Musik:

Antonin Dvořák, Sinf. Nr. 9, Aus der Neuen Welt,  4. Satz Allegro

 

Sprecherin:

Weltausstellung Paris 1900. Die Menschen begrüßen und feiern das neue Jahrhundert mit einer gigantischen Fortschrittsschau. Das Areal der Ausstellung erstreckt sich über weite Teile der französischen Metropole. Ganz Paris ist gerüstet, präsentiert sich als Motor der Moderne. Die Linie 1 der Metro hat zu Jahrhundertbeginn ihren Betrieb aufgenommen, verbindet unterirdisch den Westen mit dem Osten der Stadt.

 

Sprecher:

Oberirdisch chauffiert man die Besucher auf einem eigens installierten rollenden Bürgersteig, wo unter ihren staunenden Blicken ein neues Verkehrsmittel - das Auto - vorbeifährt. Mensch und Welt sind in Bewegung gesetzt, starten in ein Jahrhundert ungeheurer Mobilität.

 

Musik:

Antonin Dvořák, Sinf. Nr. 9, Aus der neuen Welt,  Allegro

 

Sprecherin:

Die Pariser Weltausstellung stellt nicht nur  technische Neuerungen vor. Hier wetteifern nicht allein Erfinder, Ingenieure und Industrieunternehmen, hier konkurrieren ganze Nationen. Sie demonstrieren, was sie in der Vergangenheit geleistet haben und womit sie die Zukunft erobern wollen: die Deutschen zeigen Dynamos; die Russen verweisen auf ihre Transsibirische Eisenbahn; und die Nordamerikaner sind stolz auf das neue Licht, das Edison mit der Erfindung der Glühbirne der Welt geschenkt hat.

Daß es nicht ein nur friedfertiger Konkurrenzkampf bleiben würde, darauf deutet das neue Riesengeschütz von Schneider-Creusot, mit dem die Franzosen imponieren.

 

Sprecher:

Aber alle einigt und beflügelt ein schier unerschütterlicher Glaube an den Fortschritt, der - wie der bayrische Historiker Franz Herre in seinem Buch mit dem Titel Jahrhundertwende 1900 aufzeigt, - offensichtich religiösen Charakter angenommen hat. Franz Herre zu dem Phänomen selbst:

 

O-Ton, Franz Herre:

Es kommt zum Beispiel dadurch zur Geltung, daß eine Riesenstatue gleich am Anfang stand, daß man gleich am Eingang zum berühmten Grand Palais, das zu diesem Anlaß in Paris gebaut wurde, an der Champs Élysées eine riesige Figurengruppe angebracht hatte, eine Quadriga, auf der die Göttin des Fortschritts steht, und unten krümmt sich unter den Hufen der voranstürmenden Pferde der Tod, der sozusagen alles symbolisiert, was man in der neuen Zeit überwinden wollte: Rückschrittlichkeit, alte Vorstellungen und Vorurteile, Rückständigkeit - man wollte rasant in die Zukunft, und es war eben damals so, daß die überwiegende Mehrheit der Menschen, nicht nur in Paris und unter den Besuchern der Weltausstellung, sondern in ganz Europa, doch primär daran glauben, daß nun alles besser, schneller und schöner wird.

 

Sprecherin:

Ein Gebäude stahl auf der Pariser Weltausstellung allen anderen, sogar dem berühmten Eiffelturm von 1889 die Schau: der sogenannte Elektrizitätspalast mit seiner atemberaubenden Lichtfülle, den funkelnden Kaskaden und Springbrunnen, "deren  glühende Farben alle Minuten wechselten", wie es ein Zeitgenosse schilderte. Elektrizität hieß die neue bahnbrechende Energie, die 48 Millionen Ausstellungsbesucher in ihren Bann schlug.

 

Sprecher:

Nicht nur der Elektrizitätspalast, sondern das gesamte Ausstellungsgelände und weite Teile von Paris erstrahlten nachts im neuen Licht. Schluß war mit den alten schummrigen Gaslaternen, elektrische Straßenlampen besiegten das Dunkel der Nacht, - die elektrische Fee, wie man damals schwärmte, hatte Paris in eine Lichterstadt, in eine ville lumière verwandelt.  Aufklärung war endlich technisch umgesetzt worden, wie Franz Herre erläutert:

 

O-Ton, Franz Herre:

Licht war ja fast schon ein philosophischer, ein ideologischer Begriff. Das ganze 19. Jahrhundert, dieser ganze Fortschritt, der sich in der Industrie und in der Technik manifestiert, der hatte ja seinen gedanklichen Ursprung in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, und man sagt Aufklärung - d.h. man will in das Dunkel Licht bringen, also Licht war ein Ideal, das man erreichen wollte, und wenn plötzlich eine Straße, ein Boulevard in Paris, der vorher nicht unbeleuchtet war mit seinen Gaslaternen, plötzlich im Licht erstrahlt, oder wenn gar vom Eiffelturm nun ein elektrischer Drehapparat weit ins Land hinein, übrigens Blau-Weiß-Rot, die Farben der französischen Tricolore hineinstrahlte, dann hatte man das Gefühl jetzt beginnt erst richtig der Fortschritt.

 

Sprecherin:

Das elektrische Licht emanzipierte den Menschen ein Stück weit von der kosmischen Ordnung des Sonnentages, löste ihn aus einem naturgebunden Zyklus, dem der soziale Lebensrhythmus Jahrtausende lang anpaßt war.

 

Sprecher:

Während jedoch auf dem Lande, wo die überwiegende Zahl der Menschen lebte, noch lange Zeit alles beim alten blieb, begann sich um 1900 in den Metropolen, in Paris, London, Berlin und New York, ein neuer spezifisch urbaner Lebensrhythmus auszubilden. Denn die Urbanität der Großstadt - Inbegriff der Moderne - mit ihrer Dynamik und nervösen Unruhe, mit ihrem hektisch pulsierenden Leben wäre ohne Elektrizität undenkbar.

 

Sprecherin:

Die Menschen zu Jahrhundertbeginn spürten intuitiv, daß sich im Triumph der neuen Energie fundamentale Veränderungen ihres Lebens ankündigten.  Und uns heute am Jahrhundertende scheint eine Welt ohne Elektrizität und ohne die in der zweiten Hälfte hinzugekommene Elektronik kaum noch vorstellbar. Der Bruch mit der traditionellen Lebensweise wirkt wie selbstverständlich, obwohl es doch Zeitgenossen noch erlebt haben.

 

Sprecher:

Unmittelbar vor Anbruch des nächsten Jahrtausends scheint es sinnvoll, innezuhalten, aus der Gegenwart einen Schritt herauszutreten und sich die vergangene Jahrhundertwende vor Augen zu führen. Eine solcher Abstand könnte der Diskussion über das Millenium, die oft allzu kurzatmig geführt wird, vielleicht ein Stück historische Tiefenschärfe beisteuern.

 

 

Sprecherin:

Was hat die Menschen, ihr Sein und ihr Bewußtsein, um 1900 bestimmt? Wie haben sie die Zeitenwende erlebt und reflektiert?

 

Sprecher:

"Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen." - mit dieser Sentenz begrüßt die in Stuttgart erscheinende Zeitschrift Land und Meer das Jahr 1900.

Das Wort der Zeitschrift spricht von Untergang, aber auch von  Neuentstehung. Das markiert die starke Polarisierung in den Einstellungen. Die Mehrheit schaut voller Hoffnung auf das neue Jahrhundert, in dem sich - so der französische Schriftsteller Emile Zola, das "Bedürfnis nach Wahrheit und Gerechtigkeit durchsetzen wird, auf der Grundlage der Wissenschaft, die den Traum rechtfertigt."

 

Sprecherin:

Eine Minderheit trauerte jedoch um das alte Jahrhundert, litt unter dem Verlust der tradierten Ordnung und ihrer Werte. Eine melancholische Untergangsstimmung machte sich breit, die mancherorts dekadente Blüten trieb und in bittersüßer Todessehnsucht schwelgen ließ.

 

Sprecher:

Verband man den Optimismus insbesondere mit Paris und der Weltausstellung - so artikulierte sich die Endzeitstimmung nirgendwo stärker als in Wien. Bildete Paris ein Laboratorium des Modernismus, so war Wien eine "Versuchsstation für den Weltuntergang", wie Karl Kraus pointierte.

 

 

 

Sprecherin:

Schon in politischer Hinsicht repräsentierte Wien die Hauptstadt eines Reiches, das dem Untergang geweiht war. Umgeben von Nationalstaaten, die sich überall in Europa durchgesetzt hatten, stellte der Vielvölkerstaat der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie einen lebenden Anachronismus dar. In seinem Innern drängten die slawischen Völker auf nationale Selbständigkeit, und es schien nur eine Frage der Zeit, wann sie das fragile Staatsgebilde auseinandersprengen würden.

 

Sprecher:

Indessen klammerten sich Adel und Bürgertum an Titel und Ämter. Sie verschanzten sich in den Prunkgebäuden der Ringstraße, deren überladene Stuckfassaden die innere Leere und den moralischen Selbstbetrug verbergen sollten. Um jeden Preis suchte man die eigene Krise zu verdrängen, getreu dem Wiener Motto: Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist."

 

Sprecherin:

Man flüchtete sich zurück in die Walzerseligkeit des 19. Jahrhunderts. Doch aus dem Tanz beschwingter Sinnenlust, aus jener Hymne der Lebensbejahung war im Empfinden der Zeit ein Totentanz geworden, eine Valse triste von melancholisch süßer Schwere, wie sie etwa Sibelius 1903 komponierte.

 

Musik: Jean Sibelius, Valse Triste op. 44, Anfang

 

 Sprecher:

Das Bürgertum des ausgehenden 19. Jahrhunderts litt unter seinen erstarrten Konventionen, quälte sich im Korsett der Sinnen- und Leibfeindlichkeit. Es kultivierte die Trauer, ja es verherrlichte den Tod, weil ihm kein neuer Lebensentwurf gelang. Um so mehr schwelgte es in Genuß und morbidem Ästhetizismus. Das Fin de Siècle war geprägt von den müden Seelen egal welchen Alters.

 

Sprecherin:

Eine solche müde Seele war der junge Dichter Hugo von Hofmannsthal. In seinem fiktiven Brief an Lord Chandos artikulierte er nicht nur seine eigene literarische Sprachkrise, sondern auch das Wertvakuum seiner Zeit, der alle Maßstäbe im Urteilen und Handeln zu zerfallen drohten:

 

Zitator:

Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte "Geist", "Seele" oder "Körper" nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. ...Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.

 

Sprecher:

Die Kriterien dafür, was wahr und was falsch, was gut und was schlecht ist, lösten sich auf. Die obersten Werte entwerteten sich - Nietzsche nannte das die Heraufkunft des Nihilismus. Unter der Decke seiner Wissenschaftsgläubigkeit und seines Fortschrittsoptimismus spürte das Bürgertum das innere Wertvakuum der Zeit.

 

Sprecherin:

Wien kultivierte jedoch nicht nur die Dekadenz, es brachte auch deren schärfste Kritiker und neue Aufbruchsbewegungen hervor: Karl Kraus wollte mit seiner 1899 gegründeten Zeitschrift Die Fackel einem Land leuchten, in dem - wie er höhnte - die Sonne niemals aufgeht. Arthur Schnitzler verfaßte 1900 das skandalträchtige  Theaterstück Reigen, ein wahrer Totentanz, der die Gesellschaft in ihren falschen Gefühlen und ihrer Doppelbödigkeit bloßstellte. Und Sigmund Freud enthüllte das Unbewußte dieser Gesellschaft mit den Mitteln der von ihm begründeten Psychoanalyse.

 

Sprecher:

Genau 1900 - vom Autor bewußt auf dieses Datum lanciert - veröffentlichte Freud sein Werk Die Traumdeutung. Freud war ein Aufklärer, der sich nicht allein mit individuellen Neurosen auseinandersetzte. Er untersuchte vielmehr auch die gesellschaftlichen Abwehrhaltungen gegenüber der Moderne, die dekadente Untergangsstimmung und ihre entsprechenden nostalgischen Träume, wie Georg Christoph Tholen, Kulturanalytiker an der Universität Kassel erläutert: 

 

O-Ton, Georg Christoph Tholen:

In dieser Wiener Jugendstilphase möchte ich auf einen Autor hinweisen, der Künstler und Schriftsteller war, das ist Alfred Kubin. ... Ich zitiere jetzt den Roman Die andere Seite von Kubin, wo unterstellt wird, es gäbe eine verlorene schöne, romantische Unmittelbarkeit des Menschen, eine Gemeinschaft... und die wäre von der Künstlichkeit, der Technik, der Industrie, dem - wie es bei Kubin schon heißt - Amerikanismus bedroht. - Sie sehen hier eine sehr depressive Ausprägung eines Traumszenarios, was mit diesen Untergangsstimmungen zu tun hat. Nur hat Freud nie Kubin gerechtfertigt oder fortgeschrieben, sondern er hat dieses Unbehagen an und in der Kultur genommen, um näher ... diese regressiven Wunschvorstellungen selber zu unterbrechen, und zu sagen: 'Nein, das Begehren oder der Wunsch ist etwas, was offen bleibt.' Er hat versucht, diese Todessehnsüchte selber kulturanalytisch zu entziffern.

 

Sprecherin:

Während die Dekadenz-Stimmung vor allem in Wien kultiviert wurde, herrschte in Berlin großsprecherische Zuversicht im Geiste des Wilhelminismus. Stolz blickte man zurück auf die Reichsgründung von 1871. In einer Umfrage der Berliner Illustrierten Zeitung im Jahr 1900 wurde sie von der überwältigenden Mehrheit für das größte historische Ereignis des 19. Jahrhunderts gehalten. Das geeinte Deutschland war groß und mächtig, doch es sollte noch größer und mächtiger werden - jedenfalls nach dem Willen seines Kaisers Wilhelm II., der die Parole ausgab: "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen."

 

Sprecher:

Daß sich hinter der missionarischen Attitüde dieses Sendungsbewußtseins wenig Friedfertiges verbarg, wurde im preußisch-militaristischen Neujahrzeremoniell 1900 deutlich. Franz Herre schildert es:

 

O-Ton, Franz Herre:

Es begann schon am 31. Dezember 1899 um 23 Uhr: Kurz vor Mitternacht, ist in der Schloßkapelle eine Predigt und das Tedeum angesagt. Schlag Zwölf wird das Jahr 1900 mit Kanonendonner der im Lustgarten aufgestellten Batterien begrüßt. Im Schloß ist die Hofgesellschaft zur Gratulationscour versammelt, zieht an dem unter einem Thronhimmel stehenden Kaiserpaar vorbei. Am Neujahrsmorgen werden im Zeughaus, in der Ruhmeshalle der brandenburgisch-preußischen Armee, die Fahnen und  Standarten des Gardekorps neu geweiht.

Der evangelische Feldpropst predigt unter Hinweis auf den Altarschmuck: 'In Schwert und Schild unter dem Kruzifix, das soll unsere gute Wehr und Waffen bleiben, und des Schildes Inschrift ist die große Parole auch für das neue Jahrhundert: Zu Schirm und Schutz / Zu Tat und Trutz / Zu Sieg im Streit / Von Gott geweiht.' Das letzte Wort hat der König von Preußen und Deutsche Kaiser: ' Der erste Tag des neuen Jahrhunderts sieht Unsere Armee, das heißt Unser Volk in Waffen, um seine Feldzeichen geschart, vor dem Herrn der Heerscharen knien.'

 

Sprecherin:

Eine Armee, eigentlich ein ganzes Volk in Waffen - Aus dem Neujahrszeremoniell sprach der Ungeist preußisch-militaristischer Tradition, gepaart mit wilhelminischen Großmachtträumen, ein Gemisch, das die fatale Entwicklung im 20. Jahrhundert bereits ankündigte.

 

Sprecher:

Man kann diesen Fortgang der Geschichte aber nicht allein an Wilhelm II. festmachen. Denn die eitle Geltungssucht, die ihn dazu drängte, mit Bismarck und dessen Strategien außenpolitischer Zurückhaltung und Mäßigung zu brechen, entsprachen der politische Unreife des Volkes. Das deutsche Bürgertum hatte zwar die westlichen Nachbarn eingeholt, aber nur was den Wirtschaftsbürger, den Bourgeois, nicht jedoch was den mündigen Staatsbürger, den Citoyen, anbelangte.

 

Sprecherin:

Heinrich Mann, der ein scharfer Kritiker des Wilhelminismus war, sagte einmal: 'Das deutsche Volk sei ein Herrenvolk aus Untertanen.' Diederich Heßling verkörpert einen solchen Untertanen im gleichnamigen Roman Heinrich Manns.

 

Musik: Preußische Militärmusik

 

Zitator:

"'Hurra!' schrie Diederich, denn alle schrien es; und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schrie, gelangte er jäh bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm ritt der Kaiser hindurch ... Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche, und mit Zügen, steinern und blitzend, ritt die Macht! ... Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben ... Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen als Neuteutonen, als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisationen und Machtverbände kegelförmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend!"

 

Musik: Preußische Militärmusik

 

Sprecher:

Diederich Heßling, der Untertan, ist ein autoritärer Charakter, jemand, der Befehlserfüllung mit Lust besetzt, weil ihn jede Selbstbestimmung überfordert und ängstigt. Heßling ist ein spezifisches Gewächs der deutschen Geschichte, in der keine bürgerliche Revolution Erfolg hatte, er ist ein Typus, dem im 20. Jahrhundert - man denke an Adolf Eichmann - im Nationalsozialismus eine fürchterliche Karriere gelang.

 

Sprecherin:

Die Identifikation des Einzelnen mit nationaler Macht und militärischer Stärke war ein Massenphänomen. Der 1898 unter Mitwirkung preußischer Großindustrieller gegründete Flottenverein sollte Deutschlands Kriegsmarine aufrüsten.  Sogar in den Schulen wurde geworben, und die Pennäler steuerten stolz ihr Scherflein dazu bei, damit Deutschland zur Seemacht avancierte.

 

Sprecher:

Aber die Großmachtträume waren kein spezifisch deutsches Phänomen, sondern nur die preußisch-wilhelminische Variante jenes imperialistischen Geistes, der die Zeit der Jahrhundertwende prägte. Seit 1890 griffen die Nationalstaaten immer aggressiver über ihr Territorium hinaus und unterwarfen sich große Kolonialgebiete. Zur Jahrhundertwende stritt man um die letzten weißen Flecken auf der Weltkarte.

 

Sprecherin:

Zu den alten Kolonialmächten England, Frankreich und Rußland waren neue hinzugestoßen: Deutschland, die USA und Japan forderten ihre Anteil an der Beute. Es ging dabei nicht nur um Macht- und Prestigefragen, sondern auch um ökonomische Interessen, um Rohstoffe und Absatzmärkte, und auch um Nahrungsmittel für die schnell wachsende Bevölkerung in den Industriestaaten.

 

Sprecher:

Der Imperialismus gab der Idee der Nation und dem Nationalbewußtsein eine aggressive Wendung. Ursprünglich, in der Französischen Revolution und noch um 1800 bildete die Nation eine integrative Formel. Im Gegensatz zur alten Ständegesellschaft, die auf der Ungleichheit der Menschen aufbaute, waren in der Nation alle Staatsbürger rechtlich gleichgestellt. Der Kölner Historiker Otto Dann skizziert diese Veränderungen und ihre Konsequenzen für das politische Denken um 1900:

 

O-Ton, Otto Dann:

Wir können also ab den 70er Jahren, nicht nur in Deutschland sondern überhaupt in Europa feststellen, daß das Nationalbewußtsein zum Nationalismus wird, d.h. zu einem ausgrenzenden Verhalten, was sich dann sehr demonstrativ im Imperialismus zeigt, in diesem Run auf die letzten freien Länder, die zu erobern sind. ... und dieses Kolonienerwerben wird nun auch von den bürgerlichen Gesellschaften befördert, es entstehen Kolonialvereine, Flottenvereine, um das zu bewerkstelligen - und diese Erscheinungen fassen wir zusammen als organisierten Nationalismus.

Und das ist das wirklich Neue, was das politische Milieu um 1900 in Europa bestimmt: Daß es so etwas wie eine konkurrierend aufeinander bezogene Staatenvielfalt in Europa gibt. Es gibt kein internationales System mehr, sondern sich souverän gebärdende Nationalstaaten, die in ihrer Armee den Ausweis ihrer nationalen Stärke sehen, stehen sich kampfbereit gegenüber.

 

Sprecher:

Großbritannien war die klassische imperialistische Macht. Queen Victoria, die 1901 nach 63 Regierungsjahren starb, regierte ein British Empire, das ein Fünftel der Erde umfaßte und das größte Weltreich der Geschichte darstellte. Der Kapitalist und Kolonialpolitiker Cecil Rhodes wollte ganz Afrika zwischen Kairo und dem südafrikanischen Kap der britischen Krone unterwerfen. 1899 brach man einen Krieg mit der von holländischen Einwandern gegründeten Burenrepublik vom Zaun, der bis 1902 dauerte.

 

Sprecherin:

Um den erbitterten Widerstand der Buren zu brechen, ließ der britische Oberkommandierende Lord Kitchener Zivilisten in Lager einsperren. 4000 Frauen und Kinder kamen ums Leben - in jenen ersten Konzentrationslagern, die dann im 20. Jahrhundert zu teuflischen Mordmaschinerien perfektioniert wurden. Der englische Imperialismus war ein Gemisch aus Machtwille, ökonomischen Interessen und einer missionarischen Ideologie, die niemand unmißverständlicher als Cecil Rhodes ausgesprochen hat:

 

Zitator:

Ich behaupte, daß wir die erste Rasse in der Welt sind und daß es um so besser für die Menschheit ist, je mehr wir von der Welt bewohnen."

 

Sprecher:

Andere übertrugen die Auffassung des Biologen Charles Darwin 'Das Leben sei ein Kampf ums Dasein' kurzschlüssig vom Tierreich auf die Politik und rechtfertigten in solchem Sozialdarwinismus das Recht des Stärkeren. Man hat auch Friedrich Nietzsche, der 1900 starb, vorgeworfen, er habe solchen Sozialdarwinismus philosophisch legitimiert. Aber heute weiß man, daß Nietzsches vermeintliches Hauptwerk Der Wille zur Macht, in dieser Gestalt nie existierte, sondern von seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche kompiliert wurde - nicht zu letzt, um Nietzsches Werk den Nationalsozialisten anzudienen.

 

 

Sprecherin:

Ebenso falsch scheint es heute, Nietzsches Begriff des Übermenschen einfach mit dem des  Herrenmenschen gleichzusetzen, eine Interpretation, gegen die sich Georg Christoph Tholen wendet:

 

O-Ton, Georg Christoph Tholen:

Man hat Nietzsche unterstellt, er wollte gleichsam als Gottesersatz, den Übermenschen, den Herrenmenschen stilisieren - das Gegenteil steht bei Nietzsche, denn Übermensch meint: über den Menschen hinaus, was heißt das? - Eine neue Bescheidenheit, was den Menschen angeht, und das ...ist die Offenheit und die Unentscheidbarkeit von Werdensprozessen, ... d.h. wenn der Mensch sich als Gottesersatz ins Zentrum stellt, daß er darin die Offenheiten verkennt, die ihn angehen, dazu gehört eben Kunst, Technik, Wissenschaft usw.

Nietzsche - und da gebe ich Heidegger recht -  ist eher ein Kritiker der Anthropologie, in dem er sagt, der Mensch ist das nicht-festgestellte Tier und ist angewiesen auf Bilder, Metaphern, etc. Das alles in dieser wichtigen kleinen Schrift 'Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne' - von der ausgehend man diesen sprachphilosophischen Nietzsche entdeckt, der dann natürlich schildert am Beispiel der Kunst,..., wenn die Kunst meint, das Erbe der von ihm so kritisierten Philosophie zu übernehmen, dann droht der Künstler in den Abgrund zu fallen, dann droht er genau so tot zu werden wie Gott oder wie die Wahrheit, bleibt der Seiltänzer jedoch, hält er die Schwebe aus, diesen unentscheidbaren Spielraum des Erkundens von Möglichkeiten, dann wäre der Seiltänzer derjenige, der schon beginnt, diese schweren ressentimentalen, gleichsam mit Machtgelüsten durchsetzten Wahrheiten aufzulösen. Er weiß dann um die historische Gemachtheit, wie Adorno sagte, von diesen trugbildnerischen Wahrheiten.

 

Zitator:

"Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch - ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.

 

Sprecher:

Mit diesen Worten bestimmt Nietzsche in Also sprach Zarathustra die conditio humana. Und als wollte er die verbale Definition durch eine dramatische Szene veranschaulichen, schildert Nietzsche den Auftritt eines Seiltänzers.  Der Seiltänzer symbolisiert die existentielle Situation des modernen Menschen. Nach der Auflösung der alten Verankerungen in Religion und Tradition, in festen Gesellschaftsordnungen und Wertsystemen gleicht die menschliche Existenz einem Drahtseilakt ohne Netz und doppelten Boden.

 

Sprecherin:

Der moderne Mensch besitzt keinen absoluten Halt, kein Fundament mehr. Sichern kann er sich nur noch selbst, indem er mit eigenen Mitteln - so wie der Seiltänzer mit seinem Balancierstab - versucht, ein immer gefährdetes, immer flüchtiges Gleichgewicht zu wahren.

Es gilt, ein Leben ohne letzte Wahrheiten auf sich zu nehmen. Die menschliche Existenz wird bei Nietzsche zu einer heroischen Aufgabe, zu einem metaphysischen Wagnis. Er fordert ein Menschsein, das mutig und ohne zu klagen Ja sagt zum Aufbruch ins Ungewisse.

 

Musik: Richard Strauss, Also sprach Zarathustra (Anfang)

 

Sprecher:

Nietzsches Bild des Seiltänzers und seine Idee des Übermenschen enthalten, obwohl mißdeutbar, keine Verteidigung der herrschenden Kultur oder gar imperialistischer Machtansprüche. Nietzsche entwirft vielmehr einen Menschen, der buchstäblich auf sich allein gestellt, den Weg über die inneren und äußeren Abgründe zu meistern sucht.

 

Sprecherin:

Aber dieses Konzept einer einsamen heroischen Subjektivität überfordert den Menschen und enthält deshalb keine Antwort auf die Krise. Nietzsche beschwört trotzig eine vollkommen souveräne Lebensform, die keinerlei soziales Angewiesensein kennt, die keine Bindung eingehen und schon gar keine  Hingabe leben darf.

In diesem Konzept befangen, das ihn vielleicht auch selbst zugrundegerichtet hat, ist Nietzsche alles Soziale und Kollektive, zumal die Herausbildung einer modernen Massengesellschaft suspekt. So kann er weder demokratischen Idealen noch der Utopie des Sozialismus etwas abgewinnen.

 

Sprecher:

Und doch erwächst um  die Jahrhundertwende gerade aus diesen Strömungen dem Imperialismus, der die Staaten gegeneinander stellt, ein ernsthafter Gegner. Insbesondere die sich internationalisierende Arbeiterbewegung gewinnt an Stärke.  Otto Dann:

 

O-Ton, Otto Dann:

Das ist wirklich eine alternative Politik, die in der aufsteigenden Arbeiterbewegung entwickelt wurde: Nehmen Sie nur den 1. Mai. Seit 1890 gibt es die Zweite Internationale, nachdem Karl Marx in den sechziger Jahren schon eine Internationale Assoziation der Arbeiterbewegung versucht hatte, das hat nicht geklappt. Aber der erste Ansatz von Jean Jaurès und August Bebel und vielen anderen dann 1890 - ganz bewußt 1889 zum 100. Jahrestag der Französischen Revolution beschlossen - daß man diese Internationale schaffen will, gerade als Gegensatz, - man hat ja diesen Nationalismus der sich aufplusternden bürgerlich-adligen Nationalstaaten vor Augen, in denen man lebt. Und ich denke, das Alternativbewußtsein zu dieser Politik ist ganz dominant in der Sozialdemokratie.

Seit 1907 - die 2. Internationale hat sich ständig getroffen - ist der Weltfrieden ein ständiges Thema, man ahnte, es kommt zu einem Krieg, man war der Meinung, man könnte ihn verhindern, warum man ihn nicht verhindert hat, warum man ihn nicht verhindern konnte, das ist wieder eine andere Frage.

 

Sprecherin:

Der ökonomische, technische, wissenschaftliche Fortschritt, der um 1900 die Industrieländer beflügelte, schuf ungeheuren Reichtum, aber auch neue bittere Armut. In London, Hauptstadt und Industriemetropole, Handels- und Finanzzentrum des fortgeschrittensten Staates, lebten rund 30 Prozent der Einwohner im Elend: meist Industriearbeiter, aber auch Tagelöhner und Dienstboten, denen es zum Teil noch schlechter ging.

 

Sprecher:

Während Bankpaläste emporwuchsen, wo das große Geld gehortet wurde, während der Staat Unsummen für gewaltige Repräsentationsbauten verschwendete, hausten diese 30 Prozent in armen und ärmsten Vierteln. Franz Herre schildert ihre Situation:

 

 

O-Ton, Franz Herre:

Aus Shepherds Bush, einem Vorort mit noch villenartigen Häusern, in denen Clerks, kleine Beamte, Handwerker und respektable Arbeiter wohnen, gerät ein Besucher vom Kontinent nach Notting Dale, wo die Not haust. Einer schildert es: 'Da sehen die paar Gassen aus, als wollte die Stadt hier zerfallen; so morsch, so kahl, so bröckelig stehen die schmutziggrauen Schachtelhäuschen da.' Die Straßen seien wie ausgestorben, 'nur an den Straßenecken wo die Wirtshäuser sind, die unvermeidlichen Pubs, dort regt sich, kriecht, tappt und torkelt einiges Leben. 'Drink is the shortest way out of Manchester', wird gesagt und damit gemeint,  daß man am schnellsten im Alkoholrausch dem für viele Engländer so schädlichen Manchester-Kapitalismus zu entgehen vermöchte.

Also viel Elend und zwar nicht nur materielles, sondern auch moralisches Elend.

 

Sprecherin:

Berlin verzeichnete am 1. Dezember 1900 knapp 1,9 Millionen Einwohner, davon 20.000 Soldaten. In den 30 Jahren seit der Reichsgründung hatte die Stadt ihre Einwohnerzahl mehr als verdoppelt. Für den Mittelstand waren neue Viertel entstanden in Charlottenburg, Wilmersdorf, Steglitz und Tempelhof. Industriearbeiterfamilien pferchte man in Mietskasernen, mit ihren trostlosen Hinterhäusern und düsteren Hinterhöfen, wie sie der Milieumaler Heinrich Zille in seinen Bildern festgehalten hat. Dort mußten sich Dutzende, manchmal Hunderte von Menschen eine Wasserzapfstelle und eine einzige Toilette teilen.

 

 

 

 

Sprecher:

Paul Löbe, der spätere Reichstagspräsident, schildert die erbärmlichen Wohnverhältnisse seiner Kindheit in einer deutschen Arbeiterfamilie um 1890:

 

Zitator:

'Wir wohnten in einer Stube mit einem fensterlosen Nebengelaß. Darin standen drei Betten, eins für den Vater, der früh um sechs als Facharbeiter in die Möbelfabrik ging, eins für die Mutter, die das kleinste Mädchen zu sich nahm, eins für uns drei Jungen, zwei lagen in der üblichen Richtung, in der Mitte der dritte umgekehrt. Als wir zu groß geworden waren, quartierte man uns auf den Hängeboden um."

 

Sprecherin:

Im Statistischen Jahrbuch der Stadt Berlin wird der Wochenlohn eines Arbeiters bzw. einer Arbeiterin zur Jahrhundertwende bei einer täglichen Arbeitszeit von neun bis elf Stunden mit 8 bis höchstens 24 Mark beziffert. 

 

Sprecher:

Was konnte man damit kaufen? Was gab es in den ärmeren Haushalten zu essen?

Der Sohn eines Heimarbeiters erinnert sich:

 

Zitator:

"Butter gab  es bei besonderen Anlässen, manchmal auch sonntags. In der Woche eine halbes Pfund Fleisch und für einen Sechser (das sind fünf Pfennig) Knochen. In diese kräftige Brühe kam dann Gemüse, vor allem aber Kartoffeln. Das halbe Pfund Fleisch gab es aber erst am anderen Tage mit einer Mostrich- oder Heringssoße."

 

Sprecherin:

Zwar gab es das unter Bismarck geknüpfte Sozialversicherungsnetz, womit Deutschland anderen Ländern voraus war,  aber - so bemerkt der Historiker Franz Herre, es ist zur Jahrhundertwende "so weitmaschig, daß nicht wenige hindurchfallen. In das Medusenantlitz der sozialen Frage blickt ein Armenarzt. Er behandelt Dirnen, die von Zuhältern schwer verletzt wurden, an Sommerdiarrhöe leidende Kinder, eine Folge verdorbener Milch und schlechter Luft in den überhitzten Mietkasernen, Lungenschwindsüchtige und Geschlechtskranke."

 

Sprecher:

Die soziale Frage war die drückendste Hypothek, die auf der Gesellschaft lastete und die man unbewältigt mit ins neue Jahrhundert schleppte. Auch politisch wollte man den Arbeitern keine staatsbürgerliche Verantwortung zugestehen. Ausgegrenzt aus der politischen Öffentlichkeit waren auch die Frauen, denen man nach wie vor das Wahlrecht verweigerte. Ihr Kampf um das suffragium - das staatsbürgerliche Stimmrecht - wurde ab der Jahrhundertwende heftiger, und im Gegenzug ihre Diffamierung als Suffragetten um so gemeiner. Eine dritte Ausgrenzung betrieb der Antisemitismus, der seit den achtziger Jahren in ganz Europa aufloderte. In Frankreich kam es zur Dreyfuß-Affäre, die über Jahre hinweg das gesamte Land in zwei Lager spaltete.

 

Sprecherin:

Alfred Dreyfuß, ein Offizier jüdischer Abstammung, war wegen vermeintlichen Geheimnisverrats an Deutschland 1894 von einem Militärgericht degradiert und zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Als Jahre später der tatsächliche Spion enttarnt wurde, kam es zum eigentlichen Skandal. Gegen besseres Wissen wurde weder der wirkliche Täter bestraft, noch Dreyfuß rehabilitiert.

 

Sprecher:

Voller Empörung übergab der Schriftsteller Emile Zola 1898 der Presse einen öffentlichen Brief, adressiert an den französischen Staatspräsidenten mit der Überschrift: J'accuse - Ich klage an. Zola warf dem Kriegsgericht vor, "das Recht vergewaltigt zu haben". Daraufhin wurde Zola selbst wegen Beleidigung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Er floh nach England. Ein Jahr später konnte er straffrei zurückkehren, aber erst 1906 wurde Dreyfuß öffentlich rehabilitiert.

Christina von Braun, Kulturwissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität reflektiert den Hintergrund des Antisemitismus: 

 

O-Ton, Christina von Braun:

Was an dem Fall, über Frankreich hinausgehend, sehr interessant ist, ist, daß jede Gemeinschaft, die nationalen Gemeinschaften im 19. Jahrhundert versucht haben sich zu definieren, indem sie den Fremdkörper definierten. Frankreich hatte eine relativ genaue Definition der Nationalgemeinschaft, die war allerdings durch die militärische Niederlage gegenüber Preußen in Frage gestellt worden.... Und diese Wir-Grenzen wurden immer wieder neu definiert, indem ein Fremdkörper definiert wurde, gegen den das kollektive Ich sich abzugrenzen hatte. Und in Frankreich fand dieser Prozeß eben durch den angeblichen Landesverrat oder die Anklage gegen den Offizier Dreyfuß statt. In Deutschland fand es ganz generell statt, durch die Definition des jüdischen Körpers, dieses Deutschland, das erheblich heterogener war, dieses Deutschland, das sich überhaupt erst 1871 zusammengeschlossen hatte, zu einem Reich, suchte nach einer Definition, deutsch zu sein. Und eine der gängigsten Definitionen für Deutschsein, war nicht-jüdisch zu sein, also Definition des Deutschen geschah durch Abgrenzung gegen das, was als Fremdkörper innerhalb des eigenen Kollektivkörpers betrachtet wurde.

 

Sprecherin:

Religiöse Feindbilder des Juden, wie sie der Antijudaismus über Jahrhunderte geliefert hatte, waren in ganz Europa verbreitet, nun aber kam seit den achtziger Jahren eine neue rassistische Ideologie hinzu, die vor allem in Deutschland und in Österreich-Ungarn fatalen Einfluß gewann. Um die Jahrhundertwende jedoch schienen die Juden, auch nach ihrem eigenen Urteil, in anderen Ländern stärker bedroht als im Deutschen Reich. Otto Dann:

 

O-Ton, Otto Dann:

Das deutsche Reich, also das Bismarck-Reich ist in dieser Hinsicht eigentlich noch kein Problemfall, weil diese antisemitischen Vereinigungen, die sehr zahlreich in den achtziger Jahren entstanden sind, um 1900 sich eigentlich schon wieder in einer Abwärtsbewegung befinden, Österreich ... und das zaristische Rußland wo es ja wirklich großflächige Pogrome gegeben hat seit 1880, das sind die wirklichen Problemländer, in Österreich hat ja nicht nur eine säkulare, sondern auch eine katholisch-soziale antisemitische Grundtendenz ... sozusagen zur politischen Grundausstattung gehört. So etwas, daß eine der großen Massenparteien antisemitisch auftritt, hat es eben im Deutschen Reich nicht gegeben, insofern kann man schon sagen, das ist der Boden, auf dem eben auch ein Adolf Hitler groß geworden ist, das ist ein wichtiges Kapitel der österreichischen Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg.

Sprecher:

Adolf Hitler, der von 1908 bis 1913 in Wien lebte, hat einen Antisemitismus in sich aufgesogen, der in verschiedenen Gestalten die Stadt beherrschte. Es gab den populistischen Antisemitismus eines Karl Lueger, Führer der christlich-sozialen Partei, der damit die kleinen Leute für sich zu mobilisieren wußte. Lueger packte die Wähler demagogisch bei ihrem Ressentiment gegen die sogenannten Großkopferten der Industrie, der Banken  und der Presse, von denen viele jüdischer Abstammung waren.

 

Sprecherin:

Vergeblich appellierte der Prager Kardinal Franz Graf Schönborn an Papst Leo XIII, er möge die vatikanische Unterstützung für die österreichischen Christlich-Sozialen und ihren Antisemitismus in seiner abstoßendsten Form einstellen. Leo XIII ließ vielmehr Lueger in einer Botschaft wissen, daß er im Papste einen warmen Freund besitze, der ihn segne.

 

Sprecher:

Offen rassistische Hetze betrieben in Wien Georg von Schönerer und seine deutschnationale Bewegung. Schönerer, der sich selbst als 'Führer' titulierte und von seiner Gefolgschaft mit 'Heil' begrüßen ließ, gab die Parole aus "Durch Reinheit zur Einheit". Sein völkischer Wahn zielte auf ein alldeutsches Reich. Die Ausgrenzung der Juden sollte der erste Schritt sein zum Sturz der K.u.k.-Monarchie  mit ihrer nationalen und kulturellen Vielfalt.

 

Sprecherin:

Wien schuf mit seinen Widersprüchen eine Brutstätte für den Antisemitismus, in dem sich populistische Hetze mit einer neuen pseudowissenschaftlichen Rassentheorie verband. Doch es gab in Österreich-Ungarn ebenso Beispiele für ein tolerantes Verhalten der nichtjüdischen Mehrheit gegenüber einer jüdischer Minderheit und für ein gelungenes Zusammenleben, etwa in Budapest. Christina von Braun

 

O-Ton, Christina von Braun:

Ich glaube die Hälfte, wenn nicht mehr, aller Ärzte und Rechtsanwälte in Budapest um die Jahrhundertwende waren Juden, und die Bevölkerung von Budapest lebte sehr gut mit diesem Zustand, wohingegen für die Bevölkerung in Wien ein Zuzug von jüdischen Einwanderern aus Rußland und Polen stattfand. Aber obwohl die jüdische Bevölkerung von Wien erheblich geringer war als die von Budapest, waren viel stärkere antisemitische Gefühle da. Und das gleiche gilt auch für andere Gegenden. In Sachsen zum Beispiel durften Juden sich überhaupt nicht niederlassen zu Ende des 19. Jahrhunderts, um 1880, und trotzdem waren gerade in Sachsen antisemitische Gefühle sehr verbreitet. Der erste große Kongreß der deutschen Antisemiten-Partei fand in Sachsen statt, wo es gar keine Juden gab. Also die Präsenz von Juden hat sehr wenig damit zu tun, was für Gefühle Juden in jeweiligen Gebieten auslösen, es hängt erheblich mehr davon ab, wie genau, wie  präzise, oder wie selbstsicher, die Selbstdefinition eines Kollektivs ist, ob sie dieses Feindbildes des Juden bedarf oder nicht.

 

Sprecher:

Es gibt einen Antisemitismus ohne Juden, wie es der polnische Historiker Adam Michnik für die Gegenwart seines Heimatlandes formuliert, wo kaum noch Juden leben. Feindbilder gedeihen auch ohne reale Deckung. Und es nicht die Stärke, sondern die Schwäche einer Gesellschaft, die solche Feindbilder weckt. Insofern spiegelt der erstarkende Antisemitismus die Ängste einer Gesellschaft im Umbruch.  Der Jude bildet einen Sündenbock für die Schwierigkeiten in einer komplexer werdenden, sich immer rascher wandelnden Welt.

 

Sprecherin:

Neben dem antikapitalistischen Motiv, das bis ins Mittelalter zurückreicht, wo die Juden in den Geldhandel hineinwuchsen, weil er den Christen verboten war, versammeln sich moderne Motive im Antisemitismus. So nimmt der Antisemitismus der Jahrhundertwende ein neues Ziel ins Visier: den Intellektuellen. Christina von Braun beleuchtet die Zusammenhänge:

 

O-Ton, Christina von Braun:

Es gab eine ganze Menge von Gründen, weshalb Juden innerhalb der deutschen und der österreichischen Gesellschaft der Moderne, in Berlin und in Wien eine solche Rolle spielten. Erst einmal gab es in den jüdischen Familien immer eine sehr hohe Valorisierung von Bildung, also Texte zu lesen, mit Texten umzugehen, gebildet zu sein, war viel höher bewertet als sogar im deutschen Bildungsbürgertum. Und das erklärt, warum auch ein großer Drang da war, als die Universitäten für Juden geöffnet wurden, sich auch Bildung anzueignen, und daß man dann in vielen Berufen, die intellektuelle Berufe waren, Juden wiederfindet, es hängt mit der langen Tradition von Schriftlichkeit in der jüdischen, auch in der säkular-jüdischen Gemeinschaft zusammen.

Ein anderer Grund ist natürlich, daß Juden als Ausgeschlossene sehr schnell in diesen Rollen hineingerieten, wo sie Kritiker der Gemeinschaft waren, da sie nicht dazugehören durften, warfen sie einen Blick von außen auf die Gesellschaft und entwickelten dadurch auch ein sehr kritisches Verhältnis zu der Gemeinschaft, und konnten auch den Finger auf die Wunden der Gemeinschaft legen und galten deshalb als Intellektuelle und Literaten - es waren beides Schimpfworte in Deutschland ... die benutzt wurden.

 

Sprecher:

Jüdische Intellektuelle und Künstler sahen sich einer doppelten Diffamierung ausgesetzt: Im Umkreis des antisemitischen Karl Lueger kursierte die verächtliche Wendung: "Literatur ist, was ein Jud' von einem ander'n abschreibt."

 

Sprecherin:

Dabei leisteten gerade viele Denker und Künstler jüdischer Herkunft einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen Erneuerung an der Jahrhundertwende und vor dem Ersten Weltkrieg. Wenn man auf Wien schaut: die Komponisten Gustav Mahler und Arnold Schönberg, die Psychoanalytiker Sigmund Freud und Alfred Adler, die Schriftsteller und Publizisten Karl Kraus und Theodor Herzl, der mit seinem Buch Der Judenstaat 1896 zur Gründung des Staates Israel aufrief.

 

Musik: Gustav Mahler, 6.Sinfonie, 1. Satz, Anfang

 

Sprecher:

Die Erneuerung der Kultur und der Eintritt in die Moderne waren verbunden mit dem Aufkommen neuer Medien:

1895 führen die Brüder Lumière die ersten Filme vor,

die Schellack-Platte kommt 1897 auf den Markt. 1900  gibt es in Deutschland Münzfernsprecher. 1901 die elektrische Schreibmaschine. 1902 das erste Fax.

 

Sprecherin:

Fotografie und Film, Schallplatte, Radio und Telefon hießen die neuen Medien der Kunst und Kommunikation, die das 20. Jahrhundert prägen und an seinem Ende in ein Medienzeitalter verwandelt haben. Um 1900 waren viele begeistert, manche aber auch verunsichert ob der veränderten Welterfahrung. Georg Christoph Tholen:

 

O-Ton, Georg Christoph Tholen:

Was die Irritation betrifft ... ist es schon so, daß die Telegraphie, das Radio und auch der Film sehr weitgehend mit Angst begrüßt worden, mit anderen Worten es gab schon eine Angst, die besagte, daß diese künstlichen Wahrnehmungsformen, die das Auge und das Ohr erweitern, doch die Natürlichkeit, die Lebensunmittelbarkeit verfälschen würden. Denken wir an die Einführung des Kinos, wo viele Schriftsteller sagten, jetzt ist das Ende des Theaters und der Literatur angekommen, gleichzeitig haben dieselben Autoren schon Drehbücher fürs Kino geschrieben.

Besonders in Deutschland gibt es zu dieser Zeit eine Kulturkritik, die natürlich romantische Motive wiederholt, aber auch verschiebt zugleich.

 

Sprecher:

Eine andere Kritik an der alten Gesellschaft und einen eigenen Weg ins neue Jahrhundert suchte die deutsche Jugendbewegung der Jahrhundertwende. 1901 wird im gutbürgerlichen Berliner Stadtteil Steglitz der Wandervogel, die berühmteste Vereinigung gegründet.  Aus grauer Städte Mauern ziehen wir ins weite Feld ... Das Lied verkündete die Devise: In der freien Natur hoffte man die eigene Freiheit und Unabhängigkeit zu finden, herauszukommen aus den starren Konventionen des Bürgertums ebenso wie aus der stickigen und hektischen Industriestadt.

 

Sprecherin:

Viele Mädchen und junge Frauen waren mit von der Partie. Statt des verhaßten Korsetts trugen sie legere Kleidung, weiße Blusen und flache Schuhe. So hatte die Jugendbewegung durchaus ihren Anteil an der beginnenden Emanzipationsbewegung der Frauen. Aber der romantische Zug der Jugendbewegung hat politisch eine äußerst bedenkliche Seite, wie die einst jugendbewegte Margarete Buber-Neumann rückblickend betont.

 

Zitator:

Wir waren jung und begriffen nicht, daß man begann, mit einer falsch verstandenen romantisierten altdeutschen Tradition Schindluder zu treiben. Es dauerte auch bei mir geraume Zeit, bis ich aus den Scheiten dieser Feuer noch einen anderen weniger würzig duftenden Rauch aufsteigen fühlte, den Qualm eines deutschtümelnden Mystizismus, der die im echten Sinne fördernde Zukunftswirkung der Jugendbewegung in der Wurzel zerstörte, der sie in mancher Hinsicht zur Vorläuferin einer späteren Bewegung werden ließ, die skrupellos ihr Vokabular und ihre verschwommenen Ideale übernahm, um die deutsche Jugend nicht etwa zu befreien, sondern zu vernichten.'

 

O-Ton, Georg Christoph Tholen:

Gerade unter heutigem Blick zeigt sich diese Jugendbewegung und all die Themen, die damit verbunden waren, in einem doch sehr skeptischen und kritischen Licht. Und zwar in der Tat ... ist die Zurück zur Natur-Parole, die Gemeinschaftsparole noch mehr, eine, die später - wie wir wissen - in der nationalsozialistischen Phase dann noch mit anderen Vorzeichen verbunden, mit Antisemitismus und Rassismus, ganz prekär wurde.

Aber bleiben wir ruhig bei diesem 'Zurück zur Natur' - diesem Diskurs, den man schon bei Rousseau findet und auch in der deutschen Romantik, gegen die Schornsteine und die Fabriken usw. Und durch heutige Rückwärtsanalyse zeigt sich, daß diese Idee einer absoluten Gemeinschaft, einer Gemeinschaft gegen die Kälte der Gesellschaft, gegen die Ökonomie, gegen die Künstlichkeit der Technik usw. doch ein sehr problematischer Aspekt in der Jugendbewegung war, die ... dann nicht identisch, aber doch zum Vorläufer einer problematischen Massenbewegung wurde.

 

Sprecher:

Insgesamt zeigte die Jahrhundertwende einen Januskopf:

Unübersehbar war ihre Polarisierung in Fortschrittsgläubige und Endzeitgestimmte, ein extremes Spannungsverhältnis, wie es heute zum Millenium nicht mehr gegeben ist. Aus den Spannungen sprach die Orientierungskrise einer Gesellschaft im Umbruch.

 

Sprecherin:

Sie begegnete den Verunsicherungen in der Hauptsache mit einem aggressiven Nationalismus - nach außen imperialistisch: die eigene Armee gegen die anderen Völker, nach innen mit diffamierenden Zerrbildern: Arbeiter, Frauen, Künstler und jüdische Mitbürger wurden als vaterlandslose Gesellen, Suffragetten, Zivilisationsliteraten und  minderwertige Rasse geschmäht.

Aber die Jahrhundertwende initiierte auch große Aufbruchsbewegungen, die bis heute nachwirken.

 

Sprecher:

Als fatal für die historische Entwicklung erwies sich jedoch, daß viele Unzufriedene, die in der Jugendbewegung oder später im Expressionismus gegen Macht, Geld und repressive Konvention aufbegehrten, gerade nicht der allgemeinen Drift in den Weltkrieg widerstanden. Viele haben ihn im Gegenteil sogar herbeigewünscht, weil sie der Verblendung anheimfielen, Mensch und Zeit würde ein reinigendes Gewitter erwarten, wo allein sich ein mörderisches Inferno anbahnte.