Flughafengeräusche
Sprecherin:
Begrüßen Sie
das neue Jahrtausend zweimal! Fliegen Sie mit uns in der Nacht der Nächte von
Paris nach New York! Der amerikanische Reiseveranstalter Spirit Tours bietet
einen exklusiven Trip zum Millennium an. Eine halbe Stunde nach Mitternacht
startet eine Concorde vom Flughafen Charles de Gaulle in Paris, wo die
Passagiere auf das neue Jahrtausend angestoßen haben. Auf ihrem Flug gen
Westen, schneller als die Erde sich dreht, überholt die Maschine gleichsam die
Zeit und landet am 31. Dezember 21.55 Uhr Ortszeit in New York, um die
Reisenden ein zweites Mal den Anbruch des neuen Jahrtausends erleben zu lassen.
Flughafengeräusche
Sprecher:
Weitere
Aufenthalte in Mexiko und auf Hawai runden eine 11-tägige Luxusreise ab, die 39.800
Dollar kostet. Der exklusive Trip hat nur einen einzigen Schönheitsfehler. Er
findet nicht statt, nachdem bis Mitte November nur vier von 96 Plätzen gebucht
worden sind.
Liegt es nur
an den überhöhten Preisen? Oder traut man dem Flugbetrieb in der Silvesternacht
wegen des Jahr-2000-Problems doch nicht? Sollen sich viele Manager und
hochdotierte Führungskräfte in Havarie-Bereitschaft halten?
Sprecherin:
Abgesagt ist
unter anderem auch die geplante vier Millionen Mark teure Party in den
Düsseldorfer Messehallen, für die sich 2000 Gäste vormerken ließen. Dem Organisator
fehlt es an Sponsoren für das kostspielige Projekt. Vollzieht sich der Jahrtausendwechsel
vielleicht unspektakulärer, als die pompösen Parties vorgeben wollten?
Inzwischen liest man auf manchen Haltbarkeitsstempeln und Etiketten jenes
unwahrscheinliche und doch schon banal klingende Jahresdatum Nullnull. In dem
Maße, wie die Gegenwart die restlichen Tage des Jahres aufzehrt, beginnt der
Alltag bereits an der Magie der großen Zahl zu nagen.
Sprecher:
Doch es
bleibt der Wunsch, den mythischen Kalendersprung intensiv zu erleben, den
Moment auszukosten, dabeizusein. Ohnehin ist die Kultur der 90er Jahre auf das
gerichtet, was sie Ereignis oder mit dem gängigen Anglizismus event nennt. Die Gegenwart artikuliert keine großen
Entwürfe oder Erwartungen ans nächste Jahrtausend, ganz im Unterschied zur
letzten Jahrhundertwende 1900, wie Christina von Braun, Kulturwissenschaftlerin
an der Berliner Humboldt-Universität, bemerkt.
O-Ton, Christina
von Braun:
Man muß
zunächst einmal unterscheiden, zwischen dem was man sich erhofft, und dem was
man so beobachtet. Was sicherlich nicht mit 1900 vergleichbar ist, es gibt
nicht so eine Art von Aufbruchstimmung, nicht diese Art von
Zukunftsgläubigkeit, alles wird besser, alles wird wunderbarer, ... die
Jahrhundertwende 1900 ist euphorisch gefeiert worden, als der Anbruch des neuen
glücklichen Zeitalters, das ist bei der Jahrtausendwende nicht der Fall.
Sprecherin:
1900
polarisierte die Menschen. Die Mehrheit glaubte enthusiastisch an einen Fortschritt
auf allen Gebieten. Man hoffte, das 20. Jahrhundert würde die Menschheit
technisch, wissenschaftlich aber auch politisch von allem Übel erlösen und von
allem Ungemach befreien. Eine Minderheit trauerte der Vergangenheit nach, fiel
in düstere Endzeitstimmung, ja schwelgte mitunter in todessehnsüchtiger Melancholie.
Sprecher:
Natürlich
erfahren auch heute wieder die Prophezeiungen vom bevorstehenden Weltuntergang
und vom nahen Jüngsten Gericht ihre Neuauflage, aber solche apokalyptischen
Töne finden wenig Gehör. Man gibt sich betont pragmatisch. Im Internet werden
T-Shirts mit dem Aufdruck 2000 - na und! angeboten. Und dennoch -
gemessen an der Lebensspanne des Individuums, dem kaum hundert Jahre vergönnt
sind - verspricht das Erlebnis eines Jahrtausendwechsels, die Teilhabe an zwei
Millennien also, narzißtischen Trost. Das Ereignis soll intensiv gefeiert werden.
Und die Metropolen der alten und der neuen Welt werben mit glanzvollen Events
um die Touristen.
Sprecherin:
Während man
das Jahr 1900 eigentlich nur in Europa und Nordamerika begrüßte, denn allein
nach christlicher Zeitrechnung brach ein neues Jahrhundert an, werden dieses
Mal alle Kulturkreise mitfeiern, auch wenn nach ihrem Kalender überhaupt kein
Anlaß besteht. Abgesehen von den unterschiedlichen Neujahrstagen befinden sich
die Muslime im Jahr 1420, der jüdische Kalender notiert das Jahr 5759 seit
Gottes Erschaffung der Welt. Die Buddhisten orientieren die Zählung der
heutigen Epoche am Tod Buddhas im Jahr 483 v. Chr. Und auf dem indischen Subkontinent der
Hindus, Sikhs und Jainas begegnet man gleich einer ganzen Vielfalt von Kalendern.
Sprecher:
Das
weltweite Fest spiegelt die Globalisierung auf kultureller Ebene wider, offenbart
freilich auch, daß die universale Perspektive westlich dominiert ist.
Die
Globalisierung manifestiert sich ebenso sehr im Mediengeschehen. Die amerikanische
Fernsehgesellschaft MTN will die historische Silvesternacht aus allen 24
Zeitzonen der Erde übertragen und ein Verbund von 50 Fernsehsendern hat sich
diesem Projekt angeschlossen. Wer will, kann also vor laufendem Fernsehgerät
oder öffentlicher Großleinwand an jedem anderen Ort des Globus mitfeiern. Die
Menschen der Jahrtausendwende triumphieren qua Technik über Raum und Zeit.
Ihnen wird das göttliche Attribut der Omnipräsenz zuteil: überall gleichzeitig
zu sein.
Sprecherin:
Möglich
machen diese Verfügung über Raum und Zeit Satelliten, Computer und die Netze
der Telekommunikation. Die neuen Informationstechnologien bilden die Spitze des
technischen Fortschritts, sie demonstrieren aber auch, wie sehr die Abhängigkeit
des Menschen von der Technik gewachsen ist. Diese Abhängigkeit wird nirgendwo anders so signifikant wie in
der vieldiskutierten Jahr-2000-Problematik der Computer und Mikrochips. Kein
Simulationstest isolierter Systeme kann verläßlich Auskunft darüber geben, was
angesichts der komplexen Vernetzungen in der Silvesternacht passieren wird oder
nicht.
Sprecher:
Seit dem
Untergang der Titanic 1912 hat das 20. Jahrhundert immer wieder bitter erfahren
müssen, daß die Technik ihre Grenzen hat. Das hat sich ins allgemeine
Bewußtsein eingraviert, meint der bayrische Historiker Franz Herre.
O-Ton, Franz Herre:
Was zur
Jahrhundertwende 1900 die Leute begeistert hat, nämlich der absolute Glaube an
den ständigen technischen Fortschritt, der stößt heute an seine Grenzen, ich
brauche nur das Stichwort Atom, Atomenergie, Atombombe sagen, man merkt doch,
daß man da, wenn man es nicht ausufern lassen will, bis zur Selbstvernichtung
und Selbstzerstörung der Menschheit, daß man da irgendwo einen Strich ziehen
muß, daß wohl die Errungenschaften der Zivilisation, die genießen wir ja alle,
darum machen wir auch hier über Funk ein Interview, aber ... es darf nicht so
sein, daß es zu einer Religion fast wird, und daß man eben doch auch Grenzen
einhält, daß es nicht ausufert.
Sprecherin:
Aber nichts
scheint zur Jahrtausendwende unmöglicher als der Versuch technische
Entwicklungsprozesse anzuhalten oder auch nur zu verlangsamen. Mehr als alles
andere ist die gegenwärtige Situation charakterisiert durch eine Beschleunigung
in allen Bereichen: Güter, Informationen, und nicht zuletzt die Menschen selber
werden in einem vorher nicht gekannten Tempo durch Raum und Zeit katapultiert,
das jedes menschliche Maß gesprengt hat.
Musik: Steve Reich, Different Trains, 1. Teil: America - Before the war
(im folgenden unterlegen)
Sprecher:
Dabei wird
das Tempo der Transportmittel nur noch übertroffen von demjenigen der
Informations- und Kommunikationsmedien: Rundfunk, Fernsehen, Telefon und die
vernetzten Computer übermitteln Nachrichten und Bilder über jede Entfernung
hinweg buchstäblich im Nu, in Echtzeit wie es im Computerneudeutsch heißt.
Der
französische Philosoph Jean Francois Lyotard erklärt, daß ein neues Niveau der
Naturbeherrschung erreicht sei. Es sei gelungen, ein immer dichter geknüpftes
Netz von Information und Organisation über den Erdball zu werfen.
Musik: Steve Reich, Different Trains, 1. Teil: America - Before the war
Sprecherin:
Eine
Entwicklung, die im 19. Jahrhundert mit Eisenbahn und Telegrafie die Überwindung
des Raumes in Angriff nahm, ist im 20. Jahrhundert mit der Eroberung der Zeit
fortgesetzt worden. Zur Jahrtausendwende gleicht die Erde einem Raumschiff, das
eine neue Triebstufe gezündet und seine Umlaufbahn verlassen hat.
Musik: Steve Reich, Different Trains, 1. Teil: America - Before the war
Sprecher:
Eine
erschöpfende Analyse und Positionsbestimmung zum Millennium ist schwierig. Es
gibt zahlreiche Ansatzpunkte für unterschiedliche Betrachtungen. Aber mit
Sicherheit kommt den Verkehrs- und Informationsmedien eine Schlüsselrolle zu im
Blick auf den weiteren Kurs der Weltgeschichte. Die These von einer Kultur der
Beschleunigung eignet sich als Leitfaden einer Situationsbestimmung.
Sprecherin:
Die enormen
Fortschritte in den Transport- und Informationstechnologien sind kein rein
technisches Phänomen, das der Gesellschaft äußerlich bliebe. Sie formen vielmehr
das soziale Leben bis in den Alltag hinein, sie prägen die Erfahrungs- und
Wahrnehmungsweise der Menschen.
Denn in dem
Maße wie das ehemals Ferne nun erreichbar wird, rückt es ins eigene Erlebnis-
und Handlungsfeld. Je schneller sich Kontakte via Handy herstellen lassen,
desto zahlreicher sind sie möglich und zumutbar. Je schneller sich Wege zurücklegen
und Aufgaben bewältigen lassen, um so mehr Platz für andere Projekte wird frei,
um so ungeduldiger drängen weitere nach.
Sprecher:
Das Hier und
Jetzt des Menschen wird gleichsam überfüllt. So entsteht unabhängig vom
individuellen Charakter jene strukturelle Hektik, jener Zeitdruck, den der Soziologe
Arnold Gehlen als gestörtes Zeitbewußtsein der Gegenwart diagnostiziert hat.
Die Nutzung der Verkehrsmittel verändert den Menschen, meint der Essener
Kommunikationstheoretiker und Philosoph Norbert Bolz:
O-Ton, Norbert
Bolz:
Die uns
prägenden ungeheuren Beschleunigungen sind natürlich an Maschinen gebunden, an
Motoren gebunden, und ich denke, ein wesentliches Moment zur Erklärung etwa des
Autofetischismus, des Fetischismus des Fahrens ohne Ziel, liegt in der
Synergetik Mensch-Maschine, die sich hier in einer früher noch undenkbaren
Weise verwirklicht hat. Man muß den Autofahrer nicht mehr als Werkzeugbenutzer
betrachten, der das Auto als ein Instrument benutzt, um irgendwohin zu kommen.
Und daß diese Synergetik, dieses Zusammenwirken von Mensch und Maschine als
Lust erfahren wird, das ist gleichzeitig, vor allem für humanistisches
Bewußtsein, ein Schock, aber zugleich eine alltägliche Erfahrung, die man in
vielen Bereichen, auf vielen Schauplätzen machen kann. Beim Autofahren, aber
auch, denken Sie an das Verhältnis, das die Menschen zu Computern entwickeln,
denken Sie an das Verhältnis, das Menschen zu Massenmedien entwickeln. Überall
dort zeigt sich: diese Menschen benutzen Medien, Transportmittel, ihr Auto
nicht mehr als Werkzeuge, als Instrumente, um etwas zu erreichen, sondern das
Begehren geht darauf, mit diesen Maschinen zu verschmelzen und mit ihnen
gemeinsam aktiv zu werden.
Sprecherin:
Der
Philosoph Peter Sloterdijk nennt das Auto das "technische Double des Subjekts":
Er schreibt:
Zitator:
"Wer
Auto fährt, ... fühlt wie sein kleines
Ich sich zu einem höheren Selbst erweitert, das uns die ganze Welt der
Schnellstraßen zur Heimat gibt und uns bewußt macht, daß wir zu mehr berufen
sind als zum halb tierischen Fußgängerdasein."
Autoverkehr (Geräusche)
Sprecher:
In der
Autoreklame, egal welcher Marke, erscheint das Fahrzeug immer als Solitär in
der Landschaft. Das Auto spiegelt das Bild des Individuums in seinem Wunsch
nach Bewegungsfreiheit und Einzigartigkeit. Aber die Werbeinszenierung leugnet
die Gegenwart der anderen, sie leugnet die Massengesellschaft ebenso wie die
überfüllten Straßen, wo sich die Freiheit des Individualverkehrs im Massenstau
selbst ad absurdum führt.
Autoverkehr (Geräusche)
Sprecherin:
Doch genau
dies ist die historische Erfahrung am Jahrhundertende:
Der Traum
der ständig höheren Geschwindigkeit, der Dynamik des "Immer schneller,
immer höher, immer weiter" schlägt um in sein genaues Gegenteil, in die Immobilisierung
des Menschen, in eine erzwungene Passivität:
Sloterdijk
schreibt weiter:
Zitator:
Deswegen
sind ... die großen Staus auf den sommerlichen Autobahnen Mitteleuropas
Phänomene von geschichtsphilosophischem Stellenwert. ... in ihnen begegnet uns
das Ende einer Illusion - sie sind der kinetische Karfreitag, an dem die Hoffnung
auf Erlösung durch Beschleunigung zugrunde geht. An diesen glühenden
Nachmittagen im Trichter von Lyon, in der Rheintalhölle vor Köln, eingekeilt am
Irschenberg auf Europas längstem Parkplatz, vor sich und hinter sich je fünfzig
Kilometer brütendes gestocktes Blech - da steigen schwarze
geschichtsphilosophische Einsichten auf wie Auspuffgase, ... Nachrufe auf die
Moderne wehen aus den Seitenfenstern, und unabhängig vom Niveau ihrer
Schulabschlüsse kommt in den Insassen der Fahrzeuge die Ahnung auf, daß dies
nicht mehr lange so weitergehen kann."
Sprecher:
Die
abendländische Kultur hat sich einseitig als vita activa entfaltet bis hin zu
jener entfesselten Moderne, die in der Rastlosigkeit ihrer Dynamik, ihrem
ständigen Willen zur Selbstüberschreitung, das vermeintliche Heil erblickt.
Andere Seiten des Menschseins, Gelassenheit, Hinnahme und Anerkennung des
anderen, blieben unterentwickelt. Ein solche Haltung, die das andere
buchstäblich sein läßt, also geschehen läßt, ohne es formen und beherrschen zu
wollen, findet sich bei dem amerikanischen Komponist John Cage in seinen
zufallsbestimmten Musikstücken.
Musik von
John Cage: Music of Changes
Sprecherin:
Zur
Jahrtausendwende schlägt der Prozeß der Beschleunigung, gerade weil er ungebremst
weiterläuft, immer häufiger in sein Gegenteil um: Inmitten der Hochgeschwindigkeit
kommt die Bewegung selber zum Erliegen. Das gilt nicht allein für den
Autoverkehr mit seinen allgegenwärtigen Staumeldungen, sondern auch für die
Erfahrung des Fliegens, wie Norbert Bolz erläutert:
O-Ton,
Norbert Bolz:
Ganz sicher hat
Fliegen heute nichts mehr mit dem Traum vom Fliegen zu tun, ganz gewiß hat auch
Autofahren nichts mehr mit dem Er-fahren von Landschaft, von Gegenden, von
Städten, von Ländern zu tun, sondern es ist schon so, wie Virilio sagt, auch
der Autofahrer sitzt hinter seiner Windschutzscheibe wie hinter einem
Bildschirm. Die Erfahrung, die man von Landschaft macht, ist kaum mehr zu
unterscheiden von der Erfahrung, die man auf den Bildschirmen der Massenmedien
macht. Man ist noch nicht de facto, aber virtuell doch schon an Leitstrahlen
angekoppelt, man folgt den Schienen, den Netzen der Autobahnen, und es ist viel
zu riskant geworden, sich von diesen Trassen, diesen Schienen zu entfernen.
Desgleichen natürlich das Fliegen, das ja heutzutage in diesen großen, man
müßte schon sagen: Transportmaschinen für Menschen gar nicht mehr die Erfahrung
des Fliegens aufkommen läßt. Man hält sich ja sehr viel länger in den
Wandelhallen der Flughäfen auf, als in den Flugzeugen selbst, die Flugzeit
selbst wird immer kürzer, die Wartezeit wird immer länger. ... Das Warten auf
ein verspätetes Flugzeug, das Stehen im Stau auf der Autobahn: das sind die
eigentlichen Erfahrungen, die man noch macht. Also gerade nicht die Erfahrung
des Reisens, sondern chaotische Aufschaukelungen eines unübersehbar werdenden
Verkehrs.
Sprecher:
Die
Steigerung der Geschwindigkeit, die Zunahme des Verkehrs, des Unterwegsseins,
führt paradoxerweise dazu, daß die Wahrnehmung austrocknet und verkümmert.
Ehemals wurde Reisen, Unterwegssein, In-die-Welt-hinaus-ziehen mit Bildung,
wurde Weltläufigkeit mit Wissen gleichgesetzt, so wie das Wort 'Erfahrung' ja
auch von 'fahren' abstammt. Heute hat Reisen geradezu einen gegenteiligen Effekt:
Je mehr und je schneller wir fahren, desto weniger
er-fahren wir.
Sprecherin:
Die
Autobahn, kritisiert der französische Philosoph Paul Virilio vernichtet das unmittelbare
Verhältnis von Mensch und Natur, weil sie sich zwischen den Reisenden und die
Landschaft schiebt. Wo sich die ehemalige Landstraße in ihrem Verlauf gleichsam
der Landschaft anschmiegte, durchtrennt der Asphaltstreifen den Raum.
Buchstäblich auf der Strecke bleibt dabei jedoch die intensive Erfahrung der
Nähe, die der Mensch zu Fuß, der Reiter, auch der Reisende in der Postkutsche
noch erleben konnten: die Geräusche und Gerüche, die Wahrnehmung des Weges,
überhaupt der ganze Reichtum, den die Sinne im ihrem synästhetischen Zusammenspiel
erschließen.
Sprecher:
Auf der Jagd
nach der Erzielung immer höherer Geschwindigkeit erscheint der Körper der Erde
selber nur noch ein Hindernis darzustellen, das überwunden oder gar beseitigt
werden muß. Das ideale Verkehrsmittel wäre ein Tunnel, eine Vakuumröhre, durch
die die Menschen nach Art der Rohrpost hindurchgeschossen würden.
Sprecherin:
Virilio
betrachtet die Eroberung des Raumes im Prinzip als abgeschlossen, die Krone der
Geschwindigkeit ist von den Transportmitteln auf die Übertragungsmedien
übergewechselt. Spätestens bei stockendem Verkehr oder im Stau greift der
Fahrer zum Handy. Das Informationsmedium soll den erlittenen Tempoverlust
kompensieren. Es befreit die Stimme, während ihr Inhaber im Transportmittel gefangensitzt
und nicht mehr vom Fleck kommt.
Sprecher:
Die Informationstechnologien arbeiten mit
nahezu Lichtgeschwindigkeit. Virilio betrachtet es daher als anachronistisch,
mit dem Auto zu einem Ort in der Welt aufzubrechen, wenn die Daten von dort -
Bilder, Töne, Texte - schon längst auf dem heimischen Bildschirm, Fernseher
oder Computermonitor eingetroffen sind.
Raum und
Zeit scheinen von der Geschwindigkeit besiegt:
Sprecherin:
Das
populärste Medium Fernsehen verleiht dem Auge Flügel, so daß es sich über die
Distanz des Raum hinwegschwingen kann. Ebenso spielt das Fernsehen mit der
Zeit: Es rafft oder dehnt sie, es hält sie an, kehrt sie um oder wiederholt
sie. So kann jeder bei der Übertragung des Fußballspiels das Foul im Strafraum
in Ruhe studieren und ein gerechtes Urteil fällen. Das Fernsehen erhebt den
Zuschauer zum Oberschiedsrichter.
Sprecher:
Aufgrund
seiner Regie über Raum und Zeit wird dem Fernsehen bei der Inszenierung des
Millenniums eine Hauptrolle zufallen. Rund um den Globus, rund um die Uhr wird
es uns den Anbruch des neuen Jahrtausends miterleben lassen. Und doch wird
dieser Triumph geradewegs in einer Niederlage münden.
Die
Medienübertragung der Sonnenfinsternis im August lieferte dafür ein Paradebeispiel.
Sprecherin:
Zuerst eilte
das Kamera-Auge auf die britische Kanalinsel, dann nach Nordfrankreich,
anschließend über das Saarland weiter nach Stuttgart und nach Bayern, um
schließlich in Österreich erneut auf die 'Schwarze Sonne' zu warten. War das
Jahrhundertereignis an dem einen Ort vorüber, stand es am nächsten wieder
bevor. Und darin wurde das unvergleichliche Erlebnis schal. Ein Ereignis ist
durch seine Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit charakterisiert. Nichts
destruiert ein Ereignis gründlicher als eine mediale Wiederholungsschleife, in
der es ermüdet und zur Belanglosigkeit verkommt.
Sprecher:
Unser Bedürfnis nach Information begrüßt es, daß
die Telekommunikationstechnologien heute in der Lage sind, ferne Ereignisse
live zu übertragen und Nachrichten in "Echtzeit", d.h. nahezu ohne zeitliche
Verzögerung zu übermitteln. Indes hat die Hypergeschwindigkeit auch eine
problematische Seite, die Paul Virilio aufgezeigt hat: Ein Übermaß an
Live-Berichterstattung hat paradoxerweise den Effekt einer Zensur. Denn die
Bilder der Ereignisse folgen so dicht aufeinander, der Zuschauer ist als Voyeur
am heimischen Bildschirm so sehr an den Fortgang der Fernsehereignisse
gebunden, daß er keine Zeit mehr zum Verarbeiten, zum Nachdenken und zur Kritik
findet. "Man muß die Zeit zurückerobern" fordert Virilio,
"Information in Echtzeit ist keine wirkliche Information, sondern eine
Aktion - wie eine Ohrfeige."
Sprecherin:
Der bayrische Historiker Franz Herre, lange Jahre
in der Programmleitung der Deutschen Welle tätig, relativiert diese
Einschätzung, in Teilen hält er aber Virilios Befürchtungen gegenüber den neuen
Medien für berechtigt.
O-Ton, Franz Herre:
Das ist ein
typischer Fall, daß Dinge positive und negative Seiten haben, diese
Kommunikationsgesellschaft mit den schnellen Nachrichtenmitteln, das hat bestimmt
auch positive Seiten, sie bringt die Menschen näher, es ist ganz interessant zu
wissen, was in der Welt vorgeht, daß man auch seine eigenen Schlüsse daraus
ziehen und seine eigenen Erfahrungen sammeln kann, das ist das Positive aber
... diese Schnelligkeit, dieses fast schon Überstürzende der Nachrichten, diese
Geschwindigkeit, nicht nur die Lichtgeschwindigkeit, die Nachrichtengeschwindigkeit,
die Kommunikationsgeschwindigkeit hat natürlich auch große Gefahren, denn man
kommt gar nicht mehr zur Besinnung, man guckt nicht mehr zurück, sowieso nicht,
... in der Gegenwart besinnt man sich nicht mehr, man guckt nur noch nach
vorne, das ist nicht richtig, und das kann wirklich Probleme geben.
Senderwechsel, Zapping
Sprecher:
Wie wird es
im 21. Jahrhundert weitergehen? Schon im letzten Jahrzehnt ist zu Fernsehen,
Radio und Telefon das riesige Informations- und Kommunikationsangebot des
Internet mit diversen Online-Diensten hinzugetreten. Über die neuen Kanäle
dringt eine ungeheure Masse an Information auf den Einzelnen ein, die nicht
mehr zu überschauen, geschweige denn zu bewältigen wäre. Der französische Medienphilosoph
Jean Baudrillard entwirft ein Schreckensszenario überfetteter Datensysteme und
kollabierender Kommunikationsnetze, wo die Hypertrophie der Information
einhergeht mit einer Verkümmerung der lebendigen Erinnerung und Erfahrung.
Senderwechsel, Zapping
Sprecherin:
Erinnerung
verlangt Selektion, man muß wichtiges von unwichtigem trennen, man muß wissen,
was man ignorieren oder vergessen kann. Genau diesen notwendigen
Verarbeitungsprozeß sieht der New Yorker Kommunikationswissenschaftler Neil
Postman gefährdet. Postman befürchtet, daß die Medien das Reflexionsniveau zersetzen
und eine Kultur befördern könnten, die einseitig auf Kurzweil und Zerstreuung
ausgerichtet sei. Wir amüsieren uns zu Tode - so lauten die These und
der Titel eines seiner Bücher. Und Paul Virilio prognostiziert einen Niedergang
des kulturellen Gedächtnisses. Er schreibt:
Zitator:
Wir haben in
einer Zeit gelebt, die die Zeit des Menschen und des Gedächtnisses war und die
ich als physiologisch bezeichnen würde oder als die der Bücher. Bücher stellen
ein langsames und verzögertes Gedächtnis dar, denn wenn man liest, geht man mit
den Geschehnissen nicht synchron. Die Welt beginnt aber, mit dem was geschieht,
synchron zu leben: Die Realzeit stellt zugunsten des Reflexes und der
augenblicklichen Wahrnehmung die verzögerte Zeit des unmittelbaren Gedächtnisses
und auch das Denken in den Schatten. Wir leben 'live'.
Sprecher:
Virilio
beklagt diese Entwicklung als Entfremdung, die eine ursprüngliche Erfahrung des
Menschen aushebelt und sein Reflexionsvermögen ruiniert. Er unterlegt seiner
Kritik an der Kultur der Beschleunigung eine Vorstellung von ursprünglicher,
unmittelbarer Erfahrung des Menschen. Gegen diese Grundlegung der Kritik, nicht
gegen einzelne Aussagen wendet sich der Kasseler Medientheoretiker und
Kulturanalytiker Georg Christoph Tholen.
O-Ton, G.
Christoph Tholen:
Was nicht
geht, und was sich aber wiederholt, ist eine Kulturkritik die sagt, der Raum
und die Zeit und der Mensch wäre verlorengegangen - das ist dieselbe Position
wie um 1900, weil es - und das ist jetzt das Schwierige - den Raum und die
Zeit, die jetzt verlorengegangen sei, gar nicht gibt, sondern - und da darf ich
jetzt einmal Walter Benjamin zitieren, einen der wichtigsten Denker in diesem
Zusammenhang, der das am Beispiel von Fotografie und Film gezeigt hat. ... daß
die Abbilder wie Fotografie und Film mit ihrer eigenen Ästhetik neue Wahrnehmungs-
und Kommunikationsformen erzeugen. Und so ist es heute auch mit der digitalen
Revolution. Nicht also wie Virilio sagt, die künstliche Welt der Sehmaschinen
zerstöre den natürlichen Blick - den hat es nie gegeben, es ist immer schon
medienvermittelte Wahrnehmung und Erfahrung, die wir haben - sondern die
Vielfalt von historischer Zitierbarkeit, Reproduzierbarkeit, Verschiebbarkeit
von Erlebnis- und Wahrnehmungsformen auch in kultureller Hinsicht erzeugt also
die Möglichkeit einer neuen kulturrelativen Erkundung von Zwischenräumen.
Sprecherin:
Erfahrung
war immer schon kulturell vermittelt. Die Wahrnehmung strukturiert sich nicht
allein nach den physiologischen Gegebenheiten, auch nicht nur gemäß der
sogenannten reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit, wie Kant philosophisch
ausgeführt hat. Die Bilder der Renaissance beispielsweise belegen, wie sich zu
Beginn der Neuzeit der zentralperpektivische Blick durchgesetzt hat.
Insofern
belehren uns zum Jahrhundertende die neuen Medien paradoxerweise über einen
alten Sachverhalt, daß nämlich immer
schon Vermittler - Medien im Wortsinn - am Werke sind, wenn Menschen Welt
erfahren, allerdings nicht in solchem Umfang und in solcher Intensität wie in
der Gegenwart.
Sprecher:
Dabei
zeichnet sich auch ein qualitativer Sprung ab, der die Frage der Öffentlichkeit
und der sozialen Synthese in einem völlig neuen Licht stellt.
Die Verbindung nach draußen, mit der Welt und den anderen, erfolgt heute wesentlich
über Medien. Der soziale Anschluß ist buchstäblich ein technischer: Fernseher,
Telefon, Computer bilden die modernen Nabelschnüre zur Welt. Das hat der Philosoph
Günter Anders schon vor vierzig Jahren kommen sehen, als er schrieb, die
zentrale Funktion der Wohnung werde es nun sein, den Bildschirm für die Außenwelt
zu enthalten. Und Jean Baudrillard meinte polemisch: "Jedem seine
Kapsel", womit er das ganze Dilemma der menschlichen Isolation inmitten
der Vernetzung ausgesprochen hat.
Musik: Koyaanisquatsi (Philip Glass), The Grid
(dem folgenden Text unterlegen)
Sprecherin:
Die
klassische Öffentlichkeit hatte ihre Marktplätze und Werkstätten, Parlamente
und Versammlungsorte, Clubs und Cafes. Es war eine arbeitende, unmittelbar
kommunizierende, leibhaftig interagierende, in größeren Familien und Gruppen lebende
Gesellschaft. Diese klassische Öffentlichkeit ist weitgehend aufgelöst und in
Millionen Privaträume zerstreut, in denen die Bundesbürger im Schnitt zwei Stunden
täglich fernsehen, die jüngeren im Internet surfen, und eine zunehmende Zahl
von Menschen am vernetzten PC in Heimarbeit jobbt. An die Stelle der
klassischen ist eine virtuelle Öffentlichkeit getreten, die paradoxerweise
gerade dort sich konstituiert, wo man immer die Privatsphäre angesiedelt sah.
Im Gegenzug zerfallen städtische Räume, die dem sozialen Miteinander dienten.
Privat und Öffentlich haben gleichsam die Plätze getauscht.
Musik: Koyaanisquatsi (Philip Glass), The Grid
Sprecher:
Und diese
neue Formen von Öffentlichkeit sind geprägt vom enormen Tempo der
Informationstechnologien: die ständigen Umfragen beispielsweise - 'Wen würden Sie wählen, wenn morgen
Bundestagswahl wäre?'- deren Ergebnisse umgehend ins Medium zurückgespeist
werden, verkürzen die Zeit der Legislaturperiode gegen Null. Im Grunde herrscht
nun ein permanenter Fernseh-Wahlkampf. Deshalb drängen sich die Politiker
danach, möglichst oft und möglichst lange auf dem Bildschirm zu sein. Immer
häufiger treten sie auch in unpolitischen Sendungen auf. Das Regierungshandeln
muß irgendwie sichtbar gemacht, inszeniert werden. Denn nichts kann
durchgesetzt werden, was buchstäblich nicht ins Bild paßt. Polemisch
zugespitzt: am besten regiert wird im Fernsehen.
Musik: Koyaanisquatsi (Philip Glass), The Grid
Sprecherin:
Die Medien,
allen voran das Fernsehen, verlangen im Gegensatz zur alten Öffentlichkeit
keinerlei Mitverantwortung, Engagement oder aktive Teilnahme. Fernsehen
bedeutet einerseits bloßes Dabeisein, in aller Unverbindlichkeit irgend etwas
auch gesehen zu haben. Andrerseits geschieht im Hintergrund Schwerwiegenderes:
Institutionen, Überzeugungen, Einstellungen, die früher außerhalb der Medien existierten,
werden nicht - wie das klassische Mißverständnis unterstellt - lediglich abgebildet
oder dargestellt, sondern werden nun mehr selber von den Medien reproduziert:
Mit anderen Worten: Sozialisation und Selbstverständigung der Gesellschaft
ebenso wie des Einzelnen finden heute vor allem in und über Medien statt. Georg
Christoph Tholen erläutert es an einem Beispiel aus seiner Arbeit:
O-Ton, G.
Christoph Tholen
Schaut man
sich - was ich zur Zeit mache - alle Talkshows an im Fernsehen, dann entdeckt
man folgendes und das mache ich mit Foucaultscher Nüchternheit: Was meint das?
- Man sieht dort, daß die Fernsehgemeinschaft, in der anscheinend alles und
jedes beredet werden kann, alle sexuellen Perversionen, alle Schuldgefühle, alle
Beziehungsprobleme - es sind ja soundsoviele Talkshows, und diese Tyrannei der
Intimität versuche ich so zu beschreiben: Einerseits sozialisiert sich diese
Fernsehgemeinschaft in einem Verlust der Werte und Normen, via narzißtischem
Spiegelbild in dieser Fernsehsendung entsteht erst ein kulturelles Wir, eine
kontrollierte Norm dessen, was vernünftig sei und was abweichend sei, also die
Norm und die Abweichung entstehen in dieser Instantaneität, in dieser Gleichzeitigkeit
der Fernsehshows, und der Moderator, wenn man einmal alle wie in einem
Mischbild zusammennimmt, ist eine Mischung aus Priester, Therapeut und
Familienersatz.
Sprecher:
Neue
Gemeinschafts- und Vorbilder werden medial erzeugt. Das Wort von der Macht der
Medien scheint plausibel. Allerdings nicht in der Weise, daß allgewaltige
Medienmogule das ganze Geschehen von außen wie Marionettenspieler dirigieren,
sondern daß es sich um subtile Prozesse handelt, an denen alle bis hin zum
heimischen Zuschauer beteiligt sind, wenn auch nicht in gleicher Weise.
Sprecherin:
Ein
Machtgefälle tut sich auch zwischen den verschiedenen Kulturkreisen auf. Denn
die globalisierte Welt, das Raumschiff Erde, fährt nicht nur politisch und
ökonomisch, sondern auch medienkulturell unter amerikanischer Flagge. Diese
Hegemonie gefährdet den Reichtum der nationalen und kulturellen Besonderheiten.
O-Ton, G. Christoph Tholen:
Zunächst gilt ohne
Zweifel, daß die teletechnologischen Beschleunigungseffekte, die Virilio beschrieben
hat, natürlich Homogenisierungseffekte erzeugen - simples anschauliches
Beispiel: Wenn Sie Technokultur von alten südfranzösischen oder spanischen
Stierkampffesten sehen bis hin nach Südamerika, oder den Vox-Sender nachts
anschalten, dann sehen Sie überall diese homogenisierte Technokultur, als ein
Beispiel in der Popkultur, und zugleich sehen Sie, nehmen wir das Beispiel Internet
- neue Formen von intervenierender, gastlicher, soziopolitischer Räume, die
sich neu bilden. Also neue Öffentlichkeitsstrukturen, die nicht mehr nur die
der literarisch geprägten Öffentlichkeit sind, die sich molekular - wie Deleuze
sagen würde - also in einer Vielfalt bilden. In Bezug auf die Machtbeziehungen,
die ja ambivalent sind mit den neuen Medien, um es einfach auszudrücken, ist
hier zugleich ein Ausloten neuer, auch machtkritischer
Öffentlichkeitsstrukturen jederzeit möglich.
Sprecher:
Die Gefahren
wie auch die Chancen, die in der Entwicklung der Mediengesellschaft liegen, hat
der 1991 verstorbene Kommunikationstheoretiker
und Philosoph Vilém Flusser in zwei gegensätzlichen Modellen reflektiert:
das positive
Modell des Netzes und das negative des Bündels:
Sprecherin:
Das
Netzmodell - wie es beispielsweise im Post- und Telefonsystem oder im Internet
verwirklicht ist, berge emanzipatorisches Potential: wenn alle Teilnehmer gleichermaßen
Informationen senden wie empfangen können, sei eine Kommunikation im wahrhaften
Sinne möglich, ein Dialog ohne hierarchisches Zentrum, eine Demokratie im
Informationszeitalter.
Sprecher:
Dagegen
bieten Fernsehen, Radio und Presse das Negativbeispiel: Ihre Bündelstruktur
verweist auf ein Zentrum, von dem alle Botschaft strahlenförmig ausgesendet
wird, aber eben nur über Einbahnstraßen, wenn man hier einmal von den rudimentären
Feedbacks wie Hörerpost und Leserbriefen absieht. Die Empfänger sind von
einander isoliert, sie stellen bloße Konsumenten dar, eine Masse, betont
Flusser, die in Verantwortungslosigkeit versinkt, weil man sie von der
Möglichkeit des Antwortens systematisch abgeschnitten hat.
Sprecherin:
"Das
Zeug ist falsch geschaltet", hat Flusser über unser Fernsehen geschimpft
und gefordert, daß Fernsehen und Radio zu wirklich dialogisch strukturierten
Medien umfunktioniert würden.
Sprecher:
In den USA
gibt es hingegen Pläne, das anarchische gewachsene Internet, das Flussers
Modell eines dezentralen und dialogischen, d.h. demokratischen Medium entspricht,
in ein System hierarchisch geordneter Datenautobahnen umzuwandeln. Vor allem
die großen Medienkonzerne wünschen ein technisch aufgerüstetes Netz, um über
spezielle Kabel ihre Filme, Videospiele und diversen Konsumangebote direkt
in jedes Wohnzimmer zu liefern. Selber senden sollen die Angeschlossenen
jedoch nicht mehr, Informationsfluß in beide Richtungen belastet in den Augen
der Konzernchefs lediglich die begrenzte Kapazität des Netzes, ohne Profit
einzubringen.
Sprecherin:
Die Pläne
stoßen aber auf heftige Kritik. Was wird aus der Öffentlichkeit im 21.
Jahrhundert? Wird man das Internet zerstören? Werden die künftigen Datenautobahnen
so teuer, daß sich öffentliche Institutionen und erst recht Privatpersonen einen
Anschluß gar nicht mehr leisten können?
Sprecher:
Informationstechnologie
und Telekommunikation haben schon jetzt das Gesicht der Welt verändert. Sie
werden das 21. Jahrhundert prägen. Zu Recht spricht man von einer
Medienrevolution, die vergleichbar ist mit dem Aufkommen der Schrift oder der
Erfindung des Buchdrucks. Der öffentliche Raum ist von Reklame übersät, der
Verkehr und das Zusammenleben durch Zeichen geregelt, und die Massenmedien
deuten in Wort und Bild die Welt. Immer weniger scheint sie eine stoffliche
Welt der Dinge, immer mehr eine Welt der Zeichen, der Immaterialität:
Der
französische Philosoph Jean Francois Lyotard schreibt:
Zitator:
Es ist, als
hätte man zwischen uns und den Dingen einen Filter gesetzt, einen Schirm von
Zahlen. Eine Farbe, ein Ton, ein Stoff, ein Schmerz oder ein Stern kommen zu
uns zurück als Zahlen auf Kennkarten von größter Genauigkeit. ... Die gute alte
Materie selbst erreicht uns am Ende als etwas, das in komplizierte Formeln
aufgelöst und wiederzusammengesetzt worden ist. Die Wirklichkeit besteht aus
Elementen, die von Strukturgesetzen in nicht mehr menschlichen Raum- und
Zeitmaßstäben organisiert werden.
Sprecherin:
Aber die
digitale Erfassung gebiert eine zweite Anschaulichkeit, visualisiert das
Abstrakte. Sie liefert Bilder über Bilder. Was aber bedeutet es allenthalben
Bildern zu begegnen? Was heißt es, selber zu einem Bild zu werden?
Sprecher:
Die Medien
Film und Fotografie haben das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper
verändert. Sie haben dazu beigetragen, die klassischen Geschlechterrollen zu
lockern, behauptet Christina von Braun, selber Filmemacherin und Kulturwissenschaftlerin
an der Berliner Humboldt-Universität. Es handelt sich dabei um einen
ambivalenten Prozeß, der Entfremdungen aber auch Freiheiten birgt. Die Freiheiten
haben zum Jahrhundertende mit dem Internet eine neue Dimension gewonnen.
Christina von Braun:
O-Ton, Christina von Braun:
Wenn ich ins
Internet gehe, kann ich mir den Körper zulegen, der mir gerade paßt, ich kann
ein anderes Alter, ein anderes Geschlecht, eine andere Rasse mir zulegen, und
sozusagen spielerisch mit den Gegebenheiten meines biologischen Körpers umgehen.
Und genau das hat eigentlich schon mit dem Kino begonnen, diesen wechselhaften
Umgang mit den biologischen Gegebenheiten herbeizuführen.
Hier würde ich einen Faktor sehen, den die medialen Bedingungen bezogen auf den
Körper mit sich gebracht haben. Und Sie finden die Widerspiegelung dieser Entwicklung
auch in der sozialen Realität wieder, also daß Frauen in Männerkleidung seit
1900 zunehmend sich bewegen, daß die beiden Geschlechter in ihrer Kleidung
zunehmend ununterscheidbar sind. An der Universität mindestens finden Sie inzwischen
auch Männer in Röcken, das ist immer noch die Ausnahme, aber der Bann ist
gebrochen. Und Sie finden ohnehin auch in der Körpersprache von Männern schon
erheblich mehr Weiblichkeit, als das noch vor 50 oder 20 Jahren der Fall war.
Musik: Olivier Messiaen, Quatuor pour la fin du
Temps, Intermède
(dem folgenden Text unterlegen)
Sprecherin:
Mit welchem
Geschlecht man geboren wird, ist Schicksal, aber kein totales, kein Verhängnis.
Die Moderne hat Freiheitsspielräume eröffnet, wie man bzw. frau die eigene
Geschlechterrolle verstehen und interpretieren wollen. Unbewußt und bewußt
werden Bilder aufgesogen, sie werden individuell abgewandelt und so buchstäblich
eingebildet.
Musik: Olivier Messiaen, Quatuor pour la fin du
Temps, Intermède
Sprecher:
Die Bilder
in all ihrem Glanz, die uns im Medienzeitalter überfluten, bedeuten jedoch eine
große Gefahr. Denn das Bild bietet, obwohl es ephemeren und flüchtigen Charakter
besitzt, stets den faszinierenden Schein einer vollkommenen Gegenwart. Ob schön
oder häßlich, es ist perfekt, eine geschlossene Gestalt.
Hier
vermutet der Berliner Philosoph und Soziologe Dietmar Kamper den tieferen
Grund, warum sich die Menschen zunehmend von den Bildern verführen und in eine
Falle locken lassen.
O-Ton, Dietmar
Kamper:
Man könnte
... sagen, die Menschen haben was davon, wenn sie Bilder statt der Dinge
wählen. Erstens vergessen sie ihre Sterblichkeit, sie vergessen ihre Gebrechlichkeit,
sie haben plötzlich Zugang zu einer perfektiblen, zu einer Welt der Vervollkommnung,
und ich denke ... das geht nur mit den Bildern, das geht mit den Körpern nicht,
die Körper haben immer noch ihre Geschichte, haben ihre Krankheiten, sie sind
nicht vollständig in Besitz zu nehmen. Wenn es aber gelingt, statt der Körper
die Bilder von den Körpern zu wählen, auch für das eigene Begehren, dann könnte
es den Anschein haben als wäre menschliche Entwicklung dort zu befrieden, ...
diese Kräfte der Phantasie und der Simulation, die korrespondieren mit einer
Grundtendenz der Gesellschaft, also so etwas wie eine vollständige Insel auszubilden,
jeder Mensch ist eine absolute getrennte Insel von jedem anderen und hat die
Welt nur noch als Bild bei sich und auch die anderen Menschen nur noch als
Bilder bei sich und sogar seinen eigenen Körper nur noch als Bild vermittelt
über einen Bildschirm bei sich.
Sprecherin:
Bilder
sollen über die Endlichkeit hinwegtrösten, indem sie eine Unvergänglichkeit
anbieten, während der Leib unwiderruflich altert und verfällt. Was das konkret
heißt, wird am Beispiel von Stars deutlich. Marlene Dietrich verschanzte sich
im Alter in ihrer Pariser Wohnung vor den Blicken der Menschen. Sie ging nicht
mehr auf die Straße, weil sie annahm, daß ihre wirkliche Existenz nicht mehr
vor dem Bild bestehen konnte. So opferte sie ihr Leben jenem Mythos, den
Hollywood aus ihr gemacht hatte.
Sprecher:
Dietmar
Kamper vermutet hier die Konsequenz eines Zivilisationsprozesses, der immer
mehr von der Körperlichkeit weg und zum Symbolischen hinsteuert, der also vom
Prinzip einer Abstraktion gelenkt ist. Darin regiert die Angst vor dem Tode,
vor der Endlichkeit, die verdrängt wird. So hat die neuzeitliche Philosophie
den Menschen als ein Subjekt entworfen, das vollständig autonom und von keinem
anderen abhängig ist. Das Subjekt sollte sein eigener Grund sein. Dem steht
aber die leibliche Existenz entgegen. Menschen fangen nicht bei sich selbst an.
Sie werden von anderen geboren, sind zeitlebens auf andere angewiesen und
müssen sterben. Geburt und Tod bilden einen Skandal für die klassische
Subjektphilosophie. Noch heute werden diese Themen an den Rand geschoben. Es ist eine Hypothek, die die Philosophie ins
21. Jahrhundert mitnimmt.
Sprecherin:
Das
Selbstbild des Menschen gerät in eine gefährliche Zange. Auf der einen Seite
dominieren die perfekten Bilder des Films und der Reklame, mit ihrem Jugend-
und Schönheitskult, auf der anderen Seite drängen sich mehr und mehr
medizinische und biotechnische Perfektionierungsangebote auf, erst recht wenn
die Gentechnologie die Erforschung des menschlichen Genoms abgeschlossen
hat.
Vermag sich
der Mensch im 21. Jahrhundert noch zu behaupten und selber zu achten als ein
endliches, beschränktes, gebrechliches Wesen? Oder sieht er im Spiegel nur ein
überholtes Modell und wird sich seiner selbst schämen?
Dazu
Christina von Braun:
O-Ton, Christina von Braun:
Das sind
ungeheuer starke Definitionen, die sich dem menschlichen Körper aufdrängen und
die ihm permanent das Gefühl vermitteln, nicht zulänglich zu sein. Das gilt für
den männlichen wie für den weiblichen Körper unter diesem neuen Normendruck,
den Gentechnologie und die Medien in die Welt gesetzt haben. Andrerseits muß
ich sagen, ich bin gar nicht so pessimistisch, und vielleicht hilft es da auch,
sich diesen historischen Blick zu bewahren. Es hat immer wieder Phasen gegeben,
wo sehr starke Strömungen einer Domestizierung, einer Beherrschbarkeit der
Welt, eine Rolle spielten, und gleichzeitig haben diese historischen Phasen
auch immer wieder Gegenbewegungen hervorgerufen, also die Fähigkeit des menschlichen
Körpers, sich seiner Normierung zu entziehen und immer wieder unberechenbare
Faktoren hineinzubringen, und das ist ja genau das, was die Normen immer wieder
beängstigt, jede Norm ist keine Norm mehr in dem Moment, wo sie durchbrochen
werden kann, genau auf die Fähigkeit des menschlichen Körpers und des
menschlichen Geistes setze ich eigentlich sehr stark.
Sprecher:
Christina
von Braun vertraut darauf, daß der menschliche Körper sich nicht vollständig
funktionalisieren läßt. Der Leib rebelliert immer wieder gegen die gesellschaftlichen
Nötigungen, die man ihm antut, gegen Konkurrenz, gegen entfremdete Arbeit und
Zeithetze, indem er sich gleichsam querstellt in der Sexualität, im Wahn, vor
allem aber in der Krankheit.
Sprecherin:
Es geht in
diesem Zusammenhang nicht darum, die Gentechnologie als absoluten Gegner des
Lebens und der Natur zu ächten. Zu fürchten an ihr sind jedoch zwei Dinge:
erstens die Machbarkeitsideologie, mit der sie vor allem bei amerikanischen
Wissenschaftlern und Konzernen verbunden ist, jene Allmachtsallüre, Leben und
Tod früher oder später in den Griff zu bekommen. Und zweitens das höchst bedenkliche
Tempo ihrer Anwendung. Während die Evolution ihre Mutationen und Zufallswürfe
über Jahrtausende prüfte, setzt die Gentechnologie schon die nächsten und
übernächsten Biokreuzungen frei, ohne die Auswirkungen der ersten auf die
Umwelt abgewartet und wissenschaftlich ausgewertet zu haben.
Sprecher:
Aber diese
Überstürzung ist kein Spezifikum der Gentechnologie, sondern Signatur der
Epoche: Allenthalben werden im Wettlauf um den höchsten Profit technische
Neuerungen, Maschinen und Computerprogramme, unausgereift auf den Markt
geworfen.
Inzwischen
hat man die Erfahrung gemacht, daß in manchen Situationen nur noch eine
energische Notbremsung hilft. Beim großen Börsenkrach 1987 führte die globale
Vernetzung dazu, daß sich eine Verunsicherung in Windeseile zur totalen Krise
aufschaukelte und ins Unkontrollierbare eskalierte. Dem schwindelerregenden
Tempo des Kursverfalls wußte die Börsenleitung bezeichnenderweise nur so zu begegnen,
daß sie kurzerhand die Computer abschaltete.
Musik: Bernd Alois Zimmermann, Stille und Umkehr
Sprecherin:
Doch die
Beschleunigungsspirale, auch im Börsenhandel, dreht sich weiter. Auf eine Verlangsamung,
eine Entschleunigung, zu hoffen, scheint illusorisch. Die Entdeckung der
Langsamkeit - so der Titel von Sten Nadolnys erfolgreichem Roman ist zwar
in vieler Munde, aber schon die Suche nach individuellen Nischen der
Tempodrosselung erweist sich als schwierig. Ein anderer Umgang mit der Zeit ist
vertrackt.
Sprecher:
Wenn man
seine Zeit nach Managerart bis in die kleinsten Einheiten hinein organisiert,
um auf diese Weise verfügbare Stunden zu gewinnen, so erreicht man das
Gegenteil. Ein durchökonomisierter Tageskalender, eine kleinzellig eingeteilte
Zeit bringt den Planer erst recht in Termindruck und forciert damit genau jenes
Übel, das er loszuwerden trachtet. Dietmar Kamper hat diese Fatalität treffend
formuliert: ‚Je mehr Zeit man spart, desto weniger hat man.‘ Oder anders
gesagt. Wer sich zum Herrn der Zeit machen will, endet als ihr Sklave. Nur wer
Zeit verschenkt, d.h. sich selbst losläßt, hat an ihrem Reichtum Anteil. Aber
diese Einsicht steht quer zum Geist unserer Zeit, der auf Herrschaft und
Verfügung ausgerichtet ist.
Sprecherin:
Noch
schwieriger gestaltet sich die Frage nach dem kollektiven Schicksal:
Wird das
Raumschiff Erde mit seiner überhöhten Geschwindigkeit manövrierfähig bleiben,
oder wird es im nächsten Jahrhundert aus der Bahn geschleudert? Offensichtlich
ist die Frage nach dem Tempo in dieser Hinsicht mit dem Problem der politischen
und sozialen Balance verknüpft. Gelingt es, die rasanten gesellschaftlichen
Transformationen in der postindustriellen Informationsgesellschaft mit ihrem
notorischen Mangel an Arbeitsplätzen auszusteuern? Findet man einen sozialen Ausgleich,
ein genügendes Maß an Gerechtigkeit?
Sprecher:
Seit dem
Ende des Kalten Krieges tickt die Atombombe nicht mehr so laut, ohne das
freilich das Vernichtungspotential entschärft und der Frieden sicher ist. Aber
die Frist, in denen die Weltmächte gemäß der Logik der Abschreckung über das
Fortbestehen der Menschheit bestimmen, hat sich - nicht waffentechnisch, aber politisch
- wieder etwas verlängert. Jedenfalls gibt es genügend Zeit und Raum für
Verhandlungen und diplomatische Schlichtungsversuche, für ein öffentliches
Nachdenken und sogar Platz für Zweifel.
Sprecherin:
Denn der
Zweifel gehört durchaus zur Kunst des besonnenen Abwägens hinzu. Solange er
nicht lähmend wird, zeugt er von politischer Reife. Christina von Braun sieht
in den Debatten um den Kosovo-Krieg ein Zeichen, das uns zuversichtlich ins 21.
Jahrhundert treten läßt.
O-Ton,
Christina von Braun:
Ich glaube, es hat
noch nie einen Krieg gegeben, der zumindest auf der einen kriegführenden Seite,
eine solche starke Kritik an der eigenen Kriegsführung gehabt hat, solche
starke Zweifel: Tun wir das Richtige? Ist es ein gerechter, ist es nicht ein gerechter
Krieg? - ... Wenn eine Gesellschaft es sich leisten kann, mit einer solchen
Ambivalenz umzugehen, ... ich muß sagen, das stimmt mich wiederum sehr optimistisch,
weil mit dieser Art von Ambivalenzfähigkeit in die Zukunft hineinzugehen, eine
Ambivalenzfähigkeit, die sagt, einerseits handle ich, andererseits beobachte
ich mich aber auch bei diesem Handeln von außen, das sind nicht unbedingt die
Art von Situationen, die in Richtung neue Eindeutigkeit steuern, in Richtung
neue Gewalttätigkeit, sondern die eher versuchen, mit diesem Zweifel zu leben,
und das sind sicherlich nicht die schlechtesten Epochen, die nach diesem
Prinzip gelebt haben.