kann, alle sexuellen Perversionen, alle Schuldgefühle, alle Beziehungsprobleme - es sind ja soundsoviele Talkshows, und diese Tyrannei der Intimität versuche ich so zu beschreiben: Einerseits sozialisiert sich diese Fernsehgemeinschaft in einem Verlust der Werte und Normen, via narzißtischem Spiegelbild in dieser Fernsehsendung entsteht erst ein kulturelles Wir, eine kontrollierte Norm dessen, was vernünftig sei und was abweichend sei, also die Norm und die Abweichung entstehen in dieser Instantaneität, in dieser Gleichzeitigkeit der Fernsehshows, und der Moderator, wenn man einmal alle wie in einem Mischbild zusammennimmt, ist eine Mischung aus Priester, Therapeut und Familienersatz.

Sprecher:

Neue Gemeinschafts- und Vorbilder werden medial erzeugt. Das Wort von der Macht der Medien scheint plausibel. Allerdings nicht in der Weise, daß allgewaltige Medienmogule das ganze Geschehen von außen wie Marionettenspieler dirigieren, sondern daß es sich um subtile Prozesse handelt, an denen alle bis hin zum heimischen Zuschauer beteiligt sind, wenn auch nicht in gleicher Weise.

 

Sprecherin:

Ein Machtgefälle tut sich auch zwischen den verschiedenen Kulturkreisen auf. Denn die globalisierte Welt, das Raumschiff Erde, fährt nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch medienkulturell unter amerikanischer Flagge. Diese Hegemonie gefährdet den Reichtum der nationalen und kulturellen Besonderheiten.

 

O-Ton,  G. Christoph Tholen:
Zunächst gilt ohne Zweifel, daß die teletechnologischen Beschleunigungseffekte, die Virilio beschrieben hat, natürlich Homogenisierungseffekte erzeugen - simples anschauliches Beispiel: Wenn Sie Technokultur von alten südfranzösischen oder spanischen Stierkampffesten sehen bis hin nach Südamerika, oder den Vox-Sender nachts anschalten, dann sehen Sie überall diese homogenisierte Technokultur, als ein Beispiel in der Popkultur, und zugleich sehen Sie, nehmen wir das Beispiel Internet - neue Formen von intervenierender, gastlicher, soziopolitischer Räume, die sich neu bilden. Also neue Öffentlichkeitsstrukturen, die nicht mehr nur die der literarisch geprägten Öffentlichkeit sind, die sich molekular - wie Deleuze sagen würde - also in einer Vielfalt bilden. In Bezug auf die Machtbeziehungen, die ja ambivalent sind mit den neuen Medien, um es einfach auszudrücken, ist hier zugleich ein Ausloten neuer, auch machtkritischer Öffentlichkeitsstrukturen jederzeit möglich.

 

Sprecher:

Die Gefahren wie auch die Chancen, die in der Entwicklung der Mediengesellschaft liegen, hat der  1991 verstorbene Kommunikationstheoretiker und Philosoph Vilém Flusser in zwei gegensätzlichen Modellen reflektiert:

das positive Modell des Netzes und das negative des Bündels:

 

Sprecherin:

Das Netzmodell - wie es beispielsweise im Post- und Telefonsystem oder im Internet verwirklicht ist, ber­ge emanzipatorisches Potential: wenn alle Teilnehmer glei­cher­maßen Informationen senden wie empfangen können, sei eine Kommunikation im wahrhaften Sinne möglich, ein Dialog ohne hierarchisches Zen­trum, eine Demokratie im Informationszeitalter.

 

Sprecher:

Dagegen bieten Fernsehen, Radio und Presse das Negativbeispiel: Ihre Bündelstruktur verweist auf ein Zentrum, von dem alle Bot­schaft strahlenförmig ausgesendet wird, aber eben nur über Ein­bahnstraßen, wenn man hier einmal von den rudimentären Feedbacks wie Hörerpost und Leserbriefen absieht. Die Empfänger sind von einander isoliert, sie stellen bloße Konsumenten dar, eine Masse, betont Flusser, die in Verantwortungslosigkeit versinkt, weil man sie von der Möglichkeit des Antwortens systematisch abgeschnitten hat.

 

 

 

Sprecherin:

"Das Zeug ist falsch geschaltet", hat Flusser über unser Fernsehen geschimpft und gefordert, daß Fernsehen und Radio zu wirklich dia­logisch strukturierten Medien umfunktioniert würden.

 

Sprecher:

In den USA gibt es hingegen Pläne, das anarchische gewachsene Internet, das Flussers Modell eines dezentralen und dialogischen, d.h. demokratischen Medium entspricht, in ein System hierarchisch geordneter Datenautobahnen umzuwandeln. Vor allem die großen Medienkonzerne wün­schen ein technisch aufgerüste­tes Netz, um über spezielle Kabel ihre Filme, Videospiele und di­versen Konsuman­gebo­te direkt in jedes Wohn­zimmer zu liefern. Selber sen­den sollen die Ange­schlossenen jedoch nicht mehr, Informationsfluß in beide Rich­tun­gen belastet in den Augen der Konzernchefs ledig­lich die be­grenz­te Kapazität des Netzes, ohne Profit einzubringen.

 

Sprecherin:

Die Pläne stoßen aber auf heftige Kritik. Was wird aus der Öffent­lichkeit im 21. Jahrhundert? Wird man das Internet zerstören? Werden die künftigen Da­tenauto­bahnen so teuer, daß sich öffentliche Institutionen und erst recht Privatpersonen einen Anschluß gar nicht mehr leisten können?

 

Sprecher:

Informationstechnologie und Telekommunikation haben schon jetzt das Gesicht der Welt verändert. Sie werden das 21. Jahrhundert prägen. Zu Recht spricht man von einer Medienrevolution, die vergleichbar ist mit dem Aufkommen der Schrift oder der Erfindung des Buchdrucks. Der öffentliche Raum ist von Reklame übersät, der Verkehr und das Zusammenleben durch Zeichen geregelt, und die Massenmedien deuten in Wort und Bild die Welt. Immer weniger scheint sie eine stoffliche Welt der Dinge, immer mehr eine Welt der Zeichen, der Immaterialität:

Der französische Philosoph Jean Francois Lyotard schreibt:

 

Zitator:

Es ist, als hätte man zwischen uns und den Dingen einen Filter gesetzt, einen Schirm von Zahlen. Eine Farbe, ein Ton, ein Stoff, ein Schmerz oder ein Stern kommen zu uns zurück als Zahlen auf Kennkarten von größter Genauigkeit. ... Die gute alte Materie selbst erreicht uns am Ende als etwas, das in komplizierte Formeln aufgelöst und wiederzusammengesetzt worden ist. Die Wirklichkeit besteht aus Elementen, die von Strukturgesetzen in nicht mehr menschlichen Raum- und Zeitmaßstäben organisiert werden.

 

Sprecherin:

Aber die digitale Erfassung gebiert eine zweite Anschaulichkeit, visualisiert das Abstrakte. Sie liefert Bilder über Bilder. Was aber bedeutet es allenthalben Bildern zu begegnen? Was heißt es, selber zu einem Bild zu werden?

 

Sprecher:

Die Medien Film und Fotografie haben das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper verändert. Sie haben dazu beigetragen, die klassischen Geschlechterrollen zu lockern, behauptet Christina von Braun, selber Filmemacherin und Kulturwissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität. Es handelt sich dabei um einen ambivalenten Prozeß, der Entfremdungen aber auch Freiheiten birgt. Die Freiheiten haben zum Jahrhundertende mit dem Internet eine neue Dimension gewonnen. Christina von Braun:

 

O-Ton,  Christina von Braun:
Wenn ich ins Internet gehe, kann ich mir den Körper zulegen, der mir gerade paßt, ich kann ein anderes Alter, ein anderes Geschlecht, eine andere Rasse mir zulegen, und sozusagen spielerisch mit den Gegebenheiten meines biologischen Körpers umgehen. Und genau das hat eigentlich schon mit dem Kino begonnen, diesen wechselhaften Umgang mit den biologischen Gegebenheiten herbeizuführen.
Hier würde ich einen Faktor sehen, den die medialen Bedingungen bezogen auf den Körper mit sich gebracht haben. Und Sie finden die Widerspiegelung dieser Entwicklung auch in der sozialen Realität wieder, also daß Frauen in Männerkleidung seit 1900 zunehmend sich bewegen, daß die beiden Geschlechter in ihrer Kleidung zunehmend ununterscheidbar sind. An der Universität mindestens finden Sie inzwischen auch Männer in Röcken, das ist immer noch die Ausnahme, aber der Bann ist gebrochen. Und Sie finden ohnehin auch in der Körpersprache von Männern schon erheblich mehr Weiblichkeit, als das noch vor 50 oder 20 Jahren der Fall war.

 

Musik: Olivier Messiaen, Quatuor pour la fin du Temps, Intermède

(dem folgenden Text unterlegen)

 

Sprecherin:

Mit welchem Geschlecht man geboren wird, ist Schicksal, aber kein totales, kein Verhängnis. Die Moderne hat Freiheitsspielräume eröffnet, wie man bzw. frau die eigene Geschlechterrolle verstehen und interpretieren wollen. Unbewußt und bewußt werden Bilder aufgesogen, sie werden individuell abgewandelt und so buchstäblich eingebildet.

 

Musik: Olivier Messiaen, Quatuor pour la fin du Temps, Intermède

 

 

Sprecher:

Die Bilder in all ihrem Glanz, die uns im Medienzeitalter überfluten, bedeuten jedoch eine große Gefahr. Denn das Bild bietet, obwohl es ephemeren und flüchtigen Charakter besitzt, stets den faszinierenden Schein einer vollkommenen Gegenwart. Ob schön oder häßlich, es ist perfekt, eine geschlossene Gestalt.

Hier vermutet der Berliner Philosoph und Soziologe Dietmar Kamper den tieferen Grund, warum sich die Menschen zunehmend von den Bildern verführen und in eine Falle locken lassen.

 

O-Ton,  Dietmar Kamper:

Man könnte ... sagen, die Menschen haben was davon, wenn sie Bilder statt der Dinge wählen. Erstens vergessen sie ihre Sterblichkeit, sie vergessen ihre Gebrechlichkeit, sie haben plötzlich Zugang zu einer perfektiblen, zu einer Welt der Vervollkommnung, und ich denke ... das geht nur mit den Bildern, das geht mit den Körpern nicht, die Körper haben immer noch ihre Geschichte, haben ihre Krankheiten, sie sind nicht vollständig in Besitz zu nehmen. Wenn es aber gelingt, statt der Körper die Bilder von den Körpern zu wählen, auch für das eigene Begehren, dann könnte es den Anschein haben als wäre menschliche Entwicklung dort zu befrieden, ... diese Kräfte der Phantasie und der Simulation, die korrespondieren mit einer Grundtendenz der Gesellschaft, also so etwas wie eine vollständige Insel auszubilden, jeder Mensch ist eine absolute getrennte Insel von jedem anderen und hat die Welt nur noch als Bild bei sich und auch die anderen Menschen nur noch als Bilder bei sich und sogar seinen eigenen Körper nur noch als Bild vermittelt über einen Bildschirm bei sich.

 

Sprecherin:

Bilder sollen über die Endlichkeit hinwegtrösten, indem sie eine Unvergänglichkeit anbieten, während der Leib unwiderruflich altert und verfällt. Was das konkret heißt, wird am Beispiel von Stars deutlich. Marlene Dietrich verschanzte sich im Alter in ihrer Pariser Wohnung vor den Blicken der Menschen. Sie ging nicht mehr auf die Straße, weil sie annahm, daß ihre wirkliche Existenz nicht mehr vor dem Bild bestehen konnte. So opferte sie ihr Leben jenem Mythos, den Hollywood aus ihr gemacht hatte.

 

Sprecher:

Dietmar Kamper vermutet hier die Konsequenz eines Zivilisationsprozesses, der immer mehr von der Körperlichkeit weg und zum Symbolischen hinsteuert, der also vom Prinzip einer Abstraktion gelenkt ist. Darin regiert die Angst vor dem Tode, vor der Endlichkeit, die verdrängt wird. So hat die neuzeitliche Philosophie den Menschen als ein Subjekt entworfen, das vollständig autonom und von keinem anderen abhängig ist. Das Subjekt sollte sein eigener Grund sein. Dem steht aber die leibliche Existenz entgegen. Menschen fangen nicht bei sich selbst an. Sie werden von anderen geboren, sind zeitlebens auf andere angewiesen und müssen sterben. Geburt und Tod bilden einen Skandal für die klassische Subjektphilosophie. Noch heute werden diese Themen an den Rand geschoben.  Es ist eine Hypothek, die die Philosophie ins 21. Jahrhundert mitnimmt.

 

Sprecherin:

Das Selbstbild des Menschen gerät in eine gefährliche Zange. Auf der einen Seite dominieren die perfekten Bilder des Films und der Reklame, mit ihrem Jugend- und Schönheitskult, auf der anderen Seite drängen sich mehr und mehr medizinische und biotechnische Perfektionierungsangebote auf, erst recht wenn die Gentechnologie die Erforschung des menschlichen Genoms abgeschlossen hat. 

Vermag sich der Mensch im 21. Jahrhundert noch zu behaupten und selber zu achten als ein endliches, beschränktes, gebrechliches Wesen? Oder sieht er im Spiegel nur ein überholtes Modell und wird sich seiner selbst schämen?

Dazu Christina von Braun:

 

O-Ton,  Christina von Braun:

Das sind ungeheuer starke Definitionen, die sich dem menschlichen Körper aufdrängen und die ihm permanent das Gefühl vermitteln, nicht zulänglich zu sein. Das gilt für den männlichen wie für den weiblichen Körper unter diesem neuen Normendruck, den Gentechnologie und die Medien in die Welt gesetzt haben. Andrerseits muß ich sagen, ich bin gar nicht so pessimistisch, und vielleicht hilft es da auch, sich diesen historischen Blick zu bewahren. Es hat immer wieder Phasen gegeben, wo sehr starke Strömungen einer Domestizierung, einer Beherrschbarkeit der Welt, eine Rolle spielten, und gleichzeitig haben diese historischen Phasen auch immer wieder Gegenbewegungen hervorgerufen, also die Fähigkeit des menschlichen Körpers, sich seiner Normierung zu entziehen und immer wieder unberechenbare Faktoren hineinzubringen, und das ist ja genau das, was die Normen immer wieder beängstigt, jede Norm ist keine Norm mehr in dem Moment, wo sie durchbrochen werden kann, genau auf die Fähigkeit des menschlichen Körpers und des menschlichen Geistes setze ich eigentlich sehr stark.

 

Sprecher:

Christina von Braun vertraut darauf, daß der menschliche Körper sich nicht vollständig funktionalisieren läßt. Der Leib rebelliert immer wieder gegen die gesellschaftlichen Nötigungen, die man ihm antut, gegen Konkurrenz, gegen entfremdete Arbeit und Zeithetze, indem er sich gleichsam querstellt in der Sexualität, im Wahn, vor allem aber in der Krankheit.

 

Sprecherin:

Es geht in diesem Zusammenhang nicht darum, die Gentechnologie als absoluten Gegner des Lebens und der Natur zu ächten. Zu fürchten an ihr sind jedoch zwei Dinge: erstens die Machbarkeitsideologie, mit der sie vor allem bei amerikanischen Wissenschaftlern und Konzernen verbunden ist, jene Allmachtsallüre, Leben und Tod früher oder später in den Griff zu bekommen. Und zweitens das höchst bedenkliche Tempo ihrer Anwendung. Während die Evolution ihre Mutationen und Zufallswürfe über Jahrtausende prüfte, setzt die Gentechnologie schon die nächsten und übernächsten Biokreuzungen frei, ohne die Auswirkungen der ersten auf die Umwelt abgewartet und wissenschaftlich ausgewertet zu haben.

 

Sprecher:

Aber diese Überstürzung ist kein Spezifikum der Gentechnologie, sondern Signatur der Epoche: Allenthalben werden im Wettlauf um den höchsten Profit technische Neuerungen, Maschinen und Computerprogramme, unausgereift auf den Markt geworfen.

Inzwischen hat man die Erfahrung gemacht, daß in manchen Situationen nur noch eine energische Notbremsung hilft. Beim großen Börsenkrach 1987 führte die globale Vernetzung dazu, daß sich eine Verunsicherung in Windeseile zur totalen Krise aufschaukelte und ins Unkontrollierbare eskalierte. Dem schwindelerregenden Tempo des Kursverfalls wußte die Börsenleitung bezeichnenderweise nur so zu begegnen, daß sie kurzerhand die Computer abschaltete.

 

Musik: Bernd Alois Zimmermann, Stille und Umkehr

 

Sprecherin:

Doch die Beschleunigungsspirale, auch im Börsenhandel, dreht sich weiter. Auf eine Verlangsamung, eine Entschleunigung, zu hoffen, scheint illusorisch. Die Entdeckung der Langsamkeit - so der Titel von Sten Nadolnys erfolgreichem Roman ist zwar in vieler Munde, aber schon die Suche nach individuellen Nischen der Tempodrosselung erweist sich als schwierig. Ein anderer Umgang mit der Zeit ist vertrackt.

 

Sprecher:

Wenn man seine Zeit nach Managerart bis in die kleinsten Einheiten hinein organisiert, um auf diese Weise verfügbare Stunden zu gewinnen, so erreicht man das Gegenteil. Ein durchökonomisierter Tageskalender, eine kleinzellig eingeteilte Zeit bringt den Planer erst recht in Termindruck und forciert damit genau jenes Übel, das er loszuwerden trachtet. Dietmar Kamper hat diese Fatalität treffend formuliert: ‚Je mehr Zeit man spart, desto weniger hat man.‘ Oder anders gesagt. Wer sich zum Herrn der Zeit machen will, endet als ihr Sklave. Nur wer Zeit verschenkt, d.h. sich selbst losläßt, hat an ihrem Reichtum Anteil. Aber diese Einsicht steht quer zum Geist unserer Zeit, der auf Herrschaft und Verfügung ausgerichtet ist.

 

Sprecherin:

Noch schwieriger gestaltet sich die Frage nach dem kollektiven Schicksal:

Wird das Raumschiff Erde mit seiner überhöhten Geschwindigkeit manövrierfähig bleiben, oder wird es im nächsten Jahrhundert aus der Bahn geschleudert? Offensichtlich ist die Frage nach dem Tempo in dieser Hinsicht mit dem Problem der politischen und sozialen Balance verknüpft. Gelingt es, die rasanten gesellschaftlichen Transformationen in der postindustriellen Informationsgesellschaft mit ihrem notorischen Mangel an Arbeitsplätzen auszusteuern? Findet man einen sozialen Ausgleich, ein genügendes Maß an Gerechtigkeit?

 

Sprecher:

Seit dem Ende des Kalten Krieges tickt die Atombombe nicht mehr so laut, ohne das freilich das Vernichtungspotential entschärft und der Frieden sicher ist. Aber die Frist, in denen die Weltmächte gemäß der Logik der Abschreckung über das Fortbestehen der Menschheit bestimmen, hat sich - nicht waffentechnisch, aber politisch - wieder etwas verlängert. Jedenfalls gibt es genügend Zeit und Raum für Verhandlungen und diplomatische Schlichtungsversuche, für ein öffentliches Nachdenken und sogar Platz für Zweifel.

 

Sprecherin:

Denn der Zweifel gehört durchaus zur Kunst des besonnenen Abwägens hinzu. Solange er nicht lähmend wird, zeugt er von politischer Reife. Christina von Braun sieht in den Debatten um den Kosovo-Krieg ein Zeichen, das uns zuversichtlich ins 21. Jahrhundert treten läßt.

 

O-Ton, Christina von Braun:
Ich glaube, es hat noch nie einen Krieg gegeben, der zumindest auf der einen kriegführenden Seite, eine solche starke Kritik an der eigenen Kriegsführung gehabt hat, solche starke Zweifel: Tun wir das Richtige? Ist es ein gerechter, ist es nicht ein gerechter Krieg? - ... Wenn eine Gesellschaft es sich leisten kann, mit einer solchen Ambivalenz umzugehen, ... ich muß sagen, das stimmt mich wiederum sehr optimistisch, weil mit dieser Art von Ambivalenzfähigkeit in die Zukunft hineinzugehen, eine Ambivalenzfähigkeit, die sagt, einerseits handle ich, andererseits beobachte ich mich aber auch bei diesem Handeln von außen, das sind nicht unbedingt die Art von Situationen, die in Richtung neue Eindeutigkeit steuern, in Richtung neue Gewalttätigkeit, sondern die eher versuchen, mit diesem Zweifel zu leben, und das sind sicherlich nicht die schlechtesten Epochen, die nach diesem Prinzip gelebt haben.